Holidays in Kampodia
KAPITEL IX Teil 1
UNVERSÖHNLICHKEITEN
Rebekka richtete sich ungemütlich ein.
Sie fühlte sich nur richtig heimisch im Bunker, wenn Daniel nicht da war, und
er war oft nicht da. Er erzählte irgendwas von Statik – musste Baustellen
besuchen und kam immer erst spät am Abend nach Hause. Und dann konnte sie ihm
meistens aus dem Weg gehen. Manchmal blieb er auch über Nacht weg und das
beunruhigte sie irgendwie. Seltsam…
Das hässliche Haus, kurz Bunker
genannt, hatte sich als ein wahres Wunder entpuppt. Es war alles unglaublich
praktisch, diese Fenster ohne große Ecken und Kanten, diese Einbauschränke,
dieser sich selbst reinigende Backofen, dieses große Badezimmer, wo man ohne
Anstrengung beim Putzen in jede Ecke kam... Der Onkel, der Daniel das Haus
vermacht hatte, musste ein hausfrauenfreundliches Genie gewesen sein.
Außerdem kam immer noch eine
Putzfrau, obwohl Rebekka dachte, dass sie deren Arbeit eigentlich mitmachen
könnte. Aber dann wäre SIE Daniels Putzfrau, und das musste nicht sein! Also
beschränkte sie sich darauf, die Unordnung zu beseitigen, die Andromeda,
Morgaine und sie selber anrichteten. Sie hatte ja Zeit genug.
Zur Arbeit war es genauso weit wie
vorher, nur der Weg hatte sich geändert. Und Morgaine nahm sie morgens wie
immer mit in den Betriebskindergarten. Der Chef hatte diesen Kindergarten
tatsächlich Rebekka zuliebe eingerichtet, so versessen war er auf ihre
Mitarbeit gewesen. Und seitdem der Kindergarten existierte, kehrten auch andere
Mütter aus dem Mutterschaftsurlaub in die Firma zurück.
Aber bald würde die Kleine in
einen richtigen Kindergarten gehen. Rebekka hatte Angst davor. Wenn man immer
noch auf Morgaine lauern würde, wenn dort etwas passieren würde... Ihr spukte
diese entsetzliche Nacht im Kopf herum, als Morgaine verschwunden war. Daniel
hatte sie zurückgebracht, und dafür würde sie ihm auf ewig dankbar sein. Nur
hatte sie absolut keine Ahnung, wie sie ihm ihre Dankbarkeit zeigen sollte,
wenn seine Nähe sie schon aufbrachte
Jedenfalls hatte Rebekka viel Zeit, und sie dachte auch viel nach. Nur leider kam sie zu keinem Ergebnis.
Manchmal fuhr sie mit Andromeda
und Morgaine nachmittags in der Gegend herum, manchmal gingen sie zum See
hinunter, er war ja nicht weit weg, nur ein paar Minuten. Manchmal besuchten
sie ein bestimmtes kleines Lokal - von dem aus man einen wundervollen Blick auf
den See hatte - und aßen dort die hauseigene Currywurst. Ansonsten kümmerte
sich Andromeda nachmittags um Morgaine. Vermutlich weil sie Morgaine liebte und
weil sie sich wohl von ihren quälenden Gedanken ablenken wollte. Ihre
Hausaufgaben machte sie abends, wenn Morgaine schon im Bett war. Rebekka las um
diese Zeit oder schaute fern und ging immer früh in ihr Zimmer, weil sie Daniel
nicht begegnen wollte. Denn wenn sie sich wirklich einmal über den Weg liefen,
war sie wehrlos gegen den heftigen Abscheu, den sie ihm gegenüber empfand.
Und ihre Treffen verliefen mit
unwesentlichen Änderungen immer nach dem gleichen Schema...
SCHEMA
„Was zum Geier spinnst du dir da
eigentlich zusammen?“ Daniel ist aufgebracht. Er weiß, dass sich diese so
genannte Unterhaltung im Kreise herum drehen wird wie immer, aber er gibt nicht
auf. Er will es erzwingen, er muss doch irgendwie zu ihr durchdringen können.
„Ich spinne nicht!“ Rebekkas abweisendes Gesicht sieht aus wie versteinert. Auf Abruf erscheint das Bild vor ihren Augen, das ihn mit Zirza zeigt. Das Schlimme an der Sache ist, dass es ihr so viel ausmacht. Wenn Daniel ihr egal wäre, dann würde es ihr bestimmt nicht so viel ausmachen. Aber sie hat Gefühle für ihn, und sie hasst sich dafür.
„Rebekka! Das ist doch absurd! Du kannst nicht wirklich glauben, ich hätte was mit Zirza gehabt.“
„Ich habe euch aber gesehen“, sagt
Rebekka und schaut böse an ihm vorbei. Dieses Bild von Zirza und Daniel ist ihr
mittlerweile so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie unerschütterlich
glaubt, die beiden gesehen zu haben. Sie weiß zwar nicht mehr genau, wo es war,
aber sie hat’s gesehen. Und Daniel hat es selber gesagt! Aber das kann sie ihm
nicht erzählen, denn dann müsste sie ihm gegenüber ja zugeben, dass sie bei ihm
war. Und das ist das Letzte, was Rebekka will. Sie war nie bei ihm im Zimmer!
Und sie war auch nie die vollkommene Idiotin, die doch tatsächlich glaubte,
dass er sie wollte. Und bei der Aussage wird sie bleiben. Aus und Schluss!
„Du kannst gar nichts gesehen
haben, weil überhaupt nichts war.“ Daniel gibt nicht auf, aber er resigniert
allmählich. Was soll er tun? Diese Frau ist so stur und so verbohrt.
„Ich habe es gesehen!“ Rebekka
beharrt auf ihrer Meinung.
„Als du in dieser Nacht zu mir gekommen
bist, Rebekka, da habe ich etwas gesagt...“, Daniels Stimme stockt, bevor er
weiter spricht. „Das war natürlich alles Blödsinn. Ich hatte einen schlechten
Traum und war nicht gut drauf. Und ich wollte dir wehtun...“
„Zu dir gekommen? Was redest du
da?“
„Gib es doch zu! Du warst bei mir.
In der Nacht nach dem Ball.“
„In deinen Träumen!“ spuckt
Rebekka ihm wie eine wütende Katze ins Gesicht, sie verlässt die Küche, sie
kann seinen Anblick nicht mehr ertragen, rennt ins Badezimmer und übergibt sich
dort.
Daniel sieht ihr fassungslos
hinterher. Diesmal hat das Gespräch in der Küche stattgefunden. Es hätte auch
in jedem anderen Raum stattfinden können, das Gespräch, in dem sie sich im
Kreise drehen…
EMPFINDLICHLICHKEITEN
Sie hatte ihm vorsichtshalber auch
gleich mitgeteilt, dass sie nicht wirklich kochen konnte, trotz des Kochkurses
bei Tante Bernadette. Es handelte sich um eine reine Vorsorgemaßnahme, falls er
auf die absurde Idee kommen sollte, dass sie sich jeden Tag an den Herd
stellte… Von wegen!
Natürlich konnte sie einiges
kochen, aber nicht auf die klassische Art. Ihre Spaghetti waren zum Beispiel
sagenhaft lecker, egal mit welchen Zutaten, egal ob es mit Spinat, Knoblauch,
Pfefferschoten, Auberginen, Krabben, Käse oder Kräutern war. Ihr Einfaltsreichtum
schien in dieser Beziehung unerschöpflich zu sein. Auch ihre Pizza hatte noch
nie jemand verschmäht. Allerdings erst nachdem sie es aufgegeben hatte, den
Teig selber zu machen...
„Du musst natürlich nicht für mich
kochen“, sagte er daraufhin. „Ich kann gut für mich selber sorgen.“
Und das machte sie sauer. Warum?
Okay, sie war als Köchin sicher eine Niete, aber musste er ihr das unter die
Nase reiben? Tatsache war, sie kam sich reichlich nutzlos vor in diesem Haus.
Er brauchte sie nicht, und sie fühlte sich zu Unrecht hier, weil sie so gar
nichts geben konnte... Verrückt, verrückt, verrückt!
Und einerseits verabscheute sie
ihn, aber trotzdem sehnte sie auf eine perverse Art und Weise, wie sie dachte,
seine Rückkehr herbei, wenn er fort war. Und wenn er dann kam, reizte seine
Gegenwart sie so, dass sie über ihn herfiel wie eine wütende zickige Katze.
Und seltsamerweise bereute sie
ihre Zickigkeit, als sie feststellte, dass er bei seiner Heimkehr in der Nacht
den Rest ihrer Spaghetti gegessen hatte. Und er tat ihr doch tatsächlich leid!
Und das ärgerte sie wiederum, denn er hatte kein Mitleid verdient. Trotzdem
kochte sie seitdem ein paar Spaghetti mehr und deponierte die mittlerweile
etwas größeren Reste des Essens im Kühlschrank, wo er sie nachts finden konnte.
Auch verrückt, verrückt, verrückt...
An den Wochenenden war Andromeda
ein guter Blocker zwischen ihnen. Was sollte ich ohne Andy tun, dachte Rebekka
dankbar. Denn meistens bestellten sie zwar griechisches oder chinesisches Essen
– weil natürlich nicht viel gekocht wurde – aber manchmal gingen sie auch in
Restaurants, um dort zu speisen. Im Restaurant selber war dann Andromeda die
wichtigste Person, denn sie war neutral und obwohl sie normalerweise auch sehr
schweigsam war, so sprach sie zumindest mit Morgaine. Die beiden plapperten
miteinander wie alte Freundinnen, und Rebekka musste oft über sie lachen.
Manchmal schaute Daniel sie dann
so seltsam an, Sie spürte es, obwohl sie ihm nie in die Augen sah.
Und manchmal rutschte Rebekka die
Hand nach dem Essen aus, und sie wollte selber bezahlen. Es war ein Reflex, der
sich ihrer Kontrolle entzog. Und warum auch nicht? Sie verdiente ihr eigenes
Geld, sie konnte sich ab und zu ein Essen in teuren Restaurants leisten, und
sie konnte sogar andere Leute dazu einladen. Dafür brauchte sie keinen Daniel!
Daniel war beim Zahlen aber
seltsamerweise immer schneller als sie, und der mörderische Blick, den er ihr
dabei zuwarf, brachte sie auf der Stelle dazu, ihre Geldbörse unauffällig
wieder einzustecken. Aber warum ließ sie sich von dem Kerl einschüchtern? Das
war erst recht verrückt, verrückt, verrückt!
Andererseits fiel ihr immer ein großer Stein vom Herzen,
wenn er die Zeche bezahlte, und das hatte gewisse Gründe…
FINANZIELLES
Im Büro waren sehr viele Leute
sehr erstaunt gewesen, als sie aus dem Urlaub als verheiratete Frau
zurückkehrte. Die Gerüchteküche kochte, und ihre Heirat war das absolute Thema
der Woche.
Rebekka spielte natürlich die
glückliche frisch verheiratete Ehefrau, wenn auch widerwillig. Leider konnte
sie nicht viele Fotos von ihrer Hochzeit vorweisen außer den Bildern, die
Claudia Mansell gemacht hatte. Aber die reichten vollkommen aus.
Ein Märchen! Ein Wunder!
Traumhaft! Wie im Film!
Das war die allgemeine Ansicht der
Kolleginnen. Eine Frau trifft den Vater ihres Kindes nach fünf Jahren wieder,
und beide heiraten! Und so schnell! Das war absolut romantisch!
Mit den Zähnen knirschend nahm sie die begeisterten Kommentare ihrer Kolleginnen entgegen, welche allesamt die gleiche Aussage hatten, nämlich: Was für ein Glück sie doch gehabt hatte – und wie toll der Bräutigam aussah!
Und sie nahm mit den Zähnen
knirschend die Glückwünsche der männlichen Kollegen entgegen, welche sich ihre
Lippen leckten und untereinander lüsterne Blicke tauschten, diese elenden
Spinner! Was wussten die von ihrem Sexleben! Ein paar von den Spinnern hatten
schon versucht, sie anzumachen, aber Rebekka konnte so etwas mit einem Blick
abwürgen. Und jetzt freuten die sich bestimmt darüber, dass sie im sicheren
Hafen der Ehe gestrandet war. Oder hieß es gelandet? War egal, gestrandet,
gelandet... Sie war wie Robinson Crusoe auf einer unbekannten Insel gestrandet.
Und sie hatte eine Bruchlandung gemacht Die stolze unnahbare Rebekka war jetzt
im Ehejoch gefangen. Da lagen die Kollegen gar nicht so falsch.
Und Rebekka stellte zu ihrer
Bestürzung fest, dass sie – egal ob für Frauen oder für Männer – erst jetzt
eine vollwertige Frau geworden war, und zwar durch diese Heirat. Ihre Arbeit in
der Firma, auf die sie immer stolz gewesen war, zählte nichts im Vergleich zu
ihrem neuen ehelichen Stand. Verrückt, verrückt, verrückt – und was für eine
zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit!
Aber immerhin schenkte man ihr zur
Hochzeit Bargeld…
Denn mittlerweile hatte sie zu
ihrem Entsetzen entdeckt, dass sie finanziell in einer totalen Zwickmühle
steckte. Als sie nämlich ihre Gehaltsabrechnung erhielt, musste sie
feststellen, dass sie sehr viel weniger Geld herausbekam als früher. Es lag
natürlich an der neuen Steuerklasse. Früher, gar nicht so lange her, hatte sie
Steuerklasse2 gehabt mit kaum steuerlichen Abzügen. Aber jetzt war sie durch
ihre Heirat in die Steuerklasse3 gerutscht, und die war sehr viel teurer.
Verrückt, verrückt, verrückt!
Und es hielt furchtbare Konsequenzen
für sie bereit. Sie hatte ihre alte Wohnung immer noch nicht gekündigt, und sie
musste natürlich dafür bezahlen. Es war auch nicht so, wie sie es sich gedacht
hatte. Die Wohnung, die eine Zuflucht sein sollte, war ihr fremd geworden.
Dennoch hielt Rebekka aus purem Eigensinn an ihr fest.
Sie beteiligte sich an den
Nebenkosten für Daniels Haus, obwohl er das gar nicht wollte. Das Auto war auch
recht teuer, aber das konnte sie nicht abschaffen, denn dann würde Daniel ihr
bestimmt dumme Fragen stellen. Sie verbrauchte jedenfalls zuviel Geld, und
nebenbei bekam sie auch weniger Geld heraus. Andererseits hatte sie eine
Vollmacht für Daniels Konto, aber sie wollte diese Vollmacht nicht benutzen.
Sie würde irgendwie auch so klarkommen. Wenn sie sich nur nicht so mies fühlen
würde, dauernd musste sie kotzen, sie hatte sich bestimmt einen Virus
eingefangen, aber das würde schon vorbeigehen.
Also hielt sie – stur wie sie war
– Ausschau nach einem Job, den sie nebenbei machen konnte. Sie dachte an eine
Putzstelle, aber da gab es nichts. Schließlich fand sie einen Job an einer
Tankstelle in der Nähe für zweimal fünf Stunden in der Woche - und das am
Abend. Es war ein wirklicher Knochenjob, meistens war sie ganz alleine in der
Tanke, wie sie ihren Arbeitsplatz ironisch nannte, sie musste sich mit
seltsamen unverschämten Kunden herumschlagen, die nebenbei auch noch
versuchten, Sachen zu klauen, sie musste den Getränkekühlschrank dauernd
auffüllen und dazu nach draußen ins Lager gehen, natürlich nur dann, wenn keine
Kunden da waren... Sie musste am Ende ihrer Schicht lästige Kunden loswerden,
alles abschließen, dann einen Rechnungsabschluss machen, und Trinkgeld gab es
natürlich auch nicht. Aber der Job war ohne Steuerkarte, er war zwar stressig,
aber damit kam sie klar. Und sie konnte immer erzählen, sie wäre bei Sabine
oder woanders gewesen, falls Daniel mal früher nach Hause kam. Und was ging es
ihn auch an!
Jedenfalls konnte sie das Geld gut
gebrauchen. Und sie hatte jetzt schon große Angst vor dem Tag X, an dem Andromeda
nicht mehr da sein würde, um auf Morgaine aufzupassen...
VERHÄLTNISSE
Sechs Wochen nach ihrer Abreise
von Kampodia war das Verhältnis zu seiner ‚Frau’ immer noch genauso schlecht
wie auf der Heimreise. Es hatte sich um keinen Deut verbessert, obwohl er, wie
er meinte, ziemlich zu Kreuze kroch, um sie zu besänftigen. Aber ihr Abscheu
auf ihn verringerte sich dadurch nicht im geringsten.
Daniel vermutete, dass sie von
Zirza manipuliert worden war. Andy hatte gewisse Andeutungen über ihre
Stiefmutter gemacht. Falsch, Andeutungen konnte man das nicht nennen. Andromeda
hatte Zirza angeklagt, für den Tod ihrer Mutter und für den Tod ihrer Amme und
deren Baby verantwortlich zu sein.
Sie ist eine Mörderin, hatte sie
schlicht und einfach gesagt. Und ER – jeder wusste, wen sie meinte – hat mich
entführt.
Daniel sah das alles nicht so
schwarzweiß wie Andromeda, bis auf Zirza natürlich. Dieser Schlange traute er
mittlerweile alles zu. Und Andy war natürlich vollkommen durcheinander. War ja
kein Wunder. Aber Daniel schätzte Max nicht als Kidnapper ein, der ein Kind
erst im wilden Wald aussetzt – und es dann ‚findet’ und zurückbringt. Okay, das
war die Sachlage, aber da steckte bestimmt was anderes dahinter. Daniel
vermutete, dass sein Freund unter einem enormen psychischen Druck gestanden
hatte. Die Bilder, die Morgaine ihm geschickt hatte, zeigten immer ein
grauenvolles Ungeheuer und kein Baby. Zirza hatte Max bestimmt eine
Gehirnwäsche verpasst. Und wahrscheinlich hatte sie mit Rebekka das gleiche
getan. Aber wie hatte sie es getan? Wie konnte man es feststellen? Rebekka
würde ihm dabei nicht helfen. Für sie war alles wahr, was sie gegen ihn
anbrachte. Sie fand es normal, den Abscheu auf ihn und ihren Ekel, und sie
blockte sofort ab, wenn der Name Zirza fiel. Sie sagte dann gar nichts mehr,
sondern ging einfach weg...
Er wusste nicht, was er tun
sollte.
Und Andromeda blockte auch ab,
wenn Daniel versuchte, über Max zu sprechen. Sie wollte absolut nichts über Max
hören, weder von ihrem Vater, der aus Kampodia anrief, noch von Daniel.
Andromeda war genauso unzugänglich und stur wie Rebekka – darin waren die
beiden sich sehr ähnlich... Nun denn, Andy musste da alleine durch, aber Daniel
hoffte, dass sie sich mit Max aussöhnen würde. Daniel verknüpfte auf eine nicht
nachvollziehbare Weise Andys und Max’ Schicksal mit seinem eigenen und dem von
Rebekka. Wenn die zwei es schaffen würden, dann würden Rebekka und er es auch
schaffen.
Allerdings sah es nicht nach
Aussöhnung aus. Eigentlich sah es überhaupt nicht gut aus, egal für wen...
TRÄNENLOS
Warum hat er das getan? Die Frage
beschäftigte Andy immer noch mehr als alles andere. Sie konnte es einfach nicht
glauben. Max, den sie von jeher kannte, Max, der kein Tier töten konnte, Max,
der sie immer beschützt hatte – dieser Max war ihr Entführer gewesen? Warum
hatte er das getan? Was für eine Rolle spielte die verhasste Zirza dabei? Und
hatte er sie überhaupt geliebt, oder kam das nur von seinem schlechten
Gewissen? Wenn sie ihn nur fragen könnte! Aber er war weg, und sie konnte und
wollte mit niemandem über ihn reden, sie konnte es noch nicht einmal ertragen,
seinen Namen vor anderen auszusprechen. Und sie fühlte sich grässlich allein.
Mittlerweile ging sie hier zur Schule. Ihre neuen Mitschüler hatten sie
freundlich aufgenommen, aber ein näherer Kontakt kam nicht zustande, denn
Andromeda interessierte sich einfach nicht für sie. Sie saß ihre Schulstunden
teilnahmslos wie ein Zombie ab, und sie kümmerte sich in ihrer Freizeit um
Morgaine.
Andromeda war froh, dass sie sich um
Morgaine kümmern konnte, denn das lenkte sie manchmal von ihren Gedanken ab.
Sie lebte mit ihrem Herzen immer noch in Kampodia. In Kampodia? Es gab kein
Kampodia mehr. Es gab nur noch das Kampodia der Erinnerungen. Denn Max war
fort, und Kampodia war jetzt nur noch ein normaler Ort und nicht länger ihr
Paradies. Ohne ihn...
Dann wieder überkam sie der Zorn
über seine Tat. Wieso hatte er mit dieser Schlange Zirza gemeinsame Sache
gemacht? Hatten sie etwa miteinander... Nein, nicht das!
Andromeda hatte kein einziges Mal
geweint, seitdem sie von Max’ Tat erfahren hatte. Ihre letzten Tränen waren die
um den Tod ihres Katers Alfonso gewesen. Manchmal wünschte sie sich,
stundenlang weinen zu können. Dann würde sie sich vielleicht besser fühlen.
Aber die Tränen wollten einfach nicht kommen, sie saßen wie ein dicker
hartnäckiger Klumpen hinter ihren Augen, und sie weigerten sich beharrlich, zu
fließen.
BESTANDSAUFNAHME
Die Firma lief gut, es gab genug Aufträge. Daniel nahm sich aber trotzdem im Oktober eine Auszeit, denn es würde auch ohne ihn gehen. Er wollte das Haus ein wenig renovieren. Eigentlich war der Bunker ja ein hässlicher Kasten. Aber dieser hässliche Kasten war bestens isoliert, und durch seine hässliche Schlichtheit kam man an alle seine Schwachstellen gut heran. Daniel war ziemlich überrascht gewesen, als er auf einmal das Haus seines Onkels erbte. Sein Onkel war nie verheiratet und außerdem kinderlos gewesen. Daniel hatte manchmal gedacht, er wäre homosexuell, aber vielleicht hatte er einfach keine Lust auf Frauen. War ja irgendwie verständlich…
Jedenfalls hatte sein Onkel ihm
vor knapp zwei Jahren den Bunker hinterlassen und auch die kleine Firma, die
sich mit Statik und der Planung von Bauvorhaben befasste. Und er erbte soviel
Großgeld, dass er in der Lage war, die hohen Erbschaftssteuern zu bezahlen. Er
konnte im Bunker wohnen, und die Nebenkosten waren gering.
Ich habe wirklich viel Glück
gehabt, dachte Daniel. Ich habe eine Tochter, die so außergewöhnlich ist, dass
ich es kaum fassen kann, und ich bin verheiratet mit der Frau, die ich liebe –
obwohl sie mich permanent ignoriert. Ich weiß, dass ich sie glücklich machen
könnte, nicht nur körperlich, sondern auch in jeder anderen Beziehung. An
diesem Punkt verirrten sich Daniels Gedanken. Sie spürten Rebekkas Körper,
strichen über die seidenweiche Haut an der Innenseite ihrer Schenkel, sahen wie
ihr Gesicht sich wie in höchster Qual verzerrte, wenn sie den Höhepunkt
erreichte. Es war einerseits wunderschön, andererseits unerträglich, denn es
war unerreichbar. Aber trotzdem konnte er nicht davon lassen, sondern
verstrickte sich immer mehr in seine Träume… Und danach musste er sich wieder
der Wirklichkeit stellen und an die Rebekka denken, die nur auf ihm herumhackte
und ihn im günstigsten Fall ignorierte. Trotzdem hegte er immer noch die
Hoffnung, diesen furchtbaren Zustand zu beenden, und er suchte immer noch nach
Möglichkeiten, um ihr zeigen zu können, was er für sie empfand.
Ein besonderes Geschenk vielleicht... Ihr Geburtstag stand nämlich kurz bevor, wie er aus der Kopie ihrer Geburtsurkunde wusste. Sie würde Ende Oktober dreißig werden. Schmuck wollte er ihr nicht schenken, das war zu einfach, und sie legte anscheinend nicht viel Wert darauf. Außer ihrem Ehering trug sie absolut keinen Schmuck, weder Ohrringe noch eine Halskette. Es wunderte Daniel, dass sie den Ehering trug. Vielleicht bedeutete ihr diese Ehe ja doch etwas? Sicher nicht, ihr Verhalten sprach ja Bände. Er dachte automatisch an die Nacht nach dem Ball und an das Collier, das ihn so irritiert hatte. Daniel musste auflachen. Rebekka und käuflich? Du lieber Himmel! Das Gegenteil war der Fall: Sie ließ sich ungern zum Essen einladen, gut das konnte an ihrem Abscheu auf ihn liegen. Seine Gedanken schweiften ab, er liebte es, wenn sie zusammen essen gingen, er liebte es, sie so nahe bei sich zu haben. Und wenn sie über Morgaines knappe Sprüche lachte und sie dabei so zärtlich und liebevoll ansah, dann wünschte er sich immer, sie würde ihn auch einmal so ansehen. Träume... Aber sie bestand auch peinlich darauf, sich an den Kosten für das Haus zu beteiligen, sogar seine Putzfrau wollte sie zu drei Vierteln mitbezahlen, weil sie, wie sie meinte, mit Morgy und Andy den größten Dreck machte. Er hatte sie ausgelacht, und sie hatte gekränkt an ihm vorbeigeschaut. Nein, sie war absolut nicht käuflich!
„Ich will ihr etwas Besonderes
schenken“, sagte er zu Sammy, der ihm beim Renovieren half. Sammy war ein Mann,
also nicht so unverständlich für Daniel wie die Frauen in seinem Umkreis… Auch
Sammy hatte seine Probleme mit der Ehe. Bei ihm versank alles im Chaos, wenn
die Schwiegermutter zu Besuch kam. Das erinnerte Daniel an die Mutter seiner
früheren Freundin Susanne. Zum Glück hatte Rebekka keine Mutter, die länger zu
Besuch kam. Ihre Mutter schien keine große Rolle in ihrem Leben zu spielen. Und
der Vater auch nicht. Die Angst in ihren Augen, als er von dem Traum erzählte,
in dem Morgy und ihre Großeltern vorkamen, stand ihm noch deutlich vor Augen.
Der Traum hatte sie so erschreckt, dass sie sich daraufhin bereit erklärte, ihn
zu heiraten. Und wenn es das war, was Daniel vermutete, dann würde er den
Kerl...
Jedenfalls war dieses ganze Herumgrübeln zwecklos,
es änderte nichts, er musste etwas tun...
RENOVIERUNG
Als erstes strichen sie die Wände der Küche. Es war
der einfachste Teil. Das Badezimmer im Untergeschoss war ziemlich abgewetzt und
hätte eigentlich neu gefliest werden müssen, aber das war Daniel zu aufwändig.
Er wollte eigentlich nur tapezieren und die fiesen Fliesen, nachdem das alte
Sanitärzeugs draußen war, mit einer Spezialfarbe überstreichen. Danach würden
weiße Sachen hineinkommen.
„Was schwebt dir denn vor für
ihren Geburtstag?“ fragte Sammy. Sammy war der Handwerker, obwohl Daniel als
Ingenieur eigentlich auch ein Handwerker war, aber ein technisch
fundierterer...
„Ich will ein Zimmer für sie
gestalten“, verriet ihm Daniel.
Daniel erwies sich als der
Fantasievollere von beiden, er unterlag nämlich nicht gewissen Regeln wie der
Handwerker Sammy, sondern er verfügte über eine blühende Fantasie, die es ihm
erlaubte, aus Pleiten und Pannen großartige kreative Erfolge zu machen. Oder
was soll man sonst dazu sagen, wenn jemand die teuren italienischen Fliesen für
eine Schreibtischplatte aus Versehen fallen lässt – und die Stücke noch
zusätzlich mit einem Hammer zertrümmert, um damit ein irre gut aussehendes
bizarres Mosaik zu legen?
Daniel hatte sich Rebekkas
Schreibtisch ausgeliehen. Er wollte ihn neu lasieren, hatte er ihr erzählt, und
sie hatte ihm den Tisch, der ja eigentlich ein alter Küchentisch mit einer
Schublade war, widerwillig überlassen.
„Du bist verrückt“, sagte Sammy.
„Mag sein, aber es sieht gut
aus...“ Daniel gab mit bloßen Händen den anthrazitfarbenen Fugenfüller auf die
Schreibtischplatte, um ihn dort einzumassieren. Der Schreibtisch sah nach
dieser Aktion absolut einzigartig und edel aus. Was man von Daniels Händen
nicht gerade behaupten konnte...
TROST
„Meinen Geburtstag hab’ ich dann doch nicht gefeiert. Wozu auch. Und für wen...“ Rebekka am anderen Ende der Leitung versuchte wohl, ihrer Stimme einen normalen Klang zu geben, aber Claudia Mansell hörte mühelos den Ton der Verzweiflung aus Rebekkas Rede heraus. Rebekka tat ihr leid, denn sie hatte Rebekka sehr gerne. Nein, das war untertrieben, sie liebte Rebekka...
„So schlimm ist es?“ fragte sie
mitleidig.
„Es wird einfach nicht besser, ich
kann seinen Anblick nicht ertragen. Manchmal muss ich mich sogar übergeben,
wenn ich ihn sehe. Aber eigentlich will ich...“ Rebekka verstummte.
„Du willst nicht, dass es so ist?“
„Ja“, sagte Rebekka zögernd. „Es
ist im Prinzip hirnverbrannt, was ich da denke. Er kann nicht so sein. Er hat
mir doch dieses Zimmer geschenkt. Warum hat er das getan?“
„Er liebt dich, das ist ganz
klar“, sagte Claudia eindringlich.
„Das meint Sabine auch, aber ich
kann es nicht glauben... Himmel, ich bin doch nicht hysterisch oder paranoid,
ich halte mich eigentlich für ziemlich realistisch oder wie soll ich es sonst
nennen...“
„Du bist bei weitem nicht so
realistisch, wie du denkst, Rebekka.“ gab Claudia Mansell zu bedenken.
„Außerdem solltest du mal zu einem Arzt gehen, das mit der Übelkeit ist nicht
normal.“ Sie hatte sich in der Zwischenzeit ihre eigenen Gedanken gemacht. Sie
kannte Rebekkas Geschichte mit Daniel, und Rebekka hatte ihr auch von ihren
Eltern erzählt, vor allem von ihrem Vater und von dem, was damals in den
Ehebetten der Eltern passiert war. Das arme Kind, dachte Claudia mitleidig.
Denn obwohl Rebekka es rigoros abstritt, trug sie bestimmt immer noch diesen
entsetzlichen Mist mit sich herum. Und so war es kein Wunder, dass sie auf
Ehebetten allergisch reagierte und sie automatisch mit Betrug gleichsetzte. Ob
es sich nun um ihren Vater handelte oder um Daniel. Claudia kannte sich ein
wenig aus mit Psychosen und ihren Ursachen. Während ihrer vielen Aufenthalte in
psychiatrischen Kliniken hatte sie ähnliche Fälle kennen gelernt, und dafür gab
es Behandlungen, obwohl die nicht viel taugten...
„Wenn ich nicht realistisch bin,
dann muss ich wohl verrückt sein“, Rebekka seufzte auf. „Aber ich kann es nicht
ändern, es geht einfach nicht. Obwohl ich es ja gerne ändern möchte...“
„Hast du schon mal an eine
Therapie gedacht?“ Claudia sagte das leise und halbherzig. Sie hatte sehr viele
Therapien mitgemacht, und trotzdem hatte sich für sie letztendlich nichts
geändert. Sie wusste, dass sie ihr Kind damals gehört und gesehen hatte – und
dass der Leichnam des Kindes, der im Mausoleum bestattet war, nichts mit ihrem
eigenen Kind zu tun hatte. Sie hatte es immer gewusst! Dieses Wissen war
zeitweise ein wenig verdrängt worden durch die Psychologen, die sie heilen
wollten. Aber in ihrem Innersten hatte sie diesen Leuten nie geglaubt. Und
mittlerweile wusste sie auch, warum das so war. Trotzdem riet sie Rebekka eine
Therapie an. Es konnte nicht schaden.
„Ich hab’ da was versucht, es war aber keine Therapie“, erzählte Rebekka stockend. „Ich hab’ mich hypnotisieren lassen, vielleicht hat man mich ja manipuliert... Aber es hat nichts gebracht. Das Bild... es war immer noch da. Verdammt, verdammt!“
„Ach Kind, du darfst nicht aufgeben. Kämpfe dagegen an, und du wirst es irgendwann schon schaffen.“
„Ich versuche es, aber es ist so
schwer...“
„Weißt du übrigens, dass Archibald was mit deiner
Freundin Sabine hat?“ fragte Claudia schließlich locker, nachdem sie beide eine
Weile geschwiegen hatten.
„Neeee!“ Rebekkas Stimme klang
ungläubig.
„Doch doch! Es fing in Kampodia
an, aber sie wollte nicht so recht, hatte Gewissensbisse, weil er verheiratet
war. Und Archie war auch nicht sehr glücklich über seine Situation.“
„Sabine und Archie?“ Rebekka
musste lachen. „Das ist ja wohl ein Ding! Die passen fantastisch zueinander,
obwohl er ja ihr Vater sein könnte. Und ich habe nichts davon gemerkt!“
„Du warst halt abgelenkt von
anderen Sachen.“ Claudia Mansells Stimme klang zärtlich.
„Da kannst du mal sehen, wie
egoistisch ich bin!“
„Nein, das bist du nicht!“ Claudia
hatte anscheinend noch etwas auf dem Herzen. Sie schwieg ein Weilchen, bevor
sie weiter sprach: „Habt ihr nicht Lust, über Weihnachten nach Kampodia zu
kommen? Ich möchte gerne etwas mit dir besprechen.“
Rebekka überlegte nicht lange,
sondern sagte spontan: „Liebend gerne! Und wenn Daniel nicht mitkommen will,
dann ist es umso besser. Aber was willst du denn mit mir besprechen?“
„Das sage ich dir dann schon...“
„Ist ja auch egal, natürlich kommen wir!“ Endlich hatte sie etwas, worauf sie sich freuen konnte. Kampodia im Winter. Zugefrorene Teiche, Schnee, der zart vom Himmel fiel. Vielleicht konnte sie dort Schlittschuhfahren, sie hatte es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan. Gespräche mit Claudia... Und Morgaine würde dort glücklich sein.
Rebekkas Augen füllten sich mit Tränen, so sehr freute sie sich auf Weihnachten in Kampodia. Und Andy musste mitkommen, ob sie es nun wollte oder nicht. Sie konnte sich nicht ewig davor drücken.
Genauso wenig, wie sie selber sich vor Daniel drücken konnte. Wie kam sie darauf? Der Vergleich war doch total absurd...
Nein, egal ist es nicht, dachte Claudia Mansell, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Es ist überhaupt nicht egal! Es ist vielleicht der Anfang. Aber noch ist nichts sicher, denn es muss richtig sein. Doch es passt alles zusammen, das Geburtsdatum, der Geburtsort, ihr Aussehen, und vor allem die Gefühle, die ich für Morgaine und sie habe. Nie zuvor habe ich so empfunden. Aber auch, wenn ich mir alles nur einbilde, liebe ich die beiden. Trotzdem muss Archibald es prüfen, er soll zu ihnen fahren und sie in die Mangel nehmen, er soll so tun, als ob er es wüsste. Er soll ihnen von mir aus Geld anbieten. Ja genau! Und dann wollen wir doch mal sehen, wie diese sauberen Leutchen reagieren werden. Ich hasse sie für das, was sie Rebekka angetan haben!
Claudia dachte nach langer Zeit auch wieder an ihren Ehemann. Sie war nicht geschieden von ihm, aber er hatte sie verlassen. Ben war immer seelisch zerrissen gewesen, auch in ihren glücklichen Zeiten. Er wusste nicht, wohin er gehörte. Sie musste lächeln. Die wenigsten Menschen wussten, wohin sie gehörten...
Ihrem Mann Ben – dem Sohn eines englischen Diplomaten, der eine Singhalesin geheiratet und sie nach der Unabhängigkeit Ceylons in seine Heimat Großbritannien gebracht hatte – blieb Europa fremd. Und vom Kontinent Asien fühlte er sich zurückgewiesen. Trotzdem hatten er und Claudia sich sehr geliebt. Beide lebten in ihrer eigenen Welt der Poesie, die zwischen der Weisheit Asiens und der Realität Europas angesiedelt war. Finanziell hatten sie keine Sorgen, aber als die Wirklichkeit sie einholte, da zerbrach ihre Beziehung. Es begann, als Claudia ihr Kind verlor. Ben unterstützte sie lange Zeit, trauerte furchtbar um das verlorene Kind, aber als Claudia sich immer öfter therapeutisch behandeln ließ und sie an nichts anderes mehr denken konnte als an das Kind, das sie gesehen und gehört hatte und das nicht in der Gruft der von Kampes bestattet war, da verließ er sie. Sein asiatisches Erbteil war stoisch genug, um einzusehen, dass es vorbei war mit der Liebe und der Poesie.
Er kehrte Europa den Rücken und
ging zurück nach Sri Lanka, dort wo er geboren wurde.
Claudia hielt ihn nicht zurück. Auch sie wusste: Es war vorbei.
UNSICHERHEIT
Rebekka fühlte sich so wohl in
diesem Zimmer, dass sie manchmal ihren Abscheu auf Daniel vergaß, denn er war
derjenige, der ihr das Zimmer geschenkt hatte. Diese wunderbare Bibliothek, die
natürlich nicht so groß war wie die Bibliothek im Herrenhaus der von Kampes,
aber dafür war sie sehr viel persönlicher und überaus behaglich. Es kam Rebekka
vor, als wäre dieses Zimmer aus Träumen entstanden, die sie noch gar nicht
geträumt hatte:
Ihr alter Schreibtisch mit seinem
bizarren Muster aus zersplitterten Fliesen, von Daniel selber zertrümmert und
dann zusammengelegt, das hatte sie von Sammy erfahren.... Ihren mittlerweile
mit einem Modem ausgerüsteten Computer, über den sie die wunderbarsten Bücher
bestellen konnte, um damit allmählich die weißen Lackregale zu füllen, die
strahlend von der tiefblauen Tapete abstachen... Ihr Bücherregal aus Holz, das
genau in der Mitte zwischen ihnen Platz hatte und dort viel besser zur Geltung
kam als früher… Es musste an der Tapete liegen, die das alte Kiefernholz zum
Leuchten brachte. Daniel hatte schon ein paar Taschenbücher in die neuen Regale
gestellt, unter anderen standen dort die ‚die ‚Robotermärchen’ und die
‚Sterntagebücher’ von Stanislaw Lem.
Durch Daniel hatte sie damals Lem
und seinen außergewöhnlichen mit Philosophie gepaarten Humor kennen gelernt.
Das war schon über sechs Jahre her, und in der Zwischenzeit war viel passiert...
Auch die Sachen von Daphne du
Maurier fand sie sehr schön – tatsächlich stammten ‚die Vögel’ von ihr und
natürlich der Roman ,Rebecca’. Fast eine Namensvetterin, sie musste lächeln.
Ja, der Raum war wirklich
wunderbar, es gab dort einen bequemen Sessel mit breiten Armlehnen und mit
Kopfstützen, fast wie in einem Auto. Die Lampe dahinter leuchtete den Lesestoff
genial aus. Und am Tage genügte das Licht, das durch das Fenster einfiel. Es
war perfekt! Daniel hatte sich wirklich Gedanken gemacht. Aber wieso? Das
passte doch alles nicht zusammen!
Natürlich verabscheute sie ihn, aber es war Abscheu, gepaart mit Unsicherheit. Warum hatte er ihr kein normales Geschenk gemacht, Schmuck vielleicht. Das wäre sehr viel bequemer für ihn gewesen, und sie hätte sich beleidigt fühlen können, weil Schmuck so unpersönlich war und ihr auch gar nichts bedeutete.
Aber nein, er hatte sich die Mühe
gemacht, diesen Raum für sie zu entwerfen und dann die Ausführung selber zu
übernehmen. So viele liebevolle Details! Alleine dieses Poster über ihrem
Schreibtisch. Es war ein blaues Plakat von einem Künstler, den sie nicht
kannte, aber es war wunderbar, es war geheimnisvoll und schön.
Jedenfalls fühlte sie sich mies,
weil sie sich nicht richtig bei Daniel bedankt hatte. Sie konnte es einfach
nicht über sich bringen. Denn im entscheidenden Augenblick musste sie wieder an
ihn denken, an diesen Satz ‚Mach’s mir noch einmal... Zirza’. An den
entsetzlichen Satz, gefolgt von dem entsetzlichen Bild.
Rebekka erstarrte. Warum? Warum
hatte er ihr das angetan? Das passte doch gar nicht zu ihm. Es war so
unrichtig, so unlogisch, so falsch, so gemein, so hinterhältig, es konnte
einfach nicht wahr sein. Aber es war wohl wahr, denn sie hatte es selber
gesehen, und er hatte es selber gesagt.
Wieder wurde ihr übel, aber diesmal lief sie nicht ins Badezimmer, sondern ging stattdessen zum Fenster und öffnete es. Die frische frostige Luft besänftigte und betäubte ihre aufgewühlten Gedanken ein wenig. Draußen war es eisig kalt und das schon Mitte November.
Irgendwas stimmte mit den
Jahreszeiten nicht mehr. Der Frühling kam früher, doch er wurde schnell vom
Sommer abgelöst, der schlagartig in einen kurzen stürmischen Herbst überging.
Und dann übernahm sofort der lausig kalte Winter.
Es hatte tatsächlich angefangen zu schneien, und eine hauchdünne Schneedecke bedeckte den Boden des Gartens. Die Äste und Zweige der Bäume hatten sich in weiße filigrane Kunstwerke verwandelt, und der phantasielose Garten sah auf einmal wunderschön aus. Ein paar winzig kleine Schneeflocken wehten in Rebekkas Gesicht, und sie fühlte sich auf einmal viel besser, während sie ihr Gesicht in die kalte eisige Luft hielt. Die Übelkeit war vergangen, das entsetzliche Bild nur noch undeutlich zu sehen, und auch der furchtbare Satz hatte seinen Schrecken verloren.
Das ungewohnte Gefühl der
Erleichterung weckte in Rebekka den Wunsch, es noch kälter zu haben. Wenn es
mit dem Wetter so weiterging, würde der See bald zugefroren sein. Und dann
konnte sie vielleicht dort Schlittschuhlaufen.
Sie hörte Stimmen und sah, wie
Daniel zu dem großen Holzstapel lief. Er wollte wohl Brennholz für den Kamin
holen.
Andromeda kam kurz hinter Daniel in den Garten. Sie hielt Morgy an der Hand. Arme Andy. Sie hatte ihren Geburtstag, der noch vor Rebekkas Geburtstag gewesen war, in ihrem Zimmer verbracht und es strikt abgelehnt, ihn zu feiern. Es bedeutete ihr absolut gar nichts, sechzehn zu werden. Sie war immer noch in ihren Gedanken und ihren Träumen bei Max, aber es waren bestimmt keine guten Gedanken und Träume.
Morgaine rannte vor Daniel davon,
und er versuchte sie zu fangen. Aber die Kleine war so flink, dass sie ihm
immer wieder entwischte. Bis sie schließlich hinfiel und Daniel ihr einen
lockeren Schneeball zuwarf. Der Schneeball landete in Morgaines Haaren und
blieb dort hängen, bis sie ihn abschüttelte. Sie fing an zu kichern und rief:
„Einmal! Einmal! Einmal!!!“
Rebekka lächelte, sie wusste, dass
die Fee ‚noch einmal’ meinte – die Fee erfand seltsame Vereinfachungen, denn
sie war zu faul, um viel zu reden. Konnte es vielleicht damit zusammenhängen,
dass sie Gedanken empfangen konnte und somit das Reden überflüssig war?
Hoffentlich nicht!
Rebekka beobachtete weiter fasziniert die Gruppe im winterlichen Garten. Sie verstanden sich alle so gut, und sie fühlte sich in jeder Beziehung überflüssig. Dennoch war sie in diesem Moment ein wenig glücklich. Morgaine verhielt sich absolut normal, sie war so lieb und schien nicht zu merken, was da lief, beziehungsweise nicht lief zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater.
Vielleicht war alles gar nicht
wahr, Morgy konnte nicht in die Zukunft schauen, und Morgy konnte auch nicht in
die Köpfe von anderen Leuten sehen. Das wäre wunderbar! Dann würde sie den
Absprung schaffen, sich scheiden lassen und mit Morgaine von hier fortgehen.
Aber konnte sie das tun? Morgaine liebte ihren Vater und würde ihn bestimmt
furchtbar vermissen...
Als Rebekka schließlich das Fenster schloss und in die
Wärme ihrer kleinen privaten Bibliothek zurückehrte, spürte sie, wie die bösen
Bilder und Gedanken zurückkamen.
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KAPITEL
IX Teil 2 TRÄNEN
Die grimmige Kälte hielt immer
noch an. Es war zwar ungewöhnlich früh für eine Dauerfrostperiode, aber durch
die Klimaveränderung passierten solche Dinge immer öfter.
Als das Verkehrschaos nach den
heftigen Schneefällen überwunden war, fing die Bevölkerung an, die Kälte zu
lieben. Sowohl frisch verliebte als auch lang verheiratete Pärchen machten
spätabends romantische Wanderungen durch den knirschenden weißen Schnee.
Auch der zugefrorene See zog
massenhaft Spaziergänger an. Als Reaktion darauf tauchten mehrere Getränkebuden
auf, in denen man alkoholhaltigen und alkoholfreien Glühwein verkaufte. Zuerst
waren es nur Spaziergänger, die das zu schätzen wussten. Dann allmählich fingen
die Leute an, auf dem See Schlittschuh zu laufen. Und nachdem die Behörden den
See zum Wintersport freigegeben hatten, stürzte sich fast die ganze Bevölkerung
der Stadt und auch die der umliegenden Orte in das winterliche Vergnügen.
Mittlerweile gab es am See sogar Scheinwerfer, damit der zugefrorene See auch
gut beleuchtet war.
Und man konnte tatsächlich
Schlittschuhe ausleihen! Es gab sie in fast jeder Größe und Ausführung.
Andromeda leiht sich
Eishockey-Schlittschuhe aus.
Morgaine darf noch nicht
Schlittschuhfahren, ihr Vater hat Angst, dass sie sich weh tun könnte.
Stattdessen hat er einen Schlitten gekauft und zieht ihn hinter sich her.
Morgaine liegt mit dem Bauch auf dem Schlitten, Morgaine ist irre glücklich und
treibt Daniel an wie einen Schlittenhund.
Rebekka leiht sich
Eiskunstlaufcouplets aus, diese weißen zierlichen Dinger, die im Gegensatz zu
den Eishockey-Schlittschuhen vorne eine Art gezackten Stopper haben. Aber das
ist gar kein richtiger Stopper, sondern er dient nur dazu, sich im Eis kurz zu
verankern, bevor man sich in einen Sprung hineinschleudert...
Rebekka tanzt ganz alleine auf dem Eis. Als Kind war sie zwei Jahre lang in einem Verein, weil sie Eiskunstläuferin werden wollte. Und ausgerechnet die Mutter unterstützte diese Sache. Sie war vielleicht geblendet von der Aussicht auf Ruhm, oder sie hoffte auf Rebekkas Scheitern. Wie auch immer, Rebekka verlor die Lust, und ihre Mutter war natürlich sauer über das nutzlos ausgegebene Geld. Aber sie hatte sie es wohl nicht anders erwartet, denn im Bekanntenkreis tat sie nach dieser Pleite überaus befriedigt kund: „Das Mädchen wird es nie zu was bringen...“
Rebekka dreht anmutig ihre Kreise
und versucht tatsächlich einige kleine Sprünge. Erst den einfachen Rittberger,
der kein Problem ist und dann den doppelten, den sie mit leichtem Wackeln auch
schafft. Und Rebekka wird verwegen und versucht den einfachen Axel...
Und sie schafft ihn! Es ist ein
Wunder! Sie fühlt sich so leicht und unbeschwert wie lange nicht, die Kälte
wäscht ihr Gehirn rein, und sie denkt anders als sonst. Sie sieht das
entsetzliche Bild mit Daniel und Zirza kaum noch. Sie genießt diesen
ungewohnten Zustand und versucht noch weitere Sprünge.
Daniel schaut ihr verstohlen zu
und bewundert ihre Anmut. Diese Anmut kann man nicht erlernen, sie ist ihr wohl
angeboren.
Jede Menge Eishockeyspieler toben
auf dem Eis herum. Es handelt sich um die B-Eishockeymannschaft der Stadt, die
hier auf dem harten und rubbeligen Natureis trainiert, weil ihr Trainer das so
will. Denn auf Kunsteis in der Halle kann jeder trainieren, aber hier auf dem
See kommt es wirklich nur aufs fahrerische Können an.
Rebekka fährt ganz konzentriert,
dreht ihre eleganten Kreise und versucht ihre zaghaften Sprünge nicht zu
vermasseln...
„Rebekka läuft mit Kringelpissern!“
sagt Andromeda über Rebekkas Schlittschuhe, diese Eiskunstlaufcouplets.
„Wie meinst du das?“ fragt Daniel.
„So nennen Eishockeycracks diese
dämlichen Eiskunstlaufschuhe.“ Andromeda lächelt etwas schief, denn ihr fällt
gerade so einiges ein. Kampodia im Winter... Zugefrorene Teiche. Max, der mit
ihr... Nein, nicht dran denken!
„Kringelpisser ist gut!“ Daniel muss lachen. „Das sollte ich Rebekka erzählen.“ Es ist natürlich ein Risiko, Rebekka anzusprechen, denn meistens serviert sie ihn so schnell ab, dass er gar nicht ans Denken kommt, aber heute macht sie einen richtig ansprechbaren Eindruck. Nein, er lässt sie besser in Ruhe, er muss sich sowieso um Morgaine kümmern. Morgaine schlindert übers Eis, zuerst mit den Füßen und dann mit dem Bauch... „Du bist mir schon eine!“ sagt er beifällig zu ihr, und sie strahlt ihn an.
Andy fischt den Puck auf, den ein
Eishockeyspieler aus Versehen in ihre Richtung gespielt hat, und sie schiebt den
Puck so spielerisch leicht und elegant mit dem Schlittschuh zurück, dass die
Cracks auf sie aufmerksam werden. Man gibt ihr einen Schläger und lädt sie ein
mitzuspielen. Natürlich hoffen alle, dass sich das Mädel blamiert, denn
Eishockey ist nun mal ein Männersport.
Nicht in diesem Fall...
Kurz darauf erlebt Daniel, wie Andy mit den Jungs im wahrsten Sinne des Wortes Schlittschuh fährt.
Sie beherrscht das Rückwärtsfahren
genauso meisterhaft wie das schnelle Vorwärtsstürmen. Sie beherrscht das
Stoppen aus vollem Lauf ebenso, und sie führt den Puck so sicher, dass die
Jungs mit offenem Mund dastehen und Andromeda anglotzen. So ein hübsches Ding,
und sie kann so fantastisch gut laufen.
Und sie beherrscht auch sämtliche
Tricks. Das Hakeln, ohne dass man es sieht, den Bodycheck und das
(unauffällige) Wegreißen der Beine des Gegners. Leider gibt es hier keine
Bande, an der sie den Gegner festnageln könnte.
Man bietet ihr an, sie könne jederzeit bei ihnen mitspielen, falls es mit dem Reglement vereinbar wäre. Aber Andromeda lächelt nur und geht nicht näher darauf ein. Sie wirkt geistesabwesend.
Nachdem sie sich bei den Cracks ausgetobt hat, legt sie sich mitten aufs Eis und betrachtet erschöpft den Sternenhimmel.
Es ist mittlerweile vollkommen dunkel. Der Mond am sternenklaren Himmel zeigt sich als breite zunehmende Sichel – er wird erst in ein paar Tagen zum Vollmond werden. Das Licht der Scheinwerfer ist zwar ein wenig lästig, aber es kann nicht verhindern, dass man an diesem wolkenlosen Abend alles am Firmament erkennen kann.
Weit über ihr glitzern die
Sternbilder des späten Herbstes. Und dabei handelt es sich hauptsächlich um die
Kassiopeia, die Andromeda mit dem geflügelten Pferd Pegasus – und natürlich um
den Perseus.
Andromedas Blick saugt sich an einem bestimmten Sternbild fest, und natürlich ist es der Perseus. Ein Sternbild, das große Ähnlichkeit mit einer Giraffe hat.
Bei genauerer Betrachtung sieht man, dass die Giraffe etwas in der Hand (oder im Vorderhuf) hält, es soll das abgeschlagene Haupt der Medusa darstellen. Und tatsächlich, man erkennt ihr bedrohlich blinkendes Auge. In Wirklichkeit ist das bedrohlich blinkende Auge nur der Stern Algol, ein sogenannter Bedeckungsveränderlicher. Aber wer weiß schon, was und wie die Wirklichkeit wirklich ist...
Andromeda kennt natürlich die Sage, und während ihr Blick vom Sternbild Perseus gefesselt ist, flüstert sie leise vor sich hin: Die Haare der Medusa sind lebende Schlangen, und ihr Blick kann jeden zu Stein verwandeln. Doch Perseus hat sie schließlich bezwungen...
Er hat sie schließlich doch
bezwungen. Das wird Andromeda in diesem Augenblick zum ersten Mal klar. Er hat
sie bezwungen, die Medusa! Für sie bezwungen. Oh mein Gott! Max hat das getan.
Er hat es für sie getan!
Und Andromeda kann endlich weinen. Sie liegt mit dem Rücken auf dem Eis, Arme und Beine weit ausgestreckt, und sie weint. Sie weint aus Freude, weil sie es endlich verstanden hat. Oder aus Trauer, weil sie es solange nicht verstanden hat. Jedenfalls weint sie, und das Weinen nimmt die Last von ihrer Seele, alles fügt sich zum Rechten, die Wahrheit ist in Wirklichkeit erleichternd und wundervoll. Und sie weiß jetzt, was sie tun muss.
„Wo hast du so gut
Schlittschuhlaufen gelernt?“ fragt Daniel, der näher gekommen ist.
„Ich hatte den besten Lehrmeister
der Welt.“ Andromeda lächelt und richtet sich langsam auf. Im Licht des halben
Mondes kann man noch deutlich die Tränen auf ihren Wangen sehen.
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KAPITEL
IX Teil 3 ENTSCHEIDUNGEN
„Nein, ich verabscheue Max nicht. Ich verabscheue nur das, was er getan hat.“ sagte Andromeda ernst.
„Das ist doch das gleiche“, meinte
Rebekka aufgebracht. Rebekkas wunderbare Laune, die sie noch auf dem Eis gehabt
hatte, war weg, wahrscheinlich zerschmolzen in der Wärme des Hauses.
„Nein, ist es nicht! Überhaupt
nicht! Ich kenne Max fast so lange ich lebe, und ich weiß, wozu er fähig ist.
Oder besser gesagt, nicht fähig ist.“ Andromedas Stimme klang leidenschaftlich.
„Der Max, den ich kenne, hat ganz selten getötet. Nur wenn es nicht anders ging
und ein Tier gelitten hat. Der Max, den ich kenne, hat Schlachtfeste gehasst,
er hat sich immer davor gedrückt. Max ist zwar Landwirt, aber er wollte nie
Tiere züchten, es hätte ihm das Herz gebrochen, sie schlachten zu lassen.
Deshalb hat er sich auf den Pflanzenanbau verlegt. Ach was, ich könnte jetzt
noch viel erzählen...“
„Aber er hat dich entführt, und du
wärst fast gestorben, Andy. Du wärst nor-ma-ler-wei-se gestorben!“ Rebekkas Stimme
klang sehr eindringlich und etwas lauter als sonst. Und außerdem betonte sie
das Wort ‚normalerweise’ stakkatoartig.
„Ja, ich weiß, aber da war er fast
noch ein Kind.“
„Aber er hat es getan!“
„Ich schätze mal, Zirza hat ihm
irgendwas in den Tee getan“, sagte Andromeda. „Anders kann ich es mir nicht
erklären. Aber das ist mir mittlerweile egal...“
„Das muss ja dann schon eine
richtige Dröhnung gewesen sein.“ Rebekka lächelte spöttisch.
Daniel meinte, eingreifen zu
müssen. „Jetzt lass’ sie doch endlich in Ruhe!“ herrschte er Rebekka an. „Es
ist einzig und allein ihre Sache, ob sie ihm verzeiht oder nicht.“
„Ich will ihr doch nur klarmachen, was er da überhaupt getan hat.“ Rebekka blickte giftig an ihm vorbei.
„Er hat bestimmt eine andere
Frau.“ Andy fing fast an zu weinen. „Er kann doch jede haben! Was soll ich denn
machen, wenn er mit einer anderen Frau im Bett ist?“
„Ich glaube eigentlich nicht, dass
Max...“ Daniel vollendete den Satz nicht, sondern überlegte ein wenig, bevor er
weitersprach: „Er wird bestimmt am Boden zerstört sein. Aber falls er doch mit
einer Frau zusammen sein sollte...“ Bei diesen Worten schaute er Rebekka
vorsichtig an, aber die blickte auf einen Lichtschalter an der Wand. „Dann tut
er das nur aus Verzweiflung...“ Hoffentlich bezog sie das nicht auf ihn!
Doch, sie tat es! Rebekkas Blick
schweifte schnell vom Lichtschalter ab und konzentrierte sich auf Daniel. Es
war ein Blick voller Wut und Empörung.
Daniel fuhr irritiert fort: „Aber ich glaube nicht, dass er so etwas tut. Aber falls doch, dann schmeiß’ die Frau raus und verzeih’ ihm!“
„Seltsam, ICH glaube schon, dass
er so etwas tut!“ Rebekkas Gesichtsausdruck verströmte eisige Kälte. „Und so
etwas kann man nicht verzeihen!“
„Bitte streitet euch nicht“, sagte
Andromeda verzweifelt.
Und Daniel schwieg grollend. Es war ja nicht zum Aushalten mit dieser Frau. Es gab kein Herankommen an sie. Er war fast soweit, diese Ehe zu beenden. Das war bestimmt Rebekkas größter Wunsch. Und vielleicht wurde Morgaine durch das miese Verhältnis zwischen ihren Eltern größerer Schaden zugefügt, als wenn sie allein bei ihrer Mutter lebte. Natürlich würde es für ihn furchtbar schwer sein, die beiden gehen zu lassen, aber es fehlte wirklich nur noch ein Tropfen, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.
„Und außerdem weiß ich ja gar
nicht, wo er sich rumtreibt!“ sagte Andy gerade verzweifelt. „Keiner kann mir
sagen, wo er ist!“
„Daniel weiß bestimmt, wo er ist.“
Diese Worte waren Rebekka so herausgerutscht. Daniel hatte ihr zwar nichts von
Max erzählt, aber sie hatte durch Zufall ein Telefongespräch mitgekriegt, in
dem er einwandfrei mit Max telefonierte.
„Was! Du weißt, wo er ist?“ Andromeda war fast so
weit, Daniel vor Freude um den Hals zu fallen „Sag’ mir, wo er ist, bitte sag’
es mir!“
„Das kann ich dir nicht sagen.“
Daniel schaute gequält drein. Denn er hatte Max versprochen, seinen
Aufenthaltsort nicht zu verraten.
„Du musst es mir sagen, sonst bist
du nicht mehr mein Freund!“ drohte Andromeda ihm erbarmungslos an.
Daniel stand in regelmäßigem Kontakt mit Max, der ihm die ganze furchtbare Geschichte mittlerweile erzählt hatte. Max hatte Daniel an Andromedas Geburtstag in der Firma angerufen und sich nach ihrem Befinden erkundigt. „Es geht ihr nicht gut“, hatte Daniel gesagt. „Sie lehnt es sogar ab, ihren Geburtstag zu feiern.“
„Oh Gott!“ hatte Max niedergeschlagen gesagt, und Daniel hatte erkannt, wie hoffnungslos Max in seiner Situation war und wie die Scham sein Leben bestimmte. Daniel ahnte instinktiv, dass er Angst davor hatte, Andromeda jemals wieder zu sehen und dass er nicht entdeckt werden wollte. Aber Daniel hatte seinen Aufenthaltsort aus ihm herausgekitzelt. Und er wusste, dass Max einige Zeit an diesem Ort bleiben wollte. Es war Max egal, wo er lebte, also konnte er auch dort bleiben, wo er gerade war...
Seitdem hatte Daniel ihn ein paar
Mal angerufen und versucht, ihn umzustimmen. Er sollte mit Andy reden, es
konnte jedenfalls nicht schaden und würde vielleicht einiges aufklären. Aber
Max lehnte das rigoros ab.
Nachdem Andromeda eine halbe Stunde
genervt, getobt, geweint und gebettelt hatte, war Daniel so zermürbt, dass er
ihr sagte, wo Max sich befand. Es war ein kleines Kaff in Westfalen und gar
nicht so weit weg...
Zwei Tage später reiste Andromeda
ab.
Sie hatte Rebekka und Daniel ihr
Ehrenwort gegeben, sofort zurück zu kommen, wenn sie sich mit Max ausgesprochen
hatte, denn die beiden waren schließlich im Augenblick für sie verantwortlich.
„Diesmal wird er mich nicht abweisen“,
sagte sie zu Rebekka. „Nicht so wie in Kampodia. Diesmal muss er mich lieben.“
Rebekka war immer noch verärgert
über Andromedas Entschluss, zu Max zu fahren und mit ihm zu reden. Aber
trotzdem besorgte sie ihr die neuen revolutionären Antibabypillen, die das
Mädel von ihr haben wollte. Denn angenommen, Andy würde schwanger, dann würde
das auf sie und Daniel zurückfallen. Guter Gott!
„Ich will nämlich kein Kondom“,
hatte Andy außerdem gesagt.
„Mein Gott Andy! Du willst ihm
also tatsächlich verzeihen? Und du willst sogar mit ihm schlafen?“ Rebekka war
erschüttert.
„Nein, ich will ihm nicht verzeihen. Deshalb fahre ich nicht zu ihm.“ Andromeda hatte gelächelt. Sie hatte ungefähr so geheimnisvoll wie eine Sphinx gelächelt. „Und kannst du mich bitte in der Schule als krank melden. Es wird vielleicht ein paar Tage dauern...“
„Auch das noch!“ sagte Rebekka
daraufhin genervt. Sie log nicht gerne, aber manchmal ging es nicht anders. Ihr
Nebenjob zum Beispiel... Und da war noch ein anderes Geheimnis, doch das hatte
sie in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verdrängt...
Als Daniel am frühen Freitagabend nach Hause kam, da fühlte er sich absolut erschöpft und frustriert.
Er hatte eine Baustelle
besichtigt, auf der nichts richtig klappte, wahrscheinlich musste ein Teil des
Gebäudes wieder eingerissen werden. Was für ein Mist!
Und Daniel war noch aus einem anderen Grund stinksauer. Er hatte ein Schreiben von einer Anwaltskanzlei erhalten, worin man ihm mitteilte, dass eine gewisse Rebekka Burkhardt erwog, ihn wegen entgangener Unterhaltszahlungen zu verklagen, und das für die letzten drei Jahre. Die Summe war natürlich gewaltig. Daniel war geschockt. Wieso hatte Rebekka nicht selber mit ihm gesprochen, sondern einen Anwalt eingeschaltet? Natürlich wusste er, wie schwer sie es gehabt hatte und dass sie ein Anrecht auf das Geld besaß – aber warum so?
Außerdem war er sauer darüber,
dass Rebekka an zwei Abenden in der Woche einfach verschwand. Bis vor kurzem
hatte sie Morgaine bei Andromeda gelassen, aber die war jetzt nicht mehr da,
und sie brachte Morgaine wohl bei Sabine unter. Aber Sabine hatte entweder
keine Ahnung, wo Rebekka steckte, oder sie wollte es ihm nicht sagen. Also, wo
war Rebekka? Was trieb sie? War da vielleicht ein anderer Mann im Spiel?
Und da war noch etwas. Sein Vater,
der mit seiner zweiten Frau in Süddeutschland lebte, hatte ihn schon ein paar
Mal gefragt, wann er denn endlich Schwiegertochter und Enkelkind kennen lernen
würde. Der Besuch bei seinem Vater war unausweichlich – und er würde in einem
Zimmer mit Rebekka schlafen müssen...
Er hatte also einige Fragen an
Rebekka, und er wollte sich nicht mit irgendwelchen Ausreden abspeisen lassen.
Als er die Haustür aufschloss,
hörte er Stimmen.
Er konnte Rebekkas Stimme
erkennen, und auch die andere kam ihm vertraut vor.
Er ging langsam in das Wohnzimmer
hinein.
Sie saßen beide an der
Küchentheke, sie saßen sich gegenüber und hielten sich an den Händen gefasst.
Süß irgendwie...
Er spürte, wie sein Herz sich verkrampfte, so oder ähnlich musste es sein, wenn man einen Herzinfarkt bekam...
Dieser gottverdammte Tag war
einfach zu heftig gewesen – und er war es immer noch. Zu allem Überfluss
schauten sie sich auch noch so vertraut in die Augen.
Daniel ging langsam in Richtung
Küche und grinste die beiden an, ohne überrascht zu wirken. Er hatte es
geschafft, seinen Blutdruck und seinen Herzschlag wieder auf Normalmaß
herunterzudrücken.
„Hallo Archie“, sagte er mit
freundlicher Miene zu Archibald.
Die beiden zuckten zusammen und
fuhren auseinander.
Rebekka starrte ihn überrascht an,
und er meinte tatsächlich, ein wenig Schuldbewusstsein in ihren Augen zu sehen.
Aber das konnte auch Einbildung sein – und außerdem war es sowieso egal.
„Hallo Daniel“ sagte Archibald mit
seiner sonoren Stimme, und er stand auf, um Daniel die Hand zu schütteln.
Nach dem Händeschütteln wandte sich Daniel nun an Rebekka und sagte mit freundlicher Stimme zu ihr: „Kann ich dich mal sprechen? Es dauert nicht lange.“
Rebekka murmelte etwas Unverständliches in sich hinein und folgte Daniel widerwillig in sein Zimmer.
Dort standen sie sich gegenüber.
Er mit erhobener Augenbraue und sie mit trotzig vorgeschobenen Unterlippe.
„Ist es das, was du willst?“ fragte Daniel
schließlich.
„Was meinst du?“ fragte Rebekka unfreundlich
zurück.
„Er! Ist er das, was du willst?“
„Ich weiß nicht, was du meinst!“
„Stell’ dich nicht so blöd an.“
.Daniels Stimme war ein wenig lauter geworden. „Aber was soll’s, du kannst die
Scheidung haben. Wann immer du willst und am besten so schnell wie möglich.“
Rebekka stand da wie vom Donner
gerührt und konnte es einfach nicht fassen. Er bot ihr die Scheidung an, dieser
Dreckskerl! Erst hatte er sie betrogen und dann machte er Theater, nur weil
Archie sie getröstet hatte, getröstet hatte wegen ihm. Nein, unfassbar!
„Du lieber Himmel, das hab’ ich
doch glatt vergessen! Du brauchst die Scheidung ja gar nicht einreichen...“
„Wieso nicht?“ Rebekka war
verblüfft und ließ sich doch tatsächlich dazu herab, den Sinn seiner Worte zu
hinterfragen.
„Die Ehe ist ungültig, Es ist ganz
einfach, es gab einen Formfehler, denn unsere Geburtsurkunden waren nur Kopien.
Abgesehen davon, dass sie auch nie vollzogen wurde...“
„Unsere Ehe wurde nie vollzogen“,
murmelte Rebekka tonlos vor sich hin und dachte dabei an die Nacht nach dem
Ball und nicht an die Kopien der Geburtsurkunden. Diese Nacht hatte Folgen
gehabt, obwohl sie doch gar nicht passiert war...
„Ganz recht! Damit plärrst du mir
doch seit drei Monaten die Ohren voll, dass es so ist, verdammt noch mal! Also steh’
endlich dazu!“
Daniel hätte Rebekkas Faust
ausweichen können, aber er versuchte es nicht. Er wollte, dass sie ihn schlug,
er wollte auch, dass sie ihn traf. Er wollte, dass sie ihren Hass richtig an
ihm ausließ. Er wollte wütend auf sie sein, denn das würde es ihm leichter
machen.
Sie traf ihn voll auf die linke Wange. Und bereute es schon mitten im Schlag. Sie stand regungslos da und starrte ihn betroffen an. Sie wusste, dass er den Treffer leicht hätte verhindern können. Sie hatte damals im Eye-Q gesehen, wie er einen pöbelnden Gast hinauswarf, und seine Reaktionen waren blitzschnell gewesen. Hatte er es darauf angelegt, sich schlagen zu lassen? Aber warum? Und was würde SIE tun, wenn ER sie schlagen würde? Oh mein Gott! Das war das Ende.
Daniel stand still da und schaute
sie an. Und Rebekka konnte nicht erkennen, was in seinen Augen stand. Was würde
er tun? Würde er sie schlagen? Das wäre vielleicht das Beste. Dann wären sie
nämlich quitt. Zumindest in dieser Beziehung.
Daniel trat einen Schritt näher,
und jetzt sahen seine gelbbraunen Augen bedrohlich aus. Bitte schlag’ mich,
schlag’ mich doch, dachte Rebekka verzweifelt, dann ist es vielleicht wieder
wie vorher.
Aber er tat es nicht.
Stattdessen berührte er mit der
Hand zart ihren Mund und beugte sich dann vor, um sie zu küssen. Es war kein
leidenschaftlicher Kuss, sondern ein sanfter, es war nur eine leichte Berührung
und so zart wie der Schlag eines Schmetterlingsflügels. Und dennoch stand die
Zeit still.
Ihr Gehirn sagte: Nein! Wie
abscheulich! Er ist ekelhaft, und er ist untreu... Lass’ ihn gehen. Er ist
schlecht, er ist nicht gut für dich!
Aber alles andere sagte: Ja!
Ihre Lippen sagen: Ja! Küsse ihn!
Ihre Arme sagen: Ja! Umarme ihn!
Ihre Hände sagten: Ja! Streichele sein Gesicht!
Ihre Beine sagten: Ja! Wir werden
schwach bei ihm...
Dann auf einmal war es vorbei.
Seine Lippen waren nicht mehr auf ihren Lippen, und er stand ihr kühl
gegenüber.
„Jetzt sind wir quitt“, sagte er schließlich, und Rebekka wunderte sich darüber, dass er dieses Wort benutzte, sie hatte vorhin dasselbe gedacht. Sind wir jetzt quitt, fragte sie sich. Nur ihr Gehirn arbeitete noch. Ihre Arme hingen leblos an ihr herunter, und auch alles andere an ihr fühlte sich an, als wäre es gelähmt oder tot.
Sie stand immer noch bewegungslos
da, als Daniel das Haus längst verlassen hatte. Und sie stand immer noch da,
als Archibald aus der Küche kam, um sich nach dem Stand der Dinge zu
erkundigen.
Archie war unter anderem zu
Besuch, um zu erfahren, was seine Tochter so trieb. Rebekka hatte zugegeben
müssen, dass Andy nicht da war und dass sie Max besuchte. Das mit der Pille
wollte sie Archie nicht erzählen. Archibald schien nicht betrübt über Andys
Verhalten zu sein. Ganz im Gegenteil, er freute sich sehr darüber.
Rebekka überwand mühsam ihren gelähmten Zustand und lächelte gequält. Sie wollte jetzt nur noch alleine sein. Sie konnte Archie nicht ertragen, sie konnte ihre beste Freundin nicht ertragen. Und ihre Tochter sollte sie nicht so sehen.
„Kannst du Morgaine mit zu Sabine
nehmen? Ich hab’ es schon mit ihr ausgemacht.“ Heute war nämlich der Tag der
Tanke. Aber ob sie da überhaupt hingehen sollte? Es war ja alles so sinnlos.
„Das ist kein Problem“, sagte
Archie, der bei Sabine wohnte. Archie wollte ein paar Tage mit ihr verbringen,
denn er war sehr verliebt in sie. Seine Scheidung befand sich in der Mache, und
als de facto fast freier Mann konnte er sich das jetzt leisten.
„Es tut mir leid, ich weiß, du
willst lieber mit Sabine allein sein...“ sagte Rebekka mit steifen Lippen.
„Rebekka, ich hab’ dich vom ersten Augenblick an gemocht, und bei Claudia war es ähnlich, aber viel ausgeprägter. Sie hat dich als Tochter angesehen. Ich habe es natürlich nicht verstanden, aber ich weiß jetzt endlich, wieso...“
„Nicht jetzt! Bitte Archie, ich kann jetzt nicht,
ich muss allein sein!“ Rebekkas Stimme zitterte. „Wirst du Morgaine mitnehmen,
ich will nicht, dass sie mich so erlebt.“
„Natürlich, Rebekka“, sagte
Archibald, er sah sie besorgt an, ging aber die Treppe zum Souterrain hinunter,
um Morgaine mitzuteilen, dass er sie zu Sabine mitnehmen würde.
Morgaine, die gerade ein Puzzle zusammen setzte, war ein flexibles kleines Mädchen. Sie hatte Onkel Archie und Mammi allein gelassen, weil die sich wohl Wichtiges zu erzählen hatten. Sie nickte wissend und griff sich den kleinen Rucksack, der schon mit den wichtigsten Sachen gepackt war.
Dann lief sie hoch ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter mit gesenktem Kopf geistesabwesend auf dem Ledersofa saß – fiel ihr um den Hals und sagte eindringlich: „Sei nicht traurig, Mammi, wir fahren doch bald nach Kampodia.“
„Ja, das werden wir, Morgy.“ Rebekka drückte Morgaine an sich und vergrub das Gesicht in ihren lockigen Haaren. Es tat so gut, den kleinen Körper ihrer Tochter zu spüren. Aber sie ließ Morgy schnell los und versuchte, nicht allzu trostlos auszusehen.
„Wir feiern da Hochzeit, und bald
bekomme ich ein Brüderchen!“
„Du kommst vielleicht auf Sachen“, Rebekka lächelte gequält und wandte sich ab, um ihre feucht werdenden Augen zu verbergen. Sie wusste natürlich, dass Morgaine sich mehr als alles andere einen kleinen Bruder wünschte. Das war natürlich völlig unmöglich, jetzt sowieso. Aber vielleicht war es ein Zeichen dafür, dass Morgy doch nicht in die Zukunft sehen konnte. Wenigstens ein Gutes...
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KAPITEL
IX Teil 4 KONTROLLVERLUST...
Morgaine und Archie haben das Haus verlassen, und Rebekka kann endlich ihrem Frust freien Lauf lassen. Es ist eine Sache, Daniel und seine Affären zu verabscheuen, aber es ist eine andere Sache, von ihm verlassen zu werden. Er will nicht mehr mit ihr verheiratet sein.
Die geplante Reise nach Kampodia, auf die sie sich so sehr gefreut hat, reduziert sich zu einem Nichts. Er wird bei ihrer Rückkehr nicht da sein, und er wird nicht mehr im Hintergrund auf sie warten. Aber das hat er sowieso nie getan. Kein einziges Mal hat er zu ihr gesagt, dass sie ihm etwas bedeutet, das hat sie sich alles nur eingebildet. Er hat sie wegen Morgaine geheiratet, und Morgaine ist es, auf die er warten wird. Jedenfalls hat sie nun endlich kapiert, dass sie keine Rolle in seinem Leben spielt. Gar keine! Sie ist eben nicht anziehend genug, sie ist zu verschlossen, zu misstrauisch, zu abweisend und zu sehr in ihren eigenen Stricken gefangen.
Was hat Claudia gesagt? Irgendwas mit Kontrolle:
Du blockst alles ab, was dir
unangenehm werden könnte. Vielleicht Gefühle, durch die du die Kontrolle
verlieren könntest. Du hast Angst davor, verletzt zu werden.
Das Gespräch ging noch weiter, es
war die Rede von verschiedenen Persönlichkeiten. Claudia meinte, dass sie auch
etwas vom Wesen ihrer Mutter übernommen hätte, nämlich die duldsame Frau, die
sich alles von ihrem Mann gefallen lässt. Rebekka wurde daraufhin recht
kleinlaut, denn sie hatte sich von ihrem Exfreund tatsächlich einiges gefallen
lassen, nicht aus Liebe, sondern aus Schuldbewusstsein, weil sie ihn nicht
liebte. Verrückt, aber wahr...
Rebekka hat seitdem viel über ihre Persönlichkeiten
nachgegrübelt. Und auch über den Abscheu, den sie für Daniel empfindet. Sie
kann diesen Abscheu nicht mehr ertragen! Sie will eine normale Person sein.
Eine Frau, die ihren Mann lieben kann, ohne sich knechten zu lassen und ohne
ihn zu knechten. Manchmal denkt sie, dass sie ohne den Abscheu durchaus in der
Lage wäre, Daniel zu lieben, ohne wenn und aber. Aber es geht nicht, es geht
einfach nicht... Und jetzt ist es sowieso vorbei.
Sie findet im Wohnzimmer eine angebrochene Flasche Brandy. Sie gießt sich ein großes Glas davon ein und trinkt es langsam aus. Der Alkohol schmeckt ihr nicht, aber sie trinkt ihn trotzdem, denn er wird sie betäuben.
Heute ist ein glücklicher Tag. Sie ist ihn los, diesen ‚Ehemann’, der nichts mit ihr zu tun haben wollte, sondern stattdessen mit dieser Schlampe rumgemacht hat. Sie ist ihn endlich los!
Sie gießt sich noch ein Glas von
dem Brandy ein. Sie ist glücklich. Sie muss glücklich sein, denn er ist weg.
Endlich weg!
Bis sie schließlich merkt, dass
sie auf seine Rückkehr wartet. Aber er kommt nicht zurück. Er ist weg. Morgaine
wird ohne ihn sehr traurig sein. Das ist das Schlimmste an der Sache. Sie
selber zählt nicht, und sie wird es verkraften. Aber Morgaine nicht... Und da
ist noch diese andere Sache, sie muss zu einer Beratungsstelle gehen, muss sich
erkundigen, Daniel würde es bestimmt nicht wollen, und sie selber würde es
immer an diese Nacht erinnern.
Er wird doch wiederkommen? Auch wenn sie ihn verabscheut, kann sie ihn nicht entbehren. Der Gedanke an ein Leben ohne ihn bricht ihr fast das Herz. Er ist so stark, er hat sie geküsst, statt zurück zu schlagen. Warum? Sie fährt mit den Fingern über ihre Lippen, da wo seine Lippen sie berührt haben. Warum hat er das getan? Sie starrt auf das halbleere Glas und schüttelt den Kopf. Sie bringt es in die Küche und stellt es auf die Arbeitsplatte. Sie hat genug getrunken.
Sie kramt in der Abstellkammer herum, findet ihre Schlittschuhe – sie hat sich mittlerweile welche gekauft, weil die ausgeliehenen nie richtig passten – zieht sich eine warme schwarze Jacke über ihren Pullover und steckt sich die Haustürschlüssel in die Hosentasche.
Sie wirft sich die ‚Kringelpisser’ über die Schulter und wandert zum zugefrorenen See, um dort ein paar Sprünge zu üben. Denn jetzt ist Ablenkung angesagt. Ablenkung ist gut. Ablenkung hat sie immer in den Krisen ihres Lebens abgelenkt. Eigentlich waren das gar keine Krisen, das waren nur Kinkerlitzchen. Und damals, als die Sache mit Michael schief ging, da fühlte sie nur in ihrer Eitelkeit gekränkt. Als duldsam leidende Frau... Genau!
Es ist schon spät am Abend. Die Stände, an denen sonst Glühwein verkauft wird, haben geschlossen, und auch die Scheinwerfer sind nicht mehr in Betrieb. Der volle Mond gibt aber genug Licht.
Der zugefrorene See liegt so friedlich
und menschenverlassen vor ihr, dass alle schlechte Gedanken von ihr weichen.
Kälte ist gut für sie, das spürt Rebekka instinktiv. Kälte bringt das Bild von
Daniel und Zirza zum Schweigen. Kälte bringt ihren Ekel zum Schweigen. Kälte
ist gut. Aber Daniel ist weg. Nicht dran denken! Ablenken...
Am Ufer des zugefrorenen Sees zieht Rebekka sich die Stiefel aus und lässt sie in einem Gebüsch liegen. Sie schnürt die Schlittschuhe fest und fängt zaghaft an, ein paar Kreise rückwärts zu laufen. Das Eis hat heute freundlicherweise einen dünnen Wasserfilm, der die Kufen reibungslos gleiten lässt.
Der Brandy fließt warm in ihren Adern. Sie fängt an, kompliziertere Schritte zu üben. Nach und nach. Und als nichts davon schief geht, beginnt sie mit den leichten Sprüngen. Der Rittberger als erstes, der ist nicht schwer – und danach probiert sie den Axel, den einzigen Vorwärtssprung im Eiskunstlauf, meistens setzt man sich dabei auf den Hintern, denn der einfache Axel ist, wie Rebekka vage denkt, nicht einfach, sondern anderthalbfach. Es handelt sich also um einen sehr schwierigen Sprung. Aber für sie ist er heute kein Problem, und das ist einfach irre!
Rebekka ist so fantastisch gut drauf mit dem Brandy
in ihren Adern und der Kälte, die ihre schlimmen Gedanken zum Schweigen bringt,
dass sie kein Risiko scheut. Der Doppelaxel, der Königssprung im Eiskunstlauf,
der ist die Herausforderung! Natürlich hat sie ihn noch nie gesprungen, aber
why eigentlich not?
Sie nähert sich also dem Sprung mit einigen
rückwärts gefahrenen Schleifen, um den richtigen Schwung zu bekommen. Sie
erreicht die optimale Geschwindigkeit und wirft sich dann nach vorne herum. Sie
macht ein paar kleine schnelle Schritte, um das Tempo zu erhöhen – und schraubt
sich in die Luft, um ihn zu springen. Den Angstsprung, den die größten Könner
des Eiskunstlaufs fürchten und auch schon vermasselt haben.
Rebekka ist das egal. Sie geht auf
volles Risiko. Und der Sprung wird ihr gelingen. Sie spürt es schon in der
Luft. Die Drehung ist vollkommen, und sie wird perfekt mit dem rechten Fuß
aufsetzen.
Die Drehung ist tatsächlich vollkommen, nur... wie der Teufel es so will, befindet sich gerade ein Hotspot unter dem Eis und hat es recht mürbe gemacht... Oder es handelt sich um eine warme Strömung... Die dritte und wahrscheinlichste Möglichkeit ist: Der See beginnt bei steigenden Außentemperaturen allmählich wieder aufzutauen...
Rebekka glückt der Doppelaxel.
Doch sie hat Pech, denn genau an dieser Stelle beginnt eine Pfütze aus
Schmelzwasser, die zwar nicht sehr tief, aber dafür umso größer ist.
Rebekkas rechter Fuß landet nicht
wie geplant geradlinig auf dem Eis, sondern rutscht zur Seite weg. Reißt ihr
Bein mit. Das andere Bein kann den Sturz nicht auffangen, hängt in der Luft.
Und sie fällt nach hinten. Unaufhaltsam.
Rebekka kann noch einen Augenblick
darüber nachdenken, wieso der Sternenhimmel an ihr vorbeirauscht.
Dann macht etwas KLOCK.
Und dann fühlt sie gar nichts
mehr.