KAPITEL III
– Teil 1 ANDROMEDA
Das Baby
Man hatte ihr später so viel erzählt, dass ihre eigenen Erinnerungen –
falls man sich im Babyalter überhaupt an etwas erinnern kann – bestimmt mit vielen
diesen Erzählungen vermischt waren. Seltsamerweise sprach ausgerechnet Max
nicht gerne darüber. Aber alle anderen Leute, egal ob sie etwas wussten oder
nicht, hatten immer bereitwillig ihren Senf dazu gegeben.
Aber sie erinnerte sich, und sie war davon überzeugt, es waren ihre
echten Erinnerungen...
Sie erinnerte sich schemenhaft an das Spitze, unter das sie gekrochen
war und an das Weiße, das waren die fürchterlichen Zähne des großen Tieres, das
sie angegriffen hatte und das nur von ihr abließ, weil sie sich nicht mehr
bewegte und auch keinen Ton von sich gab.
Und sie konnte sich an das Laute erinnern, das fürchterlich knallte
und vor dem sie fürchterliche Angst hatte. Und sie erinnerte sich an die
grellen Lichter, die nach dem Lauten kamen. Immer abwechselnd geschah das, ein
grelles Licht, so dass sie vor Angst die Augen zukniff und kurz darauf ein
gewaltiges Krachen, gegen das sie nichts machen konnte, denn sie war nicht
fähig, sich ihre Ohren zuzuhalten. Sie war ja noch ein Baby, das zwar ein bisschen
laufen oder vielmehr stolpern konnte, aber dass man sich die Ohren zuhalten
konnte – was sind Ohren – davon wusste sie nichts. Irgendwann wurde das Laute
dann leiser, und das Grelle nicht mehr so grell, bis es schließlich ganz
aufhörte.
Aber dann kam das Nasse von oben und saugte sich in ihren Sachen fest,
und dann kam das Kalte, das sie zum Zittern brachte. Das Kalte und das Nasse
verdrängten ein wenig die Schmerzen in ihren Wunden, die von dem Tier
herrührten und von dem starren borstigen Unterholz, in das sie gekrochen war,
um instinktiv Schutz zu suchen. Sie hatte schließlich in einem Haufen Laub
Zuflucht gefunden, das Laub erinnerte sie wohl an die Decke, die sie zu Hause
in ihrem Babybett hatte, und sie grub sich instinktiv darin ein. Das hatte ihr
wohl erst einmal das Leben gerettet, aber sie war sehr schwach.
Es dauerte Ewigkeiten, das Kalte, das Nasse und die Schmerzen, bis sie
schließlich nur noch leise vor sich hinwimmerte. Und auf irgendetwas oder
irgendjemanden wartete, der sie von diesen Sachen erlösen würde.
Aber es kam niemand. Sie dämmerte langsam hinüber in das Vorland des
Todes.
Dann auf einmal gab es eine Änderung.
Jemand fasste sie an, und wieder hatte sie Angst, es wäre das große
Tier, das ihr schon einmal Schmerzen zugefügt hatte.
Aber es war nicht das große Tier.
Jemand streifte ihr die nassen Babysachen ab, auch ihre Windel, denn
sie hatte seit drei Tagen in ihren Exkrementen gelegen, und ihr Po war rot und
entzündet.
Jemand legte ihr etwas Trockenes und Warmes um und hob sie dann hoch.
Sie fühlte, wie ihr jemand etwas an den Mund hielt und sie saugte
daran. Diese Erinnerung war wirklich echt, denn Max hatte ihr einen
Schokoriegel an den Mund gehalten, weil er nichts anderes hatte, mit dem er sie
füttern konnte.
Der Geschmack des Schokoriegels würde Andromeda ihr Leben lang
begleiten, denn diese Erinnerung war wirklich real und nicht das Echo von den
Erzählungen anderer Leute.
Max brachte sie schließlich nach Hause.
Alles war warm und gut.
Sie erholte sich sehr schnell von den Strapazen dieser Tage und
Nächte.
Das einzige Trauma, das sie von dieser üblen Sache behielt, war eine
panische Angst vor Gewittern, bei denen sie es vorzog, sich irgendwo im Keller
zu verkriechen, um die gleißenden Blitze nicht sehen und den krachenden Donner
nicht hören zu müssen.
Das Kind
Ein Schlachtfest auf dem Gutshof ist immer ein spektakuläres Ereignis.
Vor allem für die Männer.
Viele Leute sind da, alle rennen geschäftig herum, und kein Mensch
kümmert sich um die sechsjährige Andromeda, die Tante Mansell ausgetrickst hat
und ihr weggelaufen ist.
Ein fettes quiekendes Schwein wird von zwei starken Männern auf den
Hof hinausgeführt, sie halten das Schwein mit zwei Stangen fest, der Kopf des
Schweins steckt in zwei Schlingen, und mit den Stangen kann man das Tier auf
Distanz halten.
Das Schwein wehrt sich und kreischt und quiekt mörderisch, aber das
hilft ihm nichts. Sie zerren es in den Hof hinaus.
Dort hat man einen flachen hölzernen Zuber aufgestellt. Er wird dazu
dienen, das Blut des Schweins aufzufangen. Nachdem sie es mit einem
Bolzenschuss getötet haben.
Früher hätte man dem Schwein einfach nur die Kehle aufgeschlitzt, um
das Blut besser zum Fließen zu bringen, und dann starb es nach einer Weile, nachdem
es immer noch gekreischt und geheult hatte, bis sein Leben in den hölzernen
Zuber geflossen war. Das Schwein scheint zu ahnen, was ihm bevorsteht. Es
kreischt womöglich noch lauter als vorher. Und das Kreischen reißt nicht ab.
Erst als der Schlachter das Bolzenschussgerät an die Stirn des
Schweins setzt und abdrückt, herrscht Ruhe. Andromeda gerät in Panik. Das
Kreischen des Schweins, die erwartungsvolle Unruhe unter den Männern – Frauen
sind fast keine da, sie scheuen das blutige Spektakel – der laute knallende
Schuss, das auf die Seite kippende Schwein, das sofort tot ist, ein Hinterbein
zuckt zwar noch, aber das sind postmortale Nervenreflexe. All das schafft eine
gewalttätige nach Blut riechende Kulisse, und sie hat Angst.
Ihren Daddy findet sie auch nicht. Der ist bestimmt da vorne bei dem
toten Schwein, Andromeda traut sich nicht dahin, denn der Tod riecht nach Blut
und nach Schrecken. Andromeda hält sich die Hände vors Gesicht, um das Schwein
nicht mehr sehen zu müssen. Sie hat es ja gekannt...
Aber schließlich schaut sie doch hin.
Das Schwein hängt mittlerweile ziemlich leer an der Wand und ist zur
Weiterverarbeitung bereit. Es wirkt nicht mehr wie ein Lebewesen – vor ein paar
Minuten war es noch quicklebendig, aber jetzt ist es nur noch ein Lebensmittel.
Andromeda schaut sich um, ob Max irgendwo ist. Er ist nicht mehr oft
da. Er muss viel lernen, dort wo er studiert. Er muss auch viel arbeiten, um
das Studieren bezahlen zu können, hat Daddy ihr erzählt. Und deswegen könnte er
nicht mehr so oft nach Kampodia kommen. Andromeda ist traurig, dass Max nicht
mehr so oft da ist wie früher.
Aber plötzlich sieht sie ihn unter den anderen Männern. Sofort läuft
sie zu ihm hin und schiebt vertrauensvoll ihre kleine Hand in seine große. Sie
geht ein paar Schritte mit ihm, blickt zu ihm auf und erkennt plötzlich, dass
sie sich vertan hat. Das ist gar nicht Max, sondern einer aus seiner
Verwandtschaft, der zwar einige Ähnlichkeit mit Max hat, aber bei näherem
Hingucken ganz anders aussieht.
Verlegen lässt Andromeda die Hand des Mannes los und rennt weg.
Die anderen Männer haben das kleine Zwischenspiel mitbekommen und
lachen gutmütig. „Bist wohl doch nicht Max!“ sagt einer von ihnen, ein großer
breiter mit slawischen Gesichtszügen.
Andromeda ist zornig über ihren Irrtum. Und noch mehr zornig ist sie
darüber, dass Max nicht zum Schlachtfest gekommen ist.
Dann fällt ihr ein, Max mag keine Schlachtfeste, das hat er ihr
jedenfalls mal erzählt.
Das
Mädchen
Andromeda sitzt auf dem einzigen gut erreichbaren Ast des kleinen
Lindenbaums und drückt ihre entzückende Nase an das Fenster des Häuschens.
Tatsächlich sind die schweren Vorhänge nicht ganz zugezogen, so dass man gut in
das Innere des Raumes schauen kann, der sich im ersten Stock befindet.
Andromeda sitzt dort in luftiger Höhe, um ein wenig zu spionieren.
Es ist spät am Abend. Andromeda hat sich heimlich aus dem Haus
geschlichen. Sie liebt es, am späten Abend unterwegs zu sein. Manchmal geht sie
in der Dämmerung noch in den Wald, genießt die schaurige Stille, die dort
herrscht, bekommt dann ein wenig Angst wegen der schaurigen Stille, die dort
herrscht und geht gemessenen Schrittes wieder nach Haus, ohne sich umzudrehen,
als ob sie damit die Schrecken des Waldes abwehren oder einfach nur ignorieren
kann.
Sie verspürt Sehnsüchte, die sie nicht benennen kann. Nicht genau
erklären kann. Sie denkt an ihre Schulkameraden und besonders an einen
bestimmten, den Stürmer des Fußballteams, der sich anscheinend für sie
interessiert. Eigentlich ist sie nicht der Typ für so einen. Sie liest viel,
interessiert sich nicht besonders für modische Dinge und gilt als Streberin,
Natürlich ist sie gar keine Streberin, sie will einfach nur viel wissen. Aber
weil sie hübsch ist mit ihrer blendenden Figur, ihrem langen braunen gelockten
Haar und ihren wunderschönen mandelförmigem grünen Augen, sieht man ihr diese
Verrücktheiten nach.
Ich will jedenfalls nicht heiraten, nur weil ich ein Kind kriege, das
denkt Andromeda manchmal, wenn sie irgendwie erregt den stillen Weg
entlanggeht. Hier auf dem Land werden schnell Kinder gezeugt, nicht nur aus
Lust. Die Einsamkeit, die Stille, die Dunkelheit in der Nacht, die nicht von
Straßenlaternen aufgehellt wird, das alles erzeugt Sehnsüchte, die befriedigt
werden müssen. Und so heiratet man eben, lebt ein paar Jahre mehr oder weniger
gut zusammen – und dann lässt man sich scheiden. Andromeda vergisst den
Gedanken an den Stürmer aus dem Fußballteam. Eigentlich ist er nur ein dummer,
wenn auch sehr gut aussehender Junge.
Denn jetzt späht sie ins Häuschen hinein. Sie ist wahnsinnig
neugierig. Vielleicht erfährt sie hier, was eigentlich so abläuft zwischen den
Geschlechtern. Natürlich weiß sie aus den Ställen, wie es zwischen den Tieren
abläuft, aber zwischen Menschen muss doch so eine Art Mysterium sein, es kann
doch auf keinen Fall so sein wie bei Tieren.
Das Licht im Zimmer ist dämmrig, aber man kann alles ganz gut
erkennen.
Allerdings sieht das, was sie sieht, nicht wie ein Mysterium aus.
Sie sieht einen Mann und eine Frau, die sich gegenseitig entkleiden und
sich dann küssen. Der Mann streichelt die Frau, die anscheinend aufstöhnt,
Andromeda kann es nicht hören, aber das Gesicht der Frau sieht so aus...
Die Frau lässt sich auf das breite Bett fallen, der Mann beugt sich
über sie und küsst langsam ihre Brüste und dann ihren Bauch.
Andromeda verspürt selber ein leichtes Ziehen in den Brüsten und
tiefer, aber sie ist so fasziniert von dem Akt, dass sie diese Gefühle
verdrängt.
Dann wendet der Mann sich noch etwas tiefer. Er scheint Zeit zu haben.
Die Frau allerdings bekommt auf einmal ein verzerrtes Gesicht und sagt
etwas zu ihm, nein sie keucht es. Andromeda meint von ihren Lippen lesen zu
können, wie sie keucht: Nicht nicht, komm’. Bitte. Bitte...
Der Mann richtet sich auf, er lächelt, er wendet sich zu einem kleinen
Tisch neben dem Bett und nimmt dort etwas, packt es aus und streift es sich
über sein Glied – Andy weiß, dass es ein Kondom ist – beugt sich dann über die
Frau und dringt langsam mit seinem Glied in sie ein.
Andromeda hat es sehen können. Natürlich ist es nicht so groß wie von
einem Hengst, aber... wenn sie sich vorstellt, das in sich zu haben, das wäre
... wieder verspürt Andromeda ein leichtes Ziehen im Unterleib, aber wieder
ignoriert sie es.
Die Frau blickt nun mit ziemlich blöden Augen vor sich hin, wie
Andromeda meint. Sie klammert sich an den Mann und hebt ihre Beine hoch und
schlingt sie um seinen Rücken. Dann auf einmal bäumt sie sich auf, und ihr
Körper zuckt ein paar Sekunden lang konvulsisch, das fällt Andromeda spontan
ein, obwohl sie gar nicht genau weiß, was das heißt, und sie will nicht
aufhören zu zucken. Konvulsisch...
Der Mann beobachtet sie aufmerksam bei diesen Zuckungen. Bei diesen
konvulsischen Zuckungen, und es scheint ihm zu gefallen.
Als sie ausgezuckt hat, entfernt er sich aus ihr, dreht sie um und
zieht sie so, dass sie vor ihm kniet und ihre Arme sie weiter vorne abstützen.
Er dringt diesmal von hinten in sie ein, seine Finger sind vorne an ihrer...
und die Frau kann sich auf einmal nicht mehr abstützen aus irgendwelchen
Gründen, und sie droht nach ein paar Stößen von ihm nach vorne zu fallen, aber
er hält sie fest und beschleunigt seine Stöße, bis auch sein Gesicht sich ein
wenig verändert, aber bei weitem nicht so extrem wie zuvor das Gesicht der
Frau.
Andromeda hat genug gesehen. Sie haben es von hinten getrieben, es
gibt kein Mysterium, Menschen sind genauso wie Tiere.
Und Andromeda kann die Frau nicht leiden. Warum, das weiß sie nicht,
denn es gibt eigentlich keinen Grund dafür.
Sie klettert gewandt den Baum wieder hinunter.
Leider stolpert sie beim Hinunterklettern über das Motorrad, das
irgendein Idiot vor dem Haus abgestellt hat und an das sie nicht mehr gedacht
hat.
Andromeda kann nirgendwohin, denn der Hof wird von zwei
Straßenlaternen gut beleuchtet, und wenn sie weglaufen würde, könnte man sie
vom Fenster aus sehen. Also meint sie, das Beste was sie machen kann, ist sich
jetzt ganz still und sozusagen unsichtbar zu verhalten Vielleicht entdeckt man
sie nicht. Aber leider klappt das nicht so ganz.
Nach ein paar Sekunden geht das Licht hinter der Haustür an, und der
Mann, den sie die ganze Zeit beobachtet hat, kommt heraus.
Er hat sich auf die Schnelle eine Jeans angezogen, sonst trägt er
nichts.
Zielsicher wendet er sich nach rechts zu dem Baum, hinter dem
Andromeda steht – scheinbar unsichtbar steht – packt sie am Kragen ihrer Bluse
und hebt sie ein bisschen hoch und schaut ihr forschend ins Gesicht.
„Was zum Teufel machst du hier? Was hast du gesehen?“ Seine Stimme
klingt besorgt.
„Nichts, was ich nicht schon bei Tieren gesehen hätte“, sagt Andromeda
trotzig. „Und ich wusste es! Es ist kein Mysterium...“
„Oh Gott!“ sagt Max. „Doch, es
ist ein Mysterium. Mit der richtigen Frau. Vielleicht...“ Letzteres murmelt er
nur vor sich hin.
„Ist sie deine Freundin?“ fragt Andromeda freundlich.
„Nnnein, jaaa, ach was weiß ich!“ Max ist immer noch verwirrt. Der
Gedanke, dass Andromeda ihn eben beim Liebesspiel beobachtet hat, macht ihn
ziemlich verlegen. Demnächst wird er es nicht mehr im Häuschen treiben.
Andromeda soll auf keinen Fall etwas mitbekommen von dem angeblichen Mysterium
zwischen Mann und Frau. Sie hat Recht, es ist kein Mysterium, nicht für ihn, es
ist nur die nackte Lust, die ihn ab und zu dazu treibt, eine Frau ins
Verwalterhaus zu holen. Er hat keine Probleme, eine Frau zu finden. Er hat eher
Probleme, sie wieder loszuwerden, wenn das Vergnügen schal geworden ist und die
Zuneigung – von Liebe ganz zu schweigen – sich nicht einstellen will.
Seine längste Beziehung mit einer Frau hielt drei Monate lang. Und
beim Abschied sagte sie: „Du empfindest nichts für mich. Kannst du überhaupt
etwas empfinden?“
Aber er konnte nichts daran ändern. Er konnte seine Gefühle eben nicht
steuern. Obwohl er es bereut hatte, sie gehen zu lassen. Sie hätte eigentlich
seine Idealfrau sein müssen. Sie studierte das gleiche Fach wie er, und das war
schon ungewöhnlich, denn es gab praktisch keine Frauen unter den studierten
oder nicht studierten Landwirten. Sie war intelligent und schön, und im Bett
lief es auch gut. Warum also hatte es nicht mit ihr geklappt? Und trotz seines
Bedauerns fühlte er sich erleichtert, als sie weg war.
Max hatte irgendwann aufgehört, sich über das Scheitern seiner
Beziehungen Gedanken zu machen. Natürlich wusste er, woran es lag. Aber es war
eben so, und er konnte es nicht ändern, auch wenn er es gewollt hätte.
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KAPITEL
III – Teil 2 DÄMONEN und REITEN
Rebekka hatte ziemlichen Bammel vor ihrer ersten Reitstunde, und sie
war froh, dass Archibald und Daniel auf dieser Bierprobe waren und nicht sehen
konnten, wie sie vom Pferd fiel... Claudia Mansell, die Schwester von Archie
wollte auf Morgaine achten. Claudia war noch sehr lebendig für ihr Alter, vor
allem geistig. Gebe Gott, dass ich mit fünfzig auch noch so gut drauf bin,
dachte Rebekka. Sie hatte einen sehr guten Draht zu der älteren Frau, und das
geschah selten. Normalerweise vertrug sie sich besser mit jüngeren Frauen, bei
denen sie ein bisschen die Mutterrolle spielte - hoffentlich besser spielte als
ihre eigene Mutter sie gespielt hatte...
Auch Morgaine mochte Mansell. „Tante Claudi liest mir vor“, hatte sie
gestern Abend beim Essen erzählt. Das Essen war ja so fantastisch, und was für
einen Appetit man hier hatte! Nur ob das mit dem Nichtzunehmen klappen würde?
Sie riss ihre Gedanken von dem leckeren Essen los, denn jetzt war Reitenlernen
angesagt.
„Es ist alles halb so wild“, damit hatte Andy sie am Morgen beruhigt.
„Mehr als runterfallen kannst du nicht. Aber ich glaube, du bist ein
Naturtalent.“
„Ist Daniel auch ein Naturtalent?“
„Daniel ist es angeboren“ Andy hatte bei diesen Worten verlegen
gewirkt. Und Rebekka war feinfühlig genug, es zu kapieren. Die Kleine war in
Daniel verschossen, wenn nicht gar richtig verliebt. Und schlimmstenfalls
liebte sie ihn wirklich. Sie war zwar sehr jung für die große Liebe, aber es
konnte vorkommen. Was aber war mit Daniel? Rebekka hatte nichts Auffälliges an
ihm bemerkt, er schien die Kleine – Kleine war gut, sie war etwas größer als
Rebekka – zu mögen, manchmal hatte er allerdings diesen Blick, als ob er etwas
in Andromeda suchen würde. Allerdings sah er sie nicht direkt dabei an, sondern
immer haarscharf daneben. Sie erinnert ihn an mich. Es ist wie bei Max, nur
umgekehrt… Diese Eingebung kam Rebekka urplötzlich. Auf einmal fühlte sie sich
seltsam unsicher, und das hatte nichts mit der Reitstunde zu tun.
Sie schüttelte unwillig den Kopf, schob den Gedanken beiseite und
öffnete entschlossen und zu allem bereit die Tür zu den Stallungen.
Woraufhin ein weißer gehörnter Dämon auf sie zustürmte, sie mit
wütenden Augen anfunkelte und Anstalten machte, sie niederzutrampeln und danach
aufzuspießen.
Der weiße gehörnte Dämon mit den wütenden Augen entpuppte sich beim
Näherstürmen als ein Ziegenbock, aber das machte ihn auch nicht sympathischer.
Rebekka sprang flink zur Seite, um dem Angriff zu entgehen, und der
Bock rannte geradeaus ins Leere. Allerdings gelangte er durch die geöffnete Tür
nach draußen, tobte dort herum und stürmte auf die Hühner zu, die laut gackernd
vor ihm aufflogen. Es herrschte ein ziemliches Chaos im Hof.
„Was zum Geier war das?“ fragte Rebekka Andromeda, die ihr eilig
entgegenkam.
„Er ist mir ausgerissen, dieser elende Kalybos.“ Es war Andromeda
peinlich, das konnte man an ihrem verzweifeltem Gesichtsausdruck sehen. „Ich
dachte, er schläft, und dann ist er an mir vorbeigaloppiert.“
„Dann war das eben also Bockalarm“, Rebekka musste lachen. „Im
Gegenteil zum Zickenalarm...“
„Dieses weiße Miststück hält sich für den Herrscher der Welt. Und er
hätte dir bestimmt nichts getan, er liebt Frauen. Er mag nur keine Männer.“
„Der hat Geschmack, dieser geile Bock!“ Rebekka konnte sich gar nicht
beruhigen.
„Er versteht sich auch nicht mit Alfonso. Alfonso ist ja schließlich
auch so ’ne Art Mann“, sagte Andromeda, „wenn auch nur ein kleiner...“
„Oh ja Männer! Dieser weiße Blitz, dieser Kalliboss, der hält uns
bestimmt für seinen Harem...“
Kalybos hatte seinen Namen gehört, er trottete elegant wieder in den
Stall hinein, positionierte sich vor Rebekka und stupste mit seiner langen
Ziegenschnauze in ihren Bauch.
„Was für ein Ferkel“, sagte Rebekka und schob Kalybos ein wenig von
sich weg. Irgendwie erinnerten sie dessen Augen ein wenig an Daniels Augen, die
waren auch so tierhaft braun und schauten auch wie verzaubert drein...
„Muss ich etwa eifersüchtig sein?“ Andromeda grinste.
„Nein, um Himmels Willen nein, diesen Verehrer kannst du ruhig
behalten!“ Hilfe, was sagte sie denn da? Vielleicht hörten sie sich ihre Worte
an wie: DIESEN Verehrer kannst du ruhig behalten, aber den anderen solltest du
nicht weiter ernst nehmen. Mist, wieso musste sie immer an Daniel denken...
„Ist was passiert?“ Die besorgte männliche Stimme gehörte Max, dem
Verwalter des Gutes, er war gerade von der Brauerei zurückgekommen, wo er die
Bierprobanden abgeliefert hatte.
„Alles okay, Max“, Andromeda wandte sich lächelnd dem gut aussehenden
dunkelhaarigen Mann zu, dessen Blick einzig und allein auf sie gerichtet war.
Schließlich jedoch bemerkte er auch Rebekka. „Hallo Becky, du willst
also das Reiten lernen?“
„Sieht fast so aus...“ Er ist in Andy verliebt, sagte sich Rebekka
überrascht. Es konnte nicht anders sein. Wenn Männer eine Frau überhaupt nicht
beachteten, konnte das bedeuten, dass sie in diese Frau verknallt waren – aber
in diesem Fall erschien ihr das unwahrscheinlich. Seltsam, dass ein Mann
überhaupt nicht auf sie reagierte. Auch wenn sie sich noch so unsichtbar
machte, kam es dann und wann vor. War sie alt geworden? 29 Jahre sind kein
Pappenstiel neunundzwanzig Jahren , er war in Andromeda verknallt! Wirklich
seltsam, ein Mann an die dreißig und in die Stieftochter seiner Cousine
verliebt – er war der Cousin von Andys Stiefmutter Zirza, das hatte Andy ihr
erzählt. Und er hatte Andy im Wald gefunden damals... War Max nicht ein
bisschen alt für Andromeda? Andererseits würden sie ein schönes Paar abgeben.
Aber von wegen Paar, Andromeda machte nicht den Eindruck, als sähe sie etwas
Besonderes in ihrem Onkel zweiten oder dritten Grades Max. Rebekka verbiss sich
das Lachen, denn das hörte sich fast an wie ‚Gustav der soundsovielte Karl’,
und außerdem ging es sie gar nix an.
„Wenn Max Kalybos einsperrt, dann können wir vielleicht mit der
Reitstunde anfangen.“ Andromeda zwinkerte Rebekka zu, die feststellte, dass
Andromeda es zwar gewohnt war, dass Onkel Max alles für sie tun würde, sich
aber keinerlei Gedanken darüber machte, WARUM Onkel Max das alles für sie tat.
Aber auch das hatte Rebekka nicht zu interessieren. Sie wollte das
Reiten lernen und zwar so schnell wie möglich.
Andromeda führte sie in eine Pferdebox, in der ein nicht sehr großes
Pferd stand. Von weitem gesehen jedenfalls.
„Das ist dein Pferd“, sagte Andromeda aufmunternd zu Rebekka.
„Es sieht ein bisschen klein aus“, meinte Rebekka.
„Wir gehen jetzt erst mal ganz vorsichtig in die Box. Sag irgendwas zu
ihm, damit er sich nicht erschreckt. Er heißt Pronny. Und normalerweise geht
man immer von der linken Seite an die Pferde heran, das sind sie gewohnt.“
„Hallo Pronny“, sagte Rebekka zaghaft, woraufhin Pronny seinen Kopf
nach hinten drehte und abcheckte, wer da wohl seine Ruhe stören würde.
„Du darfst nie ohne Vorwarnung von hinten einem Pferd zu nahe kommen“
Rebekka hörte Andromedas Ermahnung, und sie trat unwillkürlich einen Schritt
zur Seite, von Pronny weg und an den Rand der Box.
„Und auch keine heftigen Bewegungen machen. Pferde sind Fluchttiere.
Sie erschrecken sich leicht.“
Rebekka verlangsamte ihre Bewegungen und ihren Herzschlag, um ja nicht
dieses kleine Wesen, äääh Pferdchen zu erschrecken, das ihr Gewicht
wahrscheinlich gar nicht tragen konnte.
„Geh ganz langsam an ihn heran. Von der Seite, so dass er dich sieht.
Und dann sprich mit ihm.“
Rebekka näherte sich dem Pferdchen – das jetzt auf einmal gar nicht
mehr so klein aussah – vorsichtig von der Seite, damit das Pferdchen sie voll
sehen konnte und stammelte die Worte: „Hallo, Pronny, du bist ja echt ein
Süßer.“
Pronny wandte ihr rehbraune, nein pferdebraune Augen zu und stupste
sie leicht mit seinem Kopf an, woraufhin Rebekka sich auf einmal am Rand der
Pferdebox wieder fand.
„Er ist ein Lieber“, sagte Andromeda.
„Findest du?“ sagte Rebekka zweifelnd.
„Er ist wirklich lieb, und er bläht sich nicht auf wie andere Pferde.“
„Bläht sich nicht auf?“, fragte Rebekka, der nun schwante, dass das
Reitenlernen vielleicht doch nicht so einfach werden würde.
„Wenn man sie sattelt, holen die meisten Pferde noch einmal richtig
tief Luft und haben dann einen dicken Bauch“, erklärte Andromeda, „aber das
hält nicht lange vor... Irgendwann wird der Bauch wieder dünner, der Sattel
lockert sich, und der Reiter hängt mit seinem Kopf nach unten zwischen den
Beinen des Pferdes...“
„Das stelle ich mir sehr lustig vor...“ Rebekka musste lachen.
„Klar. Wenn Daniel das sehen würde, fände er es bestimmt auch sehr
lustig“, wandte Andromeda ein. Sie wusste schon, wie man Rebekkas Ehrgeiz
kitzeln konnte, denn zwischen Rebekka und Daniel war irgendetwas. Unzweifelhaft
war da etwas. Rebekka sagte nichts darauf, sondern starrte nur nachdenklich auf
den Bauch des Pferdchens.
„Zieh’ also den Sattelgurt nach! Sicher ist sicher!“
Rebekka machte sich zaghaft daran, den Bauch des auf einmal gar nicht
mehr so kleinen Pferdchens mit dem Sattelgut abzuschnüren, bis es wahrscheinlich
an Luftmangel krepieren würde. Aber anscheinend machte der engere Sattelgurt
Pronny absolut nichts aus.
„Die Trense habe ich schon angelegt“, sagte Andromeda. „ Nimm jetzt
die beiden losen Enden“, sie deutete auf die Lederbänder, „und dirigiere ihn
vorsichtig nach hinten aus der Box. Und sprich mit ihm.“
„Äääch, du süßer kleiner Pronny, du wirst doch nicht deinen „Äääch, du
süßer kleiner Pronny, du wirst doch nicht deinen Bauch aufblähen“, stammelte
Rebekka, während sie vorsichtig versuchte, Pronny zum Zurückgehen zu bewegen.
Pronny war aber wirklich ein liebes Tier und ging einfach rückwärts
mit.
„Lieb, lieb“, flüsterte Rebekka. „So jetzt um die Kurve, rückwärts
natürlich, und schon stehen wir startbereit.“
„Du bist gut“, sagte Andromeda.
„Du willst mich wohl veräppeln. Ich mach’ mir fast in die Hose“, sagte
Rebekka. Mittlerweile waren sie in der Reithalle angelangt.
„Stehenbleiben“, sagte Andy leise.
Alle drei standen still. Vor allem Rebekka, denn sie fühlte, jetzt
würde es ernst werden.
„Kommst du alleine hinauf?“
fragte Andy.
„Ich weiß nicht. Wie macht man’s denn?“
„Setz’ deinen linken Fuß in den Steigbügel.“
Rebekka tat, wie geheißen.
„Jetzt schwing’ dein rechtes Bein über den Pferdehintern. Ja, du musst
wirklich ein bisschen Schwung haben, sonst kriegst du deine Kiste nicht hoch.“
Andromeda lachte.
Rebekka kriegte zu ihrem eigenen Erstaunen ihre Kiste hoch, und sie
fand sich auf einmal sitzend auf einem Pferd wieder. Das war wirklich irre.
„Findest du den rechten Steigbügel?“ fragte Andromeda.
„Hab’ ihn“, sagte Rebekka. Das war wirklich nicht schwer. Sie saß auf
einem Pferd. Und hatte beide Füße in den Steigbügeln... Und es war verdammt
hoch. Rebekka hatte das Gefühl, im zweiten Stock eines Hauses im Freien zu
sitzen. Obwohl sie doch nur auf einem Winzling von Pferd saß.
„Pronny ist ein so genanntes Doppelpony“, erklärte Andromeda.
„Dann ist es doppelt so groß wie ein Pony?“ fragte Rebekka zaghaft.
Sie meinte, dass ein einfaches Ponypony vollkommen ausgereicht hätte für ihre
erste Reitstunde.
„Jetzt nimm die Zügel in die Hände“, sagte Andromeda, die angefangen
hatte, das Pferd am Halfter zu führen, so dass es langsam vorwärts ging. „Es
ist natürlich größer als ein Pony, aber nicht doppelt so groß. Ein Pferd ist
natürlich viel größer, da hat man manchmal das Gefühl, auf einem dicken Fass zu
sitzen.“
„Auweia!“
„Versuch' jetzt, abwechselnd deine Beine auf seine Flanken einwirken
zu lassen. Du musst seinen Rhythmus finden. Lass deine Beine einfach mal locker
baumeln, dann wirst du merken, dass sie immer abwechselnd auf seine Flanken
drücken. Diesen Druck musst du ein bisschen verstärken. Dann läuft Pronny
weiter.“
Rebekka versuchte es und war erstaunt, wie leicht es ging.
Bis sie dann einen gehörigen Schreck bekam, als sie merkte, dass
Andromeda Pronny nicht mehr führte, sondern dass sie ganz allein mit dem
Doppelpony daherschritt oder ritt oder sonstwas...
„Einfach gesagt ist es wie Autofahren. Allerdings mit einem
durchgeknallten sensiblen Auto, wo die Bremse manchmal nicht funktioniert und
die Gänge kaputt sind...“ Andromeda hatte einigermaßen Ahnung von Autos – wenn
auch nicht so viel wie von Pferden – denn Max besaß einen Lister-Jaguar aus den
60er Jahren, an dem er an den Wochenenden herumschraubte, und Andromeda durfte
ihm manchmal gewisse Werkzeuge anreichen....
„Und wie lege ich jetzt den zweiten Gang ein?“ fragte Rebekka, mutiger
geworden durch die bisher recht problemlose Reiterei.
„Der... äääh zweite Gang“, sagte Andromeda warnend, „ist der
schwierigste. Hör’ erst mal zu. Hast du die Zügel in der Hand?“
Rebekka bejahte das.
„Nicht dran reißen. Nicht durchhängen lassen, aber auch nicht zu hart
anziehen. Dein Hintern muss ihn jetzt vorwärts treiben.“
„Mein Hintern? Wie denn das?“
„Du musst ihn vorwärts treiben, und das geht nur durch dein
Eigengewicht und nur durch deinen Hintern.“
„Ooh, ich merke wie er schneller wird“, sagte Rebekka, und das war
nicht gelogen, man konnte sein Gewicht in die Waagschale legen, und das
Doppelpony wurde dadurch tatsächlich schneller.
„Man nennt das Heranreiten“, sagte Andromeda. „Man muss da sehr
behutsam vorgehen. Die meisten Männer können es nicht. Haben eine zu harte
Hand.“
„Aber Daniel kann es?“ Das rutschte Rebekka so heraus.
„Daniel kann es, er hat eine gute Hand“, bestätigte Andromeda und
wurde ein wenig rot, aber da sie hinter Rebekka und Pronny herging, sah es ja
niemand.
Eine gute Hand, Rebekka musste in sich hineinkichern, ja die hatte er
wohl...
„Weiter: Wenn du jetzt gleichzeitig mit beiden Beinen auf seine
Flanken klopfst, dann wird er in einen Trab fallen“, sagte Andromeda
verheißungsvoll. „Aber pass’ auf, du musst dich schon mit den Oberschenkeln
fest an ihn pressen, sonst fällst du runter. Trab ist nämlich ziemlich
rappelig.“
Rebekka versuchte es trotzdem. Nachdem ihre Schenkel Pronny fest
umschlossen hatten, versuchte sie ein zaghaftes gleichzeitiges Klopfen mit den
Unterschenkeln, und siehe da, Pronny fiel kurzfristig in einen rappeligen Trab,
der Rebekka ziemlich durchschüttelte.
„Kommst du klar?“ Andromedas Stimme drang durch Rebekkas Konzentration
hindurch. „Wenn du weitertraben willst, musst du ihn immer wieder dazu
antreiben. Nicht zu feste. Und denke an die Trense. Nicht zu straff. Nicht zu
locker. Und denk’ an deinen Hintern. Und ja nicht runterfallen!“
„Hey, das ist einfach zu viel, um an alles zu denken.“ Rebekka hörte
auf, das Doppelpony mit ihrem Hintern vorwärts zutreiben, denn es war ein
mörderisches Getrappel, man wurde so durchgerüttelt, dass einem das Kreuz
wehtat. Sie hörte auch mit ihren anderen Bemühungen auf, und das Doppelpony
fiel wieder in den Schritt.
„In der nächsten Stunde lernen wir das Leichttraben“, erklärte
Andromeda. „Das ist viel angenehmer als das normale Traben.
„Soso.“ Rebekka war ein wenig skeptisch. Es gab so viel zum Lernen, erschreckend
viel zum Lernen...
„Galoppieren ist übrigens einfacher“, meinte Andromeda ermutigend.
„Ein Bein lässt du in der Mitte, das andere Bein liegt mehr hinten an... Und
mit dem klopfst du am Hintern des Pferdes an. Und man kann damit bestimmen, je
nachdem mit welchem Bein man hinten anklopft, ob es in den Links- oder in
den...“
An dieser Stelle schaltete Rebekka geistig ab und dachte vage an einen
Postmann, der zweimal klingelte, aber leider vergebens. Und außerdem war sie
bestimmt schon zu alt, um das alles lernen zu können. Aber versuchen würde sie
es auf jeden Fall.
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KAPITEL
III – Teil 3 BIERPROBE und GESCHICHTE
„Woher stammen die ‚von Kampes’
denn nun eigentlich?“ Daniel schien sich wirklich für die Herkunft dieser
Familie zu interessieren. Vielleicht wollte er sich damit aber nur ablenken,
denn Rebekka und Morgaine beschäftigten nach wie vor seine Gedanken. Der Traum
wurde nämlich immer klarer. Er konnte Morgaine mittlerweile deutlich erkennen,
obwohl sie soviel älter war.
Archibald und Daniel waren vor
zwei Stunden im Keller der Kampeschen Brauerei angekommen und hatten schon
mehrere Biersorten zum Aufwärmen angetestet. Max hatte die Gruppe von vier
Männern (die zur Vervollständigung aus Sammy und Georg bestand) mit dem
Landrover zur Brauerei gefahren und war dann mit leichten Anzeichen des
Bedauerns zum Gut zurückgefahren. Er wollte sie am frühen Abend wieder abholen
und hoffte, dass sie ihm dann nicht den Wagen voll kotzen würden. Tja, diese
Bierproben hatten es in sich...
Auf dem langen Tisch, an dem sie
saßen, war ein kaltes Büffet aufgebaut, und zwar nur aus einen Grund, nämlich
um den Bierprobanten Durst zu verschaffen und den Geschmack für ein anderes
neues Bier freizumachen. Also gab es Kaviar, salzig dänische Fischhäppchen,
gekochte Eier, die unvermeidliche hausgemachte Mettwurst, rohen getrockneten
Schinken... und lange Baguettestangen für Leute, die das salzige Zeug nicht pur
essen wollten.
Und es gab viele viele
verschiedene Flaschen Bier aus allen möglichen Ländern, und es gab auch viele
viele Bierfässchen aus allen möglichen Ländern, aus denen frisch gezapft wurde.
Es ist perfekt, dachte Daniel.
„Wie wär’s jetzt mit einem
leichten Ale?“ schlug Archibald vor.
„Aber sicher doch!“
Archibald fing langsam und
gemütlich an, Daniels Frage nach der Herkunft der von Kampes zu beantworten.
„Also, zuerst waren wir Franzosen,
oder besser gesagt französische Protestanten, auch Hugenotten genannt. Durch
das Edikt von Nantes gab man uns Religionsfreiheit“, Archibald schnaubte
verächtlich, „um sie uns später durch das Edikt von Fontainebleau unter Ludwig
dem Viertelvorzwölften wieder wegzunehmen. Prost Daniel!“ Archibald hob sein
Glas, um Daniel zuzuprosten. „Man wollte uns zu Katholiken machen, uns also zur
wahren Religion bekehren... Es war der Sonnenkönig mit seiner dämlichen
Mätresse, der Marquise de Maintenon. Die beiden haben uns das eingebrockt! Und
diese Dame hat er dann später heimlich geheiratet und seitdem...“ Archibald
bekam einen leichten Schluckauf, er musste seine Ausführungen für einen Moment
unterbrechen, und als er wieder anfing zu sprechen, da hatte er das Thema
verloren, aber ein anderes dafür gefunden: „Rebekka interessiert sich sehr für
die französische Geschichte...“
„Du bist wohl viel mit ihr
zusammen?“ Daniel konnte sich diese Frage nicht verkneifen.
„Nicht genug, Daniel, nicht genug.
Übrigens hat sie angefangen, Stendhal zu lesen...“
„Den Schwätzer? Du hast ihr doch
hoffentlich abgeraten!“
„Hab’ ich, hab’ ich, aber sie hört
ja nicht auf mich“, sagte Archie bedauernd. „Und wie schmeckt dir das Ale?“
„Nicht schlecht“, sagte Daniel
zustimmend, während er darüber nachgrübelte, warum Rebekka nicht IHN fragte, ob
ein Buch gut oder schlecht zu lesen wäre. Damals hatten sie doch auch Bücher
getauscht, und von Stanislaw Lem war sie begeistert gewesen. Zu dieser Zeit
lebte sie noch mit dem Arschloch Michael zusammen, und sie erweckte immer den
Eindruck, als wüsste sie gar nicht, wie attraktiv sie war... Daniel riss sich
heftig zusammen, erinnerte sich an die ungeklärte Marquise und fragte: „Was war
denn jetzt mit der Marquise?“
„Mit was? Wir haben doch
Sonnenschutz genug auf der Terrasse. Und du kannst dich doch einfach in den
Schatten setzen...“
„Nein, nicht DIE Marquise. Die Maintenon,
die der ääääh... Ludwig geheiratet hat angeblich.“
„Ach die...“ Archibald machte eine
wegwerfende Handbewegung. „Die war so fromm, mein Gott, war die fromm!“
„Fromme Frauen sind nichts für
mich“, murmelte Daniel laut vor sich hin. Er dachte an seine erste feste
Freundin, an Susanne, das bezaubernde, überaus hübsche kleine Mädchen.
Allerdings war das Bezaubernde bald vorbei. Sie war nie zufrieden, wollte immer
bei ihm sein und fing an, ihn zu verdächtigen, obwohl er ihr keinen Anlass gab.
Es gab heftige Eifersuchtsszenen, die meistens damit endeten, dass sie zu ihrer
Mutter fuhr, dort ein paar Tage blieb, bis Daniel es nicht mehr aushielt und
sie dort abholte, zerknirscht und schuldbewusst, obwohl er doch gar nichts
getan hatte. Und die Mutter war im Gegenzug so oft da, dass Daniel sich sehr
seltsam vorkam, beobachtet, taxiert - und natürlich abgewertet. Er war
natürlich viel zu schlecht für Susanne, die hatte was Besseres verdient, und
zwar mindestens einen Studierten mit einem tollen Posten... Daniel war zwar
auch ein Studierter, aber damals hatte er noch nicht die rechte Lust gehabt,
als Ingenieur zu arbeiten. Stattdessen führte er eine Kneipe, nämlich das
Eye-Q. Es war ein Erfolg, natürlich nicht so einträglich wie das E-body, in dem
sein schweigsamer Freund Max arbeitete, aber es lief ganz gut...
„Für mich aunich“, jetzt konnte
man Archie anmerken, dass er auch schon ziemlich einen in der Krone hatte.
„Zirza zum Beispiel, die iss überhaupt nich fromm, die hat Sachen drauf...“
Archie verstummte und guckte irgendwie lüstern in seine Bierflasche, wobei er
aussah wie ein vorwitziger Kater, der in das Loch eines Starenkastens guckt,
mit nur einem Auge wohlgemerkt.
„Fromme Frauen!!! Nein danke.“
Daniel schüttelte sich leicht.
„Diese fromme Frau hat den guten
König woll ennlos bequatscht, das Edikt von Nantes aufzuheben. Plärrte ihm
wahrscheinlich vor, dass sein Seelen... wie heiß das, ach ja Seelenheil in
Gefahr wäre und diesen ganzen anderen relli... relligi...“ hier musste Archie
zweimal Anlauf nehmen, bevor er das Wort herausbekam, „relligiliösen Quatsch…“
Seine Stimme nahm einen leicht spöttischen Ton an, leicht gefärbt von einem
Bierrülpser, und er schloss seine Ausführungen mit dem Satz: „Is Relligiliön
nicht schön?“
„Is Liebe nich schön?“ Daniel
nickte zustimmend. Tja, das mit der Liebe hatte sich dann irgendwann erledigt.
Spätestens zu dem Zeitpunkt, als er Susanne nicht mehr nachfuhr...
„Relligiliön oder Liebe! Is doch
alles gleich. Daniel, jetzt probieren wir ein leichtes Guinness! Assolut ohne
Schaum...“
Das letzte Pils hatte Daniels
Geschmacksnerven und auch seine Gehirnwindungen ziemlich angegriffen, er nahm
sich ein Stückchen Weißbrot und etwas fischig Salziges, um das zu
neutralisieren. Die Gehirnwindungen ließen sich allerdings nicht dadurch
überlisten. Wie durch einen Nebel hörte er Archie erzählen, das die du Campes,
so hießen sie früher, die alte Heimat Frankreich verlassen mussten. Sie hatten
sich anscheinend gut auf den Tag X vorbereitet, hatten ihre Güter schlauerweise
vorher verhökert und traten deswegen die lange Reise gen Westen nicht gerade
arm an.
„Der Herssog dieses Landes wies
uns eine Gegend zu, die vielleicht noch kagger war als der Durchschnn...“
Archie ließ das Wort aus. „Wir ließen uns hier nidder, bauden einen Landsitz,
blaahblaah, einen großen Stall und gam der Dorfbevölkerung Arbeit und Brot. Und
ein paar Kinners gaben wir ihr auch...“ Er musste lachen, nahm sich ein
Stückchen Weißbrot und belegte es mit Kaviar. „Nimm Kaviar, Daniel. Sons is
Schmack weg!“
„Ja mach’ ich, Archie, alter
Junge!“ Auch Daniel musste lachen, es war ja alles so lustig und auch so
traurig.
Als Susanne sich vom Acker gemacht
hatte, traf er sich ab und zu mit ihrer Freundin Marissa. Die arme tapfere
Marissa! Sie war so verständnisvoll, und sie sah wirklich nicht übel aus. Er
fing an, sie zum Essen einzuladen, und das einzige Gesprächsthema, das sie
zuerst hatten, drehte sich um Susanne.
Warum ist sie weg, fragte er
Marissa. Marissa zog verzweifelt die Schultern hoch, sie wusste es auch nicht,
oder sie wollte es ihm nicht sagen. Dennoch nahm sie gerne seine Einladungen
an, verhielt sich aber unheimlich spröde. Er schob es darauf, dass sie Susannes
Freundin war und dass sie Susanne nicht verletzen wollte.
Er verabredete sich mit anderen
Frauen. Und er war erstaunt darüber, dass er solch eine Wirkung auf sie hatte,
denn das Zusammenleben mit Susanne und ihrer nie weit entfernten Mutter hatte
sein Selbstwertgefühl ziemlich angegriffen. Er hatte tatsächlich Sex! Auch das
war gut, saugut sozusagen, Susanne war so sehr Kindmädchen gewesen, dass Sex
für sie nur eine Pflicht war und keine Kür.
„Diesch Bier ist wirklisch eine
Kür und keine Flicht...“ Oh Gott, jetzt fing er auch schon an, zu stammeln.
„Es hat eben viel Körper“, meinte
Archibald nebulllöls.
„Besser das, ich ess noch so ne
Weißbrot mit bisschen Kaviar.“
„Klar sonss kannss du die Blume
nicht mehr erkennen.“
„Hääääh?“
„Die Blume beim Bier, weiisss du.“
„Nich ssu vergessen, der
Körper...“ Daniels Stammeln war nun konstant geworden.
„Genau, der Kööper...“ Archibald
spuckte das Bier auf den Boden des Kellers und aß wieder ein Stückchen
Weißbrot. Er hatte wahrscheinlich im Kopf, dass er einer Weinprobe beiwohnte,
in der die Weintester auch immer den Wein auf den Boden oder sonst wohin
spuckten.
Daniel tat es ihm nach. Glotzte
auf die Bierpfütze und musste noch mehr lachen, weil er wieder an die
Vergangenheit denken musste.
Er hatte sich dann in Marissa
verliebt und um sie geworben. Vielleicht war der Grund dafür ihre äußere
Gelassenheit und ihr Mangel an Hysterie.
Sie war eine zurückhaltende ernste
Frau, die ab und zu recht witzige Bemerkungen machte. Sie würde nie einfach so
mit einem Mann schlafen, dafür war sie zu anständig. Anständig, genau das war
sie. Im nachhinein dachte Daniel eher, dass sie zu feige oder zu prüde dazu
war. Oder zu berechnend? Aber damals vermutete er eine versteckte Leidenschaft
in ihr. Seine Werbung zog sich über Monate hinweg, Marissa war ein zäher
Brocken, aber das steigerte seine Liebe zu ihr noch. Sie fuhren sogar zusammen
zu Susanne, die wieder bei ihren Eltern lebte, fünfzig Kilometer weit entfernt.
In seinem Hinterkopf erschien eine andere Frau, nämlich Rebekka. Oh ja, sie war
auch dabei gewesen. Rebekka, die schöne, aber vollkommen unzugängliche Freundin
von diesem Arschloch Michael. Sie war mitgefahren, aber sie war weit weg und
dachte immer nach, wahrscheinlich über ihre Beziehung zu Michael. Es war ein
seltsamer Tag. Er und Susanne versuchten zu reden, doch es kam nichts dabei
herum. Die Fronten warten verhärtet und nicht mehr zu reparieren.
Später ging man in das Freibad,
denn es war ein heißer Tag in einem heißen Sommer, und alle hatten
vorsorgehalber Badesachen mitgenommen. Daniel versuchte, sich zwischen seiner Exfreundin
Susanne und seiner zukünftigen Freundin Marissa aufzuteilen, aber das kam bei
beiden nicht gut an. Und Rebekka war in Gedanken versunken, sie schien sich
höchst überflüssig zu fühlen, seltsam, so eine schöne Frau mit so aufregenden
Brüsten... Sie trug einen winzigen weißen Bikini mit roten Rändern, das wusste
er noch genau, und sie hatte ihr Oberteil anbehalten im Gegensatz zu Susanne
und Marissa, die oben ohne praktizierten... Auf dem Heimweg unterhielt er sich
im Auto mit Marissa über ihre gemeinsame Zukunft. Rebekka lag hinter ihnen auf
dem Rücksitz, sie schien zu schlafen, aber sie hatte sicherlich einiges von dem
Gespräch mitbekommen hatte. Und er fühlte sich seltsam befangen.
„Ich glaube, mein Schmack is weg“,
sagte Archie gerade. „Lass noch ein bissel essen, denn jetzt Bockbier!!!“
Das Bockbier war allerdings das
letzte Bier für die beiden an diesem Tage. Bockbier hat nämlich die
Eigenschaft, nicht nur die Zunge und die Stimmbänder lahm zulegen, sondern auch
das Gehirn mit seinen großartigen Gedanken.
Aber trotz zeitweiliger geistiger
und körperlicher Gelähmtheit suchten Daniel noch reichlich Erinnerungen an die
Vergangenheit heim. Er hatte sie bekommen! Er hatte Marissa errungen, und er
feierte das wie einen Sieg. Er hatte sie ins Bett gekriegt und mit ihr
geschlafen. Sie schien zwar ein wenig teilnahmslos, aber sie machte einen
erfreuten und zufriedenen Eindruck. Es war nicht so, wie er es sich vorgestellt
hatte, aber im Liebesfieber war das egal, und er hatte die Hoffnung, nein die
Gewissheit, dass es besser werden würde für sie beide, viel viel besser. Er
würde sie verwöhnen, ihr jede Unannehmlichkeit abnehmen, ihre
Teilnahmslosigkeit würde schließlich bezwungen werden durch seine
Anstrengungen, und sie würden sich auch körperlich richtig lieben können, in
Ekstase...
Da hatte er sich ja ganz schön was
vorgemacht, dachte er zynisch. Wie hatte er sich nur so irren können! Das
grenzte ja fast schon an Idiotie. Er klopfte mit einer Baguettestange im Takt
auf den Tisch: I! DI! O! TI! ... I! DI! O! TI!...
Als Max Lakosta schließlich
erschien, um die Probanten abzuholen, traf er nur noch vollkommen besoffene
Männer an. Er verfrachtete sie in den Landrover und karrte sie vor dem Gutshof
ab. Es war ein Glückstag für Max: Keiner hatte ihm ins Auto gekotzt...
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KAPITEL
III – Teil 4 AUSFLÜGE
~*~*~*~ Zwei lange Rechtecke übereinander, das obere ist tiefsamtigblau,
und das untere ist zarthellblau. Das obere Rechteck hat links einen kleinen
hellen Fleck, und das untere hat rechts einen kleinen dunklen Fleck. Es
erinnert Daniel ein wenig an das YIN und YANG-Symbol, aber das sieht wirklich
etwas anders aus. In diesem Bild bewegt sich nichts, es ist einfach nur da, und
für Daniel sieht es aus wie eine zweidimensionale Grafik. Eine Grafik, die ihm
irgend etwas sagen will. Aber was? Sie strahlt eine gewisse Kälte aus, die aber
seltsamerweise nicht bedrohlich wirkt. ~*~*~*~
Kurz nach Mittag machten sich Andromeda
und Daniel zu einem Ausflug auf. Es handelte sich um einen Ausflug zu Pferde.
Rebekka sah den beiden Reitern nach, als sie langsam im Schritt den Hof
verließen.
Sie hatte eigentlich mitreiten
wollen, war aber von den beiden abgewiesen worden, weil ihre Reitkünste noch zu
unterentwickelt wären (genau dieser Wortlaut), und sie vermutete, dass man sie
nicht dabei haben wollte. Aber das Hierbleiben hatte auch seine Vorzüge, sie
wollte die Gelegenheit nutzen, um in der Bibliothek ein wenig herumzustöbern.
Da gab es soviel Interessantes, und man würde Jahrzehnte brauchen, um alles zu
lesen. Dieser Stendhal, den Daniel den ‚Schwätzer’ nannte, war allerdings
wirklich ungenießbar.
Andromeda ritt einen kräftigen
Braunen und Daniel einen noch kräftigeren Apfelschimmel, namens Greyhound, wie
Rebekka wusste. Daniel sah wirklich umwerfend auf diesem Pferd aus, auf diesem
fast weißen Pferd... Sie musste automatisch auflachen. Ein fast weißes Pferd!
Ein fast weißer Held! Wie überaus witzig und lächerlich das war. Und
hoffentlich kam Andromeda bald zur Besinnung. Diese offenkundige Verliebtheit
in Daniel war unsinnig und vor allem hoffnungslos. Daniel hatte anscheinend
nicht die geringste Ahnung von dieser Verliebtheit, und das war auch besser so,
sonst kam er noch auf blöde Gedanken…
Aber seine Eitelkeit würde es
bestimmt kitzeln, überlegte sie weiter. Andererseits war er nie einer gewesen,
der offenkundig auf Fraueneroberungen aus war. Auch in seiner Kneipe, dem Eye-Q
hatte er sich immer zurückhaltend benommen, er hatte nie mit den zahlreichen
Tussis geflirtet, die ihm an die Wäsche wollten - und dass er nach dem
Scheitern seiner Beziehung mit Susanne ein wenig ausgerastet war, konnte sie
eigentlich gut verstehen. Sie selber war ja auch kein Kind von Traurigkeit gewesen
nach dem Ende ihrer langjährigen... Kacke. So gesehen war er vielleicht doch
nicht so übel. Dann fiel ihr als Gegenargument wieder ein, dass er Marissa in
ihrem gemeinsamen Schlafzimmer betrogen hatte, und da war er noch voll mit ihr
zusammen gewesen, der Schweinehund!
Archibald kam ein paar Minuten
später in die Bibliothek und bot ihr an, zu hoch gelagerte Bücher für sie
herunterzuholen. Außerdem empfahl er ihr einiges zum Lesen.
Archie war ein richtiger
Gentleman. Auch um Morgaine kümmerte er sich gerne, kinderlieb wie er war. Er
las ihr vor, ließ sie auf seinem Rücken reiten, und Morgaine machte das
unbändigen Spaß. Wo steckte sie überhaupt? Sie verschwand immer direkt nach dem
Frühstück, trieb sich mit den Dorfkindern herum, ließ sich von Georg und der
Frau Schnorrergurke ohne Namen mitnehmen zu Ausflügen in Wildparks, machte mit
Sabine den Gemüsegarten unsicher, oder hing in der Küche bei Tante Bernadette
und Claudia Mansell herum. Und das Schärfste war, sie ließ sich das Voltigieren
beibringen, und zwar von Andy und Daniel. Voltigieren war ungefährlicher als
Reiten, denn Morgy war abgesichert durch eine Seilvorrichtung, die an der Decke
der Reithalle befestigt war. Und wenn sie wirklich vom Pferd fallen sollte,
dann würde sie in der Luft schweben, aufgefangen von diesem genialen Seil,
ungefähr so wie bei einer Zirkusnummer, also mit Netz und ohne Boden.
Sie wandte sich wieder Archie zu,
sie fühlte sich sehr wohl bei ihm, es war fast, als wäre er ein Onkel für sie
oder eine Art Vater. Nicht so ein Vater wie ihr eigener Vater einer gewesen
war, sondern ein gütiger parteiloser und vor allem ungeiler Vater...
„Sag’ mal Archie, das fällt mir
gerade ein, ihr habt ein eigenes Mausoleum?“
„Du hast es gefunden?“
„Na klar, ist ja nicht leicht zu
verfehlen. Es ist wie auf einem Friedhof, sogar Rhododendronbüsche sind da...“
„Es ist da, zweifelsohne. Und es
ist unsere Familiengruft.“
„Ich fasse es nicht! So was gibt
es noch?“ Rebekka konnte es kaum glauben.
„Ich weiß, es ist nicht mehr üblich.
Aber wir leben mit unseren Vorfahren im Einklang. Und manchmal habe ich das
Gefühl, einer der Ahnen wollte mir etwas erzählen...“
„Das klingt seltsam, so nach
Gruselfilm“, gab Rebekka zu bedenken, und sie fuhr nachdenklich fort: „Die
Toten sind uns unheimlich, soweit ich das beurteilen kann. Zumindest in der
Stadt ist es so.“
„Aber hier ist es anders. Wir auf
dem Lande kennen das Leben und auch den Tod. Und warum sollte ich nicht darauf
hören, was einer meiner Ahnen mir erzählt?“
„Ich beneide dich, Archie“, sagte
Rebekka ein bisschen verzweifelt, denn sie hatte noch nie über Ahnen
nachgedacht, die eine Verbindung mit ihr hatten, anscheinend war das in ihrer
Familie nicht üblich. Und wenn es üblich gewesen wäre, hätte sie gut drauf
verzichten können. (Wie man sieht, hielt Rebekka nicht viel von ihrer Familie)
„Habe ich überhaupt Ahnen? Ich glaube, ich habe noch nicht einmal Verwandte...“
Das stimmte, ihre Eltern waren anscheinend ganz allein auf dieser Welt, kein
Onkel, keine Tante war jemals vorbeigekommen, bis auf ein einziges Mal, aber da
war sie noch ziemlich klein gewesen, und diese Tante war nie wieder bei ihnen
erschienen.
Archibald von Kampe nahm sie
daraufhin kurzentschlossen in den Arm und wiegte sie tröstend. „Ach Rebekka,
man muss nicht unbedingt Verwandtschaft haben...“
Rebekka atmete seinen Geruch ein,
er roch männlich, nach Erde und nach Verständnis, es war gut, aber es war nicht
das, was sie wollte. Aber was sie wollte, das wusste sie auch nicht. Sie entzog
sich unauffällig seiner Umarmung und sagte: „Und die Toten? Was sind das für
Tote, hast du eine persönliche Beziehung zu ihnen?“
“Doch, sicherlich“, Archibalds
Stimme klang ernst. „Da sind meine Eltern. Sie sind früh gestorben, sie hatten
einen Autounfall Mitte der 60er Jahre...“
„Wie alt warst du da?“ fragte
Rebekka.
„Ich war, glaube ich, achtzehn...“
Aha, jetzt hatten sie das Jahr
2000, also war Archie ungefähr dreiundfünfzig Jahre alt. Dafür sah er wirklich
gut aus.
„Das ist seltsam! Aber was sagen
sie dir, wenn du mit ihnen... äääh redest?“ Rebekka hatte das irrationale
Gefühl, diese Sache verstehen zu können, Ahnen, die mit einem sprachen,
vielleicht fühlte man sich dann nicht so entwurzelt wie sie mit ihrer
erbärmlichen Familie, die eigentlich nur aus den Eltern und dem kleinen Bruder
bestand.
„Meine Eltern haben mich zum
Beispiel getröstet nach Kassiopeias Tod...“ Er lächelte. „Ich weiß, das hört
sich unglaubwürdig an.“
„Irgendwie nicht“, sagte Rebekka
und wunderte sich darüber, dass sie mit einem doch relativ Unbekannten so ein
Thema beredete. „Und Kassiopeia? Nein, ich will es gar nicht wissen...“
„Kassiopeia redet über Andromeda,
und ich erzähle ihr, was Andromeda so treibt.“ Tatsächlich griff sich Archie an
die Augen, um dort wohl irgend etwas zu verscheuchen, aber er fasste sich
schnell wieder und fuhr fort: „Die ganz Alten, die schon länger hier liegen,
sind fast stumm. Oder sie murmeln nur. Manche sind nicht so nett, aber bösartig
sind sie auch nicht...“
„Vielleicht haben sie ja Schlimmes
erlebt.“
„Ja vielleicht.“ Er schien in sich
hineinzublicken und sagte dann schließlich nachdenklich. „Ein paar Jahre nach
dem Unfall unserer Eltern hatte Claudia die Fehlgeburt, es muss 1970 gewesen
sein. Aber dieses Kind ist so schweigsam, als wäre es gar nicht da, ganz im
Gegensatz zu dem anderen, dem Enkelkind von Tante Bernadette, das plappert ohne
Unterlass...“
„Ich bin auch 1970 geboren.“
Rebekka suchte ein neutraleres Thema, um das Gespräch wieder in sogenannte
normale Bahnen lenken zu können.
„Vielleicht mag Claudia dich deswegen so gerne“, Archie
sah sie lächelnd an. „Du könntest ja wirklich ihre Tochter sein.“
„Das wäre schön, ist aber doch recht unwahrscheinlich“.
Rebekka schüttelte den Kopf, und nach einer kurzen, von Schweigen erfüllten
Pause wandten sich beide wieder den Büchern zu.
Auch Max schaute den beiden
Reitern nach. Er fühlte sich ausgeschlossen von Andromeda. Andromeda war immer
sein Mädchen gewesen. Mit Betonung auf ‚Mädchen‘ und nicht auf ‚sein‘. Er hatte
sie schon beschützt, als sie noch klein war. Auch die heranwachsende Andromeda
hatte er vergöttert, ohne ihr viel davon zu zeigen. Und jetzt wurde sie
erwachsen, und sie war so schön und so gut. Sie war sein Leben, er liebte sie
über alles.
Aber das durfte nicht sein, denn
es gab keine Hoffnung für seine Liebe. Er musste sich damit bescheiden, auf sie
aufzupassen und sie zu beschützen.
Sie war in Daniel verliebt, und es
schien etwas Ernstes zu sein, zum ersten Mal überhaupt. Es war anders als mit
den jungen Burschen, mit denen sie in ihrem Zimmer vielleicht... Aber was sie
dort tat, ging ihn nichts an. Er hatte nichts gegen Daniel, und wenn Andys
Verliebtheit in ihn nicht gewesen wäre, hätte er gerne die Freundschaft mit ihm
weiter ausgebaut, aber jetzt war er ihm gegenüber befangen, und das alte
vertraute Verhältnis wollte sich nicht einstellen. War er etwa eifersüchtig auf
ihn? Das wäre unangemessen und fatal, und außerdem mochte er Daniels Musik. Was
er manchmal auf seiner Gitarre spielte, hörte sich recht vielversprechend an...
Seine Augen verfolgten die beiden
Reiter, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Außerdem war der Kerl viel zu alt
für Andromeda. Dann fiel es Max siedendheiß ein, dass er selber genauso alt wie
Daniel war. Auch das ein Grund mehr, es gab keine Hoffnung. Nicht für ihn.
~~~
Andromeda und Daniel kamen früher
zurück als erwartet. Es war ein schöner Ausflug gewesen. Andromeda hatte ihn
auf den höchsten Berg der Umgebung geführt und ihm eine alte Burgruine gezeigt,
wo sie als Kind mit den Dorfkindern gespielt hatte. Sie hatten immer versucht,
den geheimen Gang zu finden, der auf die andere Seite des Tales führen sollte,
nämlich zu der ‚guten’ Edelherrenburg. Natürlich hatten sie ihn nicht gefunden,
er war bestimmt lange schon verschüttet und eingestürzt – oder er hatte nie
existiert.
Daniel sagte auf dem Heimweg nicht
viel. Er musste immer wieder an diesen neuen Traum denken.
An diese Grafik, die ihm irgendetwas sagen wollte. Aber was? Daniel hatte
absolut keine Ahnung. Das war das blöde an diesen Visionen, dass keiner sie
verstehen konnte. Stammten sie von Morgaine? Wenn ja, dann schien es sie nicht
sehr zu beunruhigen, sie war ein so fröhliches Kind. Und er liebte sie. Er
liebte auch ihre Mutter, auf andere Weise - automatisch fühlte er ein heftiges
Verlangen nach ihr, das nicht nur rein körperlich war – aber sie schien diese
Liebe ja nicht zu wollen. Obwohl sie ein klein wenig lockerer geworden war,
nicht mehr so abweisend wie vorher...
Andromeda plapperte unterdes
weiter, als ob sie gar nicht merken würde, wie schweigsam Daniel war. Sie hatte
anscheinend andere Sorgen.
„Heute hab’ ich einem
Schulkameraden, Quatsch, Kamerad ist das falsche Wort, Idiot passt besser, eins
auf die Nase gegeben. Er hat einen kleineren Jungen gequält.“
„Finde ich gut, Kitten“, sagte
Daniel anerkennend.
„Och, ich weiß nicht“, sagte
Andromeda zweifelnd. „Daddy findet das bestimmt nicht gut. Ich hab ihm nämlich
das Nasenbein gebrochen. Und er will mich, oder besser gesagt Daddy verklagen.“
„Nicht schlecht“, sagte Daniel.
„Sag’ mal Kitten, bist du etwa so was wie ein weiblicher Robin Hood?“
„Ach Quatsch!“ Andromeda
überlegte. Es gefiel ihr sehr gut, dass Daniel sie wieder Kitten nannte. Das
hieß, er beschäftigte sich mit ihr.
„Nein, ich hasse einfach
Ungerechtigkeit!“ Andromeda wandte ihre Gedanken wieder ihrem Vater zu, genauer
gesagt der Reaktion ihres Vaters auf eine Schadensersatzklage. Das war nicht
das erste Mal. Andy war wirklich eine Art Rächerin der Enterbten, der Witwen
und Waisen und vor allem der unterprivilegierten Schulkameraden, der Freaks, die
nicht in Mode waren, die kein Geld hatten, um sich Markenklamotten zu kaufen,
die in der Schule lernten statt anzugeben. Und vielleicht war Daddy ja auch
stolz auf sie. Das hoffte sie jedenfalls. Ihr Daddy war in gewissen Dingen
nicht so wie andere Daddys.
Sie erreichten Kampodia beide sehr
schweigsam. Es war früher Nachmittag
Nachdem sie die Tiere abgesattelt
und ihre Rücken mit Stroh abgerieben hatten, äußerte Daniel den Wunsch,
vielleicht noch ein bisschen in der Gegend herumzulaufen, mit Morgaine, mit
Rebekka und mit Andromeda natürlich auch.
Morgaine fanden sie in der Küche,
wo sie gerade mit Tante Claudia plauderte.
Rebekka fanden sie in der
Bibliothek, wo sie sich an einem Werk festgelesen hatte, das von einem gewissen
Umberto Eco stammte und welches ‚Das Foucaultsche Pendel’ hieß.
„Uppps“, Rebekka tat überrascht,
als sie die drei kommen sah. In Wirklichkeit war sie natürlich nicht
überrascht, sie hatte zufällig aus dem Fenster geschaut, als Daniel und Andy in
den Hof ritten...
„Ganz nett“, meinte Daniel,
nachdem er einen Blick auf das Buch geworfen hatte. „Okkultismus und so... Aber
du wirst feststellen, am Ende ist nichts außer heißer Luft. Aber interessante
heiße Luft. Komm’, du Leseratte, lass’ uns ein bisschen in der Gegend
herumspazieren.“
„Wohin wollt ihr denn“ Rebekka
schaute ihn neugierig an.
„Andy hat gesagt, in Schießheim
wäre es ganz nett“, sagte Daniel munter. „Also, kommst du?“
„Kommst du kommst du kommst du?“
Morgy stimmte im Singsang ein.
„Na gut.“ Rebekka legte den dicken
Wälzer weg. Und wunderte sich ein bisschen, dass sie einfach so mitgehen
wollte.