KAPITEL VI – Teil 1 STURZ
Rebekka zäumte das
Doppelpony auf, unter den Sattel kam eine Decke, damit das Pferdchen nicht wund
auf dem Rücken wurde, und dann zog sie den Sattelgurt kräftig an. Es klappte alles
wunderbar, Pronny war sehr geduldig und Rebekka sehr behutsam.
„Na, dann wollen wir
mal...“, sie dirigierte das Pferdchen rückwärts aus der Box und marschierte mit
ihm in Richtung Reithalle, die im Moment wunderbar leer war.
Sie stieg ohne Mühe auf
und fing an, Pronny langsam im Schritt gehen zu lassen, sie versuchte ihn
gleichmäßig mit ihrem Gewicht anzutreiben und nebenbei die Zügel zu verkürzen,
damit er locker wurde und diesen erhabenen Gang bekam. Es schien zu klappen.
Sie erhöhte das Tempo, klopfte dann mit beiden Beinen gleichzeitig am Bauch des
Pferdes an, und tatsächlich fiel Pronny in einen recht gleichmäßigen Trab.
Aus den Augenwinkeln
sah sie, dass Daniel in die Reithalle gekommen war. Er hatte Morgaine bei sich,
und hinter den beiden erschien Claudia. Was für eine seltsame Allianz.
Daniel lächelte
Rebekka an, und sie kam sofort ein bisschen aus dem Tritt. Der Trab wurde
unruhiger, und sie konnte sich auf einmal nicht mehr richtig konzentrieren.
Daniel hielt Morgaine
hoch, damit sie ihrer Mutter beim Reiten zuschauen konnte, und die beiden
grinsten sich gegenseitig in vollstem Einverständnis an. Zwischendurch drehte
sich Morgaine öfter nach Claudia um, um sie auch anzugrinsen. Eigentlich hatte
Morgaine ja zu dem weißen Ziegenbock Kalybos gehen wollen, der sie überaus
faszinierte. Aber hier war es auch ganz nett. Mammi übte alleine mit Pronny!
Das war’s dann wohl
mit dem Alleinüben, dachte Rebekka und verlor immer mehr an Tempo, das heißt,
das Doppelpony verlor immer mehr an Tempo.
„Nimm deinen
Hintern“, rief Daniel ihr zu. Er rief ihr das natürlich ziemlich leise zu, um
das Pony Pronny nicht zu irritieren.
„Halt doch die
Klappe!“ zischte Rebekka in sich hinein.
„Hintern vor!“ sagte
Morgaine energisch. Morgaine war wirklich ein Naturtalent im Reiten, wie es
schien. Zumindest in der Theorie.
„Hörst du, sogar die
Fee kann es!“ sagte Daniel anerkennend.
Das war die neueste
Marotte von Daniel, dass er Morgaine ‚Fee’ nannte. Wie kam er darauf? Und wieso
hatte sie eigentlich diesen seltsamen Namen ausgesucht? Aufgrund der Sage von
König Artus oder einfach nur so? Sie wusste es nicht mehr, es war wohl eine
gefühlsmäßige Eingebung gewesen, und die zuständige Behörde hatte den Namen
akzeptiert.
„Schieb’ ihn mit dem
Hintern an, Mammi!“, forderte Morgaine.
„Hast du das gehört?“
Daniel musste sich das Lachen verkneifen, er genoss er sichtlich, Rebekka zu
verunsichern. „Morgaine hat es kapiert. Wenn sie ein noch etwas kleineres Pferd
hätten, würde ich Morgaine drauf setzen...“
„Ich glaube, hier
stinkt es nach Bier, du Exkneipenwirt!“, sagte Rebekka giftig. „So klein ist
Pronny gar nicht“, murmelte sie in sich hinein und versuchte, diesen lästigen
Typen und ihre lästige kleine Tochter einfach zu ignorieren.
„Frauen sollen ja
angeblich mehr Gefühl im Hintern haben als Männer“. Daniel konnte einfach nicht
aufhören, sie zu veräppeln.
„Willst du damit
behaupten, du hättest KEIN Gefühl im Hintern?“ Hilfe, was redete sie da? Am
besten Klappe halten, sich zusammen reißen, Beine fest anklammern – und einfach
reiten. Und tatsächlich fiel Pronny in einen leichten Trab. Sie hatte es
kapiert, es lief wie geschmiert, ohne dass sie viel nachdenken musste. Na also!
Die Pferde kapierten es ja auch, und sie war ja wohl nicht blöder als ein
Pferd.
„Weiß nicht“,
beantwortete Daniel gerade ihre Frage. „Was meinst du? Du müsstest es doch
wissen.“ Er sah hinterhältig fies dabei aus.
Mist, wieder
abgelenkt, kein Trab, sondern Schritt. Wie langweilig! Sie ließ Pronny ein
wenig schneller gehen und klopfte mit dem Fuß an seine hintere linke Seite an.
Tatsächlich rumpelte Pronny sich daraufhin in einen bequemen Galopp hinein.
„Du bist echt gut!“
Daniels Stimme klang nun bewundernd.
Galoppieren war
eigentlich das Beste am Reiten, und sie trieb Pronny noch ein wenig mehr an. In
der Kurve merkte sie dann, dass etwas nicht stimmte. Der Sattel schien locker
zu sein. Vielleicht hatte Pronny vor dem Satteln tief eingeatmet und dadurch
seinen Bauch aufgeblasen. Das ging Rebekka durch den Kopf, Andromeda hatte sie
bei der ersten Reitstunde davor gewarnt. Nur wie konnte man Pronny jetzt
schnell abbremsen, ohne dass viel passierte?
Pronny buckelte
seinen Rücken unwillig und tänzelte wild in der Spur umher. Sonst war er doch
so ruhig und gelassen. Während Rebekka das überlegte, hörte sie ein beunruhigendes
Geräusch, es war, als ob etwas reißen würde, es gab einen Ruck, irgend etwas
lockerte sich, und wie in Zeitlupe rutschte sie vom Doppelpony. Sie ließ die
Zügel los, zog geistesgegenwärtig die Füße aus den Steigbügeln – stürzte
unaufhaltsam gegen die Bande, und dabei hörte sie einen dumpfen Knall.
Dann lag sie in der
Streu und konnte an nichts mehr denken. Ihr Gehirn war absolut leer.
Bis sich ein Gesicht
über sie beugte.
„Tut dir irgendwas
weh?“ Daniels Stimme klang verschwommen, aber das konnte auch an der Akustik in
der Reithalle liegen.
„Nein, nein“, sagte
sie mühsam und richtete sich auf. Dabei merkte sie, dass ihr doch etwas wehtat,
nämlich die Schulter.
„Da ist was gerissen,
ich bin nicht runtergefallen...“, Sie versuchte aufzustehen, aber Daniel
drückte sie auf den Boden zurück.
„Nicht bewegen!“
Seine Stimme klang bestimmend.
Wieso bestimmend, das
dachte Rebekka wie durch einen leichten Nebel hindurch. Wieso sind Stimmen
bestimmend? Liegt es an der Lautstärke oder an der Ausdruckskraft? Oder an dem,
der die Stimme hat? Stimmen bestimmen, seltsam...
„Ich habe nichts!“
sagte sie und blieb trotzdem liegen. Es war schön, dass er sich um sie sorgte,
und die Schulter tat wirklich weh. Sie sah, dass Claudia neben ihm stand und mit
einem aufgelösten Gesichtsausdruck auf sie herab blickte. Neben ihr tauchte
Morgaine auf, und sie weinte. Nein, sie wollte nicht, dass Morgaine weinte. „Es
ist nichts“, sagte sie. „Es tut nur ein bisschen weh. Hab’ mir bestimmt nur die
Schulter geprellt und nicht den Hals gebrochen.“
„Gut, dann hebe ich
dich jetzt auf.“
„Ach du lieber
Himmel. Nein, lass’ das!“ Rebekka machte eine abwehrende Bewegung mit dem
linken Arm, der nicht weh tat und stand mühsam auf. Es schien wirklich nichts
gebrochen zu sein, und sie war auch nicht querschnittsgelähmt. Nur die rechte
Schulter tat höllisch weh. Dann urplötzlich wurde ihr schlecht. Vor ihren Augen
tanzten giftiggelbe und neongrüne Flecken, das Wasser lief ihr im Mund
zusammen, und sie dachte, wieso läuft mir das Wasser im Mund zusammen, ich hab’
doch gar keinen Appetit. Und sie hielt sich an Daniel fest.
Der hatte seinen
Zivildienst bei den Johannitern abgeleistet und wusste sofort, dass es sich um
einen Schock handelte. Er stützte sie und führte sie schnell aus der Reithalle
hinaus. Vermutlich würde sie gleich kotzen, das war normal, aber sie tat es
nicht. Sie klammerte sich nur an ihn, hing praktisch in seiner Achselhöhle und
war irgendwie weggetreten.
Rebekka wankte an
seiner Seite, er hielt sie fest, und sein Körper war so vertraut, obwohl sie
doch nur einmal miteinander... Sie schmiegte sich an ihn, spürte seine Muskeln,
und sie roch ihn sogar, er roch überaus angenehm, auch sein Schweiß hatte
damals gut gerochen und seine Säfte auch... Rebekka stöhnte auf, und Daniel zog
sie vorsichtig enger an sich, es war irgendwie fürsorglich.
Fürsorglich?
Automatisch musste sie an eine Geburtstagsfeier denken. Marissa war auch da,
später kam Daniel, um sie abzuholen, er lud ihr Fahrrad auf sein Auto, denn es
konnte der Dame ja nicht zugemutet werden, die achthundert Meter mit dem
Fahrrad nach Hause zu fahren. Später sprach die Gastgeberin über Marissas Geiz,
erzählte Dinge aus dem gemeinsamen Urlaub und regte sich über Daniels
Gutmütigkeit und Fürsorge auf. Der Abend war gerettet...
Fürsorglich! Rebekka
schüttelt Daniels Arm ab. „Ich kann schon alleine gehen. Ich kann auch alleine
Fahrrad fahren!“
Daniel starrt sie
verständnislos an, bis auf einmal ein Licht des Erinnerns in seinen Augen
aufglimmt. Aber er erinnert sich nicht an diesen Abend, er erinnert sich an
einen späteren Morgen. Auch er hat seine Erinnerungen, und die sind auch nicht
besonders nett...
„Was ist mit Pronny?“
Rebekka hat sich mittlerweile beruhigt.
„Der neue Stallknecht
hat ihn in seine Box gebracht“, sagt Daniel halb in Gedanken versunken, denn er
muss immer noch an diesen Morgen denken. Es war der Morgen nach der Nacht mit
Rebekka.
„Ein neuer
Stallknecht? Den kenne ich ja gar nicht.“
„Stimmt, ich habe ihn
auch zum erstenmal gesehen.“
„Und Morgaine? Wo ist
Morgaine?“
„Sie ist bei Claudia.
Sie wollten zu den Fohlen gehen.“
„Das ist gut, ich
will nicht, dass sie mich so sieht.“
Der Arzt, es ist ein
älterer Mann, der in Brunswick praktiziert, stellt bei Rebekka eine
Schulterprellung fest. Er gibt ihr ein Mittel gegen die Schmerzen und legt ihr
eine Kältekompresse an. Sie soll sich so wenig wie möglich bewegen, dann würde
es nach ein paar Tagen besser sein.
In der Zwischenzeit
ist es draußen dunkel geworden. Es liegt an dem dicken Gewölk, das den Himmel
mittlerweile fast vollkommen bedeckt.
Rebekka hat sich auf
ihr Bett gelegt, und Daniel sitzt neben ihr. Er hat eine Lampe angemacht, weil
es finster im Zimmer ist. Er nimmt ihre Hand und berührt sie mit den Lippen.
„Wo ist Morgaine
eigentlich?“, fragt Rebekka ihn. Sie ist froh, dass es trotz der Lampe nicht
sehr hell im Zimmer ist, denn sie fühlt ihr Gesicht heiß werden vor
Verlegenheit.
„Ich weiß es nicht,
aber sie ist bestimmt noch bei Claudia.“
„Ich möchte sie
sehen.“ Rebekkas Stimme klingt kläglich.
Erst will sie nicht,
dass Morgaine sie sieht und dann doch? Aber jetzt fällt es auch Daniel auf,
dass er von Morgaine seit Stunden nichts mehr gehört und gesehen hat. Er lässt
Rebekkas Hand los, murmelt etwas vor sich hin und geht aus dem Zimmer. Rebekka
schaut ihm verstört hinterher.
Morgaine ist nicht
bei Claudia, sie ist auch nicht bei Archie, und sie ist auch nicht in der Küche
bei Tante Bernadette. Er geht in den Gemeinschaftsraum, findet dort Sammy und
Biggi und fragt sie nach Morgaine. Sie wissen nichts.
Er läuft hastig zur
Dorfkneipe und fragt die Wirtin Marianne, ob sie Morgaine gesehen hat oder
einen ihrer Freunde. Aber die Maid hat niemanden gesehen und schüttelt besorgt
den vogelartigen Kopf mit der runden Brille.
Morgaine ist
verschwunden. Er hasst sich dafür. Warum ist es ihm nicht früher aufgefallen?
Was kann ihr passiert sein? Morgaine hat keine Feinde hier, und außerdem hält
sie sich von Leuten fern, die ihr nicht gefallen, sie hat bestimmt das Gefühl
oder das Wissen dafür, wenn jemand ihr Übles will.
Aber was ist, wenn
einfach so ein Arschloch daherkommt, so ein Kinderschänder und sie irgendwohin
lockt. Aber das würde sie spüren. Aber wenn es mit Gewalt wäre? Daniel fühlt
eine Art Lähmung an sich hochsteigen, die sich langsam aber sicher in Entsetzen
verwandelt. Er denkt an die vielen Fälle, in denen Kinder einfach verschwunden
sind und hinterher... Nein, nein, nein, es kann nicht sei, und es darf nicht
sein! Nicht Morgaine, dieses liebe ungewöhnliche Kind! Aber wo zum Teufel
steckt sie? Claudia hat sie zuletzt im Stall gesehen, als sie Kalybos besuchen
wollte, das war, nachdem sie gemeinsam bei den Fohlen waren. Auf einmal war sie
weg, und Claudia hat gedacht, sie wäre ins Haus gelaufen, um ihre Mutter zu
sehen. Archie weiß gar nichts, er ist erst vor einer Stunde aus der Brauerei
zurückgekommen. Und bei Tante Bernadette war sie am Vormittag, danach nicht
mehr.
Er steht eine Weile
vor Rebekkas Wohnung, bevor er hineingeht. Er hat nämlich Angst, es ihr zu
sagen.
Daniel findet Archie an
ihrem Bett vor. Archie hält ihre Hand und streichelt ihr Gesicht, während sie
ihn mit weit aufgerissenen Augen anschaut.
Archie hat es ihr
also schon gesagt, eigentlich hätte er es Rebekka sagen müssen, denn Morgaine
ist seine Tochter – ob nun biologisch oder vom Gefühl her – sie nennt ihn
manchmal Papa, und das macht ihn stolz.
Aber er vergisst
schnell seine Eifersucht und geht zu Claudia Mansell. Er fragt sie, ob es
geheime Orte gibt, an denen die Kinder gerne spielen, Gänge, in die man
kriechen kann, Schuppen, die verlassen sind, Gartenlauben und so weiter.
Claudia fällt einiges dazu ein, und Daniel macht sich auf die Suche.
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KAPITEL VI – Teil 2 NACHT und TOTE
Rebekka hält es nicht
mehr im Bett, sie streift sich einen Pullover über und geht nach unten. Sie
kann es immer noch nicht begreifen.
Sie starrt durch die
geöffnete Terrassentür nach draußen. „Morgaine, wo bist du?“, ruft sie in die
Dunkelheit. Und als keine Antwort kommt, geht sie nervös nach vorne zur
Eingangstür und blickt dort auf den Hof, der unvollkommen von einer
Straßenlaterne erhellt wird. Sie sieht bleich aus unter der normalerweise
leicht braun getönten Haut. Sie ist still geworden, lauscht irgendwohin,
lauscht in sich hinein. Aber sie hört nichts, alles ist stumm, Morgaine ist
nicht da, und sie meldet sich nicht.
Sie geht in den
Stall, macht das Licht an und späht in die Gänge hinein. Niemand ist da,
zumindest kein Mensch. Die Pferde rascheln leise in ihren Boxen. Kalybos, der
weiße Ziegenbock schläft neben seinem Freund, dem wild gescheckten Mustang
Zagato, der immer noch nicht auf der Sommerweide ist. Zagato selber steht
unbeweglich wie eine Statue in seiner Box und träumt vor sich hin. Vielleicht
träumt er von der Prärie. Auch die Schweine schlafen friedlich, und sie
schnarchen tatsächlich. Aber wo ist Morgaine? Rebekkas Augen schmerzen, sie
wollen weinen, aber sie können es nicht. Rebekka lässt sie nicht weinen. Es
gibt keinen Grund zum Weinen. Morgaine wird gefunden werden.
Sie geht aus dem
Stall und läuft in die Finsternis hinein, die sich auf dem Fußweg neben dem Gut
niedergelassen hat. Wie anders ist es jetzt als am ersten Tag, als Morgaine
fröhlich mit Kuhscheiße spielen wollte. Jetzt ist es finster, in den Büschen
knistert und raschelt es, in den Bäumen rauscht es unheimlich, und Rebekka
beschleicht ein Gefühl der Angst vor der Natur. Ist das normal? Könnte die
Natur einem feindlich gesinnt sein? Oder sind das nur die Menschen, vor denen
man Angst haben muss?
„Morgaine, wo bist
du“, ruft sie, und als keine Antwort kommt, geht sie weiter, bis sie
schließlich die Brücke erreicht. Unter ihr rauscht der Mühlbach. Sie beugt sich
über die steinerne Brüstung und versucht im Dunkeln, den Mittleren Teich zu
durchschauen, der undurchdringlich schwarz vor ihr liegt. Teiche sind
entsetzlich, wer weiß, was alles auf ihrem vermoderten Grund liegt.
Wieder wollen
Rebekkas Augen anfangen zu weinen, und wieder sagt Rebekka nein. Denn Morgaine
wird gefunden werden.
Über die Dorfstraße
läuft sie ganz langsam in Richtung Herrenhaus zurück. Wenn sie Licht in einem
der Häuser sieht, schellt sie dort an und fragt die verwunderten Leute, ob sie
Morgaine gesehen hätten. Aber alle schütteln den Kopf. Alle mögen das kleine
Mädchen. Sie war schon in jedem Schweinestall, kannte alle Kühe und Ziegen und
sogar die Hühner. Aber heute hat sie keiner gesehen...
Rebekka erreicht die
Strulle, zur Linken ist noch ein Haus, wo sie nach Morgaine fragen kann, aber
auch dort weiß man nichts.
Sie schaut auf den
Hof des Gutes. Gerade ist der Mond zwischen den Wolken erschienen, und Rebekka
nimmt das als gutes Zeichen. Denn Morgaine wird gefunden werden.
Sie geht entschlossen
ins Herrenhaus, wo sich mittlerweile alle versammelt haben, Archie, Claudia, Tante
Bernadette, sogar Biggi und Sammy sind da, und ausnahmsweise streiten sie sich
nicht. Daniel ist nicht da, wo steckt er? Rebekka tritt an die Terrassentür und
blickt in die mittlerweile undurchschaubare Finsternis. Der Mond ist nicht mehr
zu sehen, die Wolken haben das Regiment wieder übernommen.
Sie hat noch eine
Idee, sie ist zwar abenteuerlich, aber es könnte sein, man greift ja nach jedem
Strohhalm...
„Habt ihr im
Mausoleum schon nachgeschaut?“
„Nein“, sagt Archie.
„Da kann man normalerweise gar nicht rein, aber wir werden trotzdem nachsehen.“
Sie gehen in den dunklen Garten hinaus. Der
Garten hat sich in ein Schreckgespenst aus nächtlichen Schatten verwandelt, ab
und zu erscheint der Mond schemenhaft am Himmel, und vor seinem Licht taucht
dann wie eine unheimliche schwarzgezackte Silhouette das Mausoleum auf.
Auch Andromeda taucht
auf einmal neben Rebekka auf. Sie ist den ganzen Tag unterwegs gewesen, sie hat
versucht, sich abzulenken und sich zu amüsieren, weil Max immer noch nicht da ist.
Und eben hat sie es von Maid Maryann erfahren, das mit Morgaine.
„Es ist nicht
unheimlich“, sagt sie zu Rebekka. „Als Kinder haben wir immer durch die
vergitterten Fenster hineingeschaut, da sind zwar Särge, aber eigentlich ist es
nicht unheimlich...“
„Hör’ mir bloß auf
mit dem Quatsch von den tröstlichen Ahnen!“ Rebekka schaut sie mit zitternden
Mundwinkeln an.
„Die sind schon okay,
die Ahnen.“ Andromeda legt liebevoll ihren Arm um Rebekkas Schulter.
Rebekka zuckt ein
wenig zusammen, die Schulter schmerzt, doch das ist ihr egal. „Du glaubst auch
daran?“
„Ja“, sagt Andromeda
schlicht.
Mittlerweile hat
Archie einen Schlüssel in das Türschloss gesteckt, und die Tür öffnet sich nach
einigem Widerstand rostig knarrend. Archibald leuchtet mit einer Taschenlampe
in die Gruft hinein. Wahrscheinlich gibt es kein elektrisches Licht. Wozu auch?
Aber dort ist nichts
außer großen steinernen Sarkophagen. Archie leuchtet in jede Ecke, in dem
matten Schein der Taschenlampe sieht man kleinere Särge und auch ganz winzige.
Seltsamerweise wirken sie in ihrer Finsternis, die nur spärlich von der
Taschenlampe erhellt wird, überhaupt nicht unheimlich. Eigentlich verströmen
sie Trost. Särge verströmen Trost? Wahnvorstellungen, denkt Rebekka. Vermutlich
dreht sie gerade durch, aber das darf sie nicht. Nicht bevor Morgaine gefunden
ist.
Es ist die schrecklichste Nacht, die Rebekka
jemals erlebt hat. Sie versucht, sich nicht das Schlimme vorzustellen, zu dem
Menschen fähig sind. Sie versucht, nicht daran zu denken, aber trotzdem muss
sie an sie denken, an all die schrecklichen Dinge, zu denen Menschen fähig
sind. Und eigentlich will sie weinen, aber das Weinen würde die Hoffnung töten,
und sie hat noch Hoffnung, also wird sie nicht weinen.
Stunden später, es
ist vielleicht fünf Uhr, wird Rebekka wach. Sie liegt auf einem Sofa im
Aufenthaltsraum, und jemand hat eine Decke über sie gebreitet. Sie weiß im
ersten Augenblick nicht, was passiert ist und weshalb sie hier liegt.
Aber dann auf einmal
kommen die Erinnerungen wieder.
Nein, nicht das, es
kann nicht wahr sein, es ist ein Alptraum und nicht wahr. Sie richtet sich auf
und hält die Hände vors Gesicht, um nichts sehen zu müssen. Und am liebsten
möchte sie tot sein. Nein, nicht wirklich, denn wenn sie nicht mehr da wäre und
Morgaine wäre doch noch... Aber was ist, wenn sie noch lebt, was könnte jemand
mit ihr tun, sie kann es nicht ertragen, darüber nachzudenken. Rebekka stöhnt
auf und hält sich die Hände vor den Mund, um nicht zu schreien. Nein, Morgaine
wird gefunden werden, das denkt sie mechanisch immer wieder, obwohl ihre Seele
mittlerweile von Zweifeln durchsetzt ist. Sie lässt die Hände sinken und schaut
auf. Eigentlich erwartet sie Daniel an ihrer Seite, aber er ist nicht da, und
sie fühlt sich enttäuscht, aber nicht lange. Claudia sitzt neben ihr, und ihr
Gesicht drückt ihre Gefühle aus. Es ist eine Mischung aus Hoffnung und aus
Trost.
„Rebekka, sie lebt
noch, ich weiß es!“
„Woher denn, und
wieso?“
„Ich weiß es eben.
Ich habe damals gewusst, dass mein Kind nicht tot ist. Und jetzt weiß ich, dass
Morgaine noch lebt.“
„Aber wieso?“ fragt
Rebekka gequält. Die Sonne geht anscheinend gerade auf, sie ist noch nicht zu
sehen, aber der Himmel hat sich in ein tiefes Rot verfärbt. Wie Blut sieht es
aus. Und wieso geht die Sonne auf, sie hat keine Berechtigung zu scheinen. Geh
weg Sonne! Und Claudia spinnt, sie hat doch ihr Kind verloren, und jetzt redet
sie so...
„Ich weiß es!“
Claudia beugt sich über sie und nimmt sie in ihre Arme. Rebekka fühlt sich
seltsam. Es ist, als hätte sie eine Mutter, eine wirkliche Mutter, die sie
liebt und nicht eine, die sie immer bei jeder Gelegenheit quält und
niedermacht.
„Claudia, meinst du
das wirklich?“ sagt sie mühsam, und wieder steigen Tränen in ihr hoch, sie
erreichen ihre schmerzenden Augen, und wieder unterdrückt sie die Tränen.
„Ja, ich weiß es!“ Claudia wiegt sie ganz sanft, und
Rebekka überlässt sich ihrer Zärtlichkeit.
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Morgaine wird wach, und sie
weiß nicht, wo sie ist.
Sie hat geträumt, und die Träume haben ihr nicht
gefallen, da war ein weißer Raum wie beim Kinderarzt, aber viel größer, und er
hat ihr Angst gemacht. Und dann träumte sie von Leuten, die sie aus Mammis Kopf
kannte, und bei denen gefiel es ihr auch nicht. Aber jetzt ist sie wach, es ist
ein seltsamer Ort ohne Licht, und sie ist noch nie vorher hier gewesen. Normale
kleine Mädchen hätten vielleicht Angst vor ihm, aber Morgaine ist kein normales
kleines Mädchen.
Morgaine überlegt, wie sie
hierhin gekommen ist. Gerade noch ist sie mit Tante Claudi im Stall gewesen.
Aber eigentlich will sie ja zu Mammi. Mammi ist von Pferd gefallen, und es geht
ihr schlecht. Wie auf Stichwort taucht Mammis Gesicht vor ihr auf, es sieht
zerquält aus, Mammis Augen sind fast nass, aber nicht richtig, sie öffnet den
Mund und ruft etwas. Morgaine strengt sich an, um es zu hören, und tatsächlich
hört sie es nach einer Weile: Morgaine, wo bist du?
Ich bin doch hier, Mammi, sagt
sie erstaunt, und dann fällt ihr ein, dass Mammi gar nicht wissen kann, dass
sie hier ist. Sie versucht, sich zu erinnern, was ist passiert? Sie ist mit
Tante Claudi bei den Fohlen gewesen, und sie will zu Kalybos gehen. Tante
Claudi kommt nicht mit, sie ist zu langsam. Und dann ist da auf einmal dieser
neue Mann, er arbeitet im Stall, und er sagt zu ihr: Kalybos ist gerade nicht
hier, er ist hinter der Kirche. Und ein kleines Kätzchen ist auch da. Soll ich
mit dir hingehen? Eigentlich will Morgaine nicht mit ihm gehen, denn er ist so
wie diese Zirza, so schwarz im Kopf, und das ist nicht gut. Aber da soll ein
Kätzchen sein, und sie liebt Kätzchen über alles, vielleicht ist das Kätzchen
in Gefahr... Vielleicht wird das gleiche mit ihm passieren wie mit Alfonso.
Alfonso liegt tot auf der Straße, er bewegt sich nicht, wie kann man es
verhindern? Morgan hat gesagt, dass solche Träume nur Möglichkeiten sind, und
manchmal kann man ihnen ein anderes Ende geben, man muss nur den richtigen Weg
suchen. Bis jetzt hat sie Morgan nicht ernstgenommen, sie war ja nur eine Stimme
in ihrem Kopf. Sie haben sich zwar unterhalten, aber Morgan kam ihr sehr alt
vor, sie redete über komische Sachen und gab ihr komische Tipps. Wollte sie ihr
was beibringen? Bis jetzt hat sie noch nie über ihre Fähigkeiten nachgedacht,
bis jetzt war alles nur Spaß, manchmal geht es ganz leicht, vor allem mit
Daniel, den sie sehr lieb hat, und manchmal träumt sie auch nur seltsame
Sachen. Manchmal träumt sie sogar mehrmals von der gleichen Sache, es ist so,
als ob sie einen Film sieht, der jedes Mal anders ausgeht. Und es ist so, als
könne sie beeinflussen, wie das Ende wird. Nicht immer geht das, manchmal gibt
es nur den einen Weg. Morgaine schüttelt den Kopf, und überlegt weiter, wie sie
hierhin gekommen ist.
Sie will alleine zum Kätzchen
gehen, aber der Mann nimmt sie bei der Hand, sie laufen schnell an der Kirche
vorbei – und bevor sie schreien kann, hat er ihr etwas ins Gesicht gedrückt.
Ihr wird schwindelig, und dann ist da nichts mehr, bis sie hier im Dunklen
aufwacht. Es ist wirklich dunkel hier und sehr kalt.
Aber sie
ist nicht allein.
Mehrere Stimmen sind zu hören,
manche kann sie verstehen, und manche sind so leise, dass sie nur ein Murmeln
vernimmt:
Es war lange keiner hier...
Und wozu auch, man hat uns
vergessen...
Wir sind tot, und das ist ganz
normal...
Aber ein bisschen könnten sie
uns doch...
Bist du das Morgaine, sagt
eine Frauenstimme.
Ich bin es, sagt Morgaine, sie
kennt die Frauenstimme, es ist Morgan, sie kam einst aus Britannien und
heiratete hier einen von Kampe, und sie ist sehr sehr alt, so alt, dass sie tot
ist. Sie hat sich schon mit Morgan unterhalten, als sie Kampodia noch gar nicht
kannte. Zuerst hat sie gedacht, es wäre ein Engel, der sie beschützt, aber
darüber hat Morgan gelacht. Sie heißt so ähnlich wie sie selber. Und sie sieht
ihr auch ein bisschen ähnlich. Das Bild an der Treppe, sie hat es gleich
gesehen, das ist Morgan. Und sie ist mit ihr verwandt, das versteht Morgaine
nicht, dann wäre sie ja eine Ur-Ur-Ur-Enkelin von ihr. Und wieso weiß Mammi nichts davon?
Sie versucht sich umzublicken
in der Finsternis, und nach einer Weile sieht sie tatsächlich etwas, nicht
durch ihre Augen, sondern durch ihren Kopf. Sie erkennt große steinerne Kisten,
aus denen kommen die Stimmen und das Gemurmel.
Aber sie hat keine Angst, denn
sie ist nicht alleine.
Die Frauenstimme sagt: Du
solltest nicht hier sein Morgaine.
Ich weiß ich weiß, ich möchte lieber bei
Mammi sein, sagt Morgaine, und bei Daniel und bei Tante Claudi.
Dann versuche, sie zu erreichen, sagt die
Frauenstimme, es wird Zeit. Er wird zurückkommen und
dich holen wollen.
Ich habe aber kein Telefon
hier, sagt Morgaine.
Was ist ein Telefon?
Das ist so ein Ding, mit dem
man andere Leute anrufen kann.
Ach so... Brauchen die
heutzutage so ein Ding? Die Frauenstimme scheint sich zu amüsieren, bevor sie
weiterspricht: Aber du brauchst das nicht. Ich weiß es.
Aber ich weiß doch gar nicht,
wo ich bin. Und ich war noch nie hier.
Ich werde es dir erklären...
Und während wir warten, können wir uns unterhalten, ich habe lange auf dich
gewartet. Wir sind uns nämlich sehr ähnlich.
Wieso hat Mammi mir nicht erzählt, dass wir
verwandt sind? Und da sind noch die anderen, aber sie will nicht, dass ich sie
sehe.
Zu deiner ersten Frage, deine Mutter weiß es nicht.
Und zu deiner zweiten Frage, deine Mutter wird wohl ihre Gründe haben.
Über diese Antworten ist Morgaine sehr
erstaunt. Doch dann reißt sie sich zusammen und denkt an Daniel. Es geht, es
geht, und er wird sie bald holen.
Morgan schweigt, nur noch das
Gemurmel der anderen Leute erfüllt den kalten Raum.
Dann ertönt eine leise
Kinderstimme, sie kommt von oben, nicht von hier, und sie sagt: Ich kenne euch
nicht, ihr seid nicht meine...
Ach halt die Klappe, sagt eine
andere Kinderstimme, geh’ doch weg, wenn du dich hier nicht wohl fühlst.
Ich kann doch nicht, sagt die
erste Stimme.
Morgaine sieht, wie ein Kind
aus der Mutter kommt, es ist tot. Es wird in eine Tasche gepackt, ins
Herrenhaus geschleppt, später in eine steinerne Kiste gelegt und dort oben
eingesperrt. Es ist unglücklich, weil es nicht hierhin gehört.
Sie sind vertauscht worden,
sagt Morgan.
Man kann doch nur Karten
vertauschen, sagt Morgaine, die den Hang zum Kartenspiel wohl von ihrem Vater
geerbt hat, denn ihre Mutter interessiert sich überhaupt nicht dafür.
Doch das kann man, sagt die
Frauenstimme. Es sind böse Menschen, die so etwas tun. Aber das arme Kind da
oben kann nichts dafür.
Das ist traurig, sagt
Morgaine.
Es ist sehr traurig, sagt die
tote Morgan, doch nun ist es bald soweit, Daniel wird kommen und dich holen.
Und wir bleiben in Verbindung.
Morgaine fängt an zu kichern.
Kannst mich ja anrufen, sagt sie.
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KAPITEL VI – Teil 3 TRÄUME und TÄUSCHUNGEN
Daniel hat alles Mögliche
abgesucht, alle Ställe, alle Schuppen, aber er hat nichts gefunden. Er will
nicht zurück zu den anderen gehen, sein Entsetzen ist zu groß, und er hat
Angst, er könne es auf Rebekka übertragen. Sie ist bestimmt schon geschockt
genug.
Also besinnt er sich und denkt
nach. Wenn niemand eine Spur von Morgaine gefunden hat, dann ist sie gut
versteckt. Oder sie ist mittlerweile weit weg von hier. Das ist schlimm,
aber... Er denkt an seine Fähigkeiten. Nein, er hat mittlerweile erkannt, dass
es nicht seine Fähigkeiten sind. Morgaine lässt ihn nur daran teilhaben,
vielleicht bewusst, vielleicht auch unbewusst, aber es ist eine Möglichkeit. Er kann natürlich nicht in ihren Kopf hineinschauen, außer
sie sendet ihm irgendetwas. Aber wie funktioniert es? In der Kneipe hat er
direkte Bilder von ihr empfangen, aber das kann Zufall gewesen sein. Warum
kommt jetzt nichts bei ihm an? Sollte er dazu schlafen? Dazu hat er eigentlich
nicht die Ruhe, aber er muss es probieren, auch wenn es vielleicht vergeudete
Zeit ist, die er nutzen sollte, um sie zu suchen. Oder ist sie etwa... Nein,
nein, nein, das ist sie nicht! Niemals!
Also schlafen, vielleicht auch träumen... Aus
Hamlet. Wieso hat man immer so beknackte Gedanken!
Daniel stöhnt auf, er muss sich irgendwie dazu zwingen, einzuschlafen.
Er sieht Rebekka an der
Terrassentür stehen, und sie blickt hinaus. Alles in ihm drängt zu ihr, aber er
widersteht diesem Drängen und geht von allen unbeachtet die Treppe hoch. Er
kann ihr jetzt nicht helfen, er muss träumen...
Es ist mittlerweile drei Uhr.
Daniel lässt sich auf sein
Bett fallen und versucht einzuschlafen. Das ist gar nicht so einfach.
Vielleicht sollte er was Alkoholisches trinken? Aber es darf nicht zuviel sein,
sonst wird er zu fest schlafen und nicht träumen. Also besser nicht. Oder doch?
Er geht an den Kühlschrank, nimmt sich dort die angebrochene Flasche Weißwein
heraus, und trinkt mehrere Schlucke direkt aus der Flasche. Er legt sich wieder
auf das Bett. Er wälzt sich hin und her, und durch die nicht zugezogenen
Vorhänge fällt ab und zu das Licht des Vollmonds hinein, wenn er gerade nicht
von Wolken verdeckt wird.
~*~*~*~ Er sieht in einen weiß getünchten sterilen Raum, viele Regale stehen an
den Wänden, seltsame Instrumente und elektrische Geräte befinden sich darin. In
der Mitte des Raumes steht drohend ein metallisch blanker Operationstisch, und
ein grob aussehender Mann in einem Laborkittel fährt gerade eine Bahre in den
Raum hinein. Ein weißes Laken verdeckt die kleine Gestalt, die darauf liegt.
Wir werden es schon herauskriegen, sagt eine Stimme, und die gehört zu einem
Kerl in einem grünen Arztmantel und mit einem Mundschutz, den er noch nicht
aufgesetzt hat. Ein Chirurg etwa? ~*~*~*~
Daniel wacht auf. Um Himmels
Willen, das will er nicht sehen! Und bestimmt ist es nur eine Vision aus einer
möglichen Zukunft, die nicht unbedingt sein muss. Er versucht, sein wild
schlagendes Herz unter Kontrolle zu bekommen und sich wieder zu entspannen...
~*~*~*~ Diesmal blickt er in ein Wohnzimmer. Es ist mit grellbunten groß
gemusterten Tapeten und billigen geschmacklosen Möbeln eingerichtet. Ein Kind
spielt auf dem abgewetzten Teppichboden, und ein älterer Mann betrachtet das
spielende Kind mit leicht wollüstigen Blicken. Eine ältere Frau sitzt neben ihm
auf dem abgewetzten Kunstledersofa und betrachtet auch das spielende Kind. Aber
ihr Blick ist hasserfüllt. Schau mal Opa, ich habe das Teil gefunden, ruft das
Kind aus und blickt den älteren Mann an. Und Daniel sieht, dass es Morgaine
ist, vielleicht ist sie vier Jahre älter als jetzt. Morgaine ist bei ihren
Großeltern? Seltsam. Die kalten Augen der Frau gefallen ihm gar nicht,
wahrscheinlich ist es Rebekkas Mutter, obwohl sie Rebekka gar nicht ähnlich
sieht. Und dieser Blick, mit dem der Opa sein Enkelkind betrachtet, der gefällt
ihm auch nicht. Er ist schmierig, verschlagen und gierig.
Was zum Teufel ist los mit
dieser Familie? Er wird Rebekka danach fragen. Außerdem reift gerade ein Plan
in ihm heran. Er muss Morgaine unbedingt schützen, sei es vor diesen
widerlichen Großeltern oder sei es vor ganz anderen Gefahren. ~*~*~*~
Er wacht wieder auf und fühlt
sich elend. Wenn das die Zukunft ist, dann wird sie entsetzlich sein, so oder
so. Er denkt an die Idee, die in dem Traum geboren wurde, er überlegt sie
schnell bis in die letzten Konsequenzen, aber das dauert nicht lange. Er wird
es tun, und hoffentlich ist es noch nicht zu spät dafür. Er schließt die Augen
und versucht wieder, sich zu entspannen. Aber es geht nicht...
Dieses Mal ist er hellwach, er
blickt in eine absolute Finsternis. Und obwohl er seine Augen anstrengt, kann
er nichts erkennen. Aber er hört ein Wispern und ein Murmeln. Wieder strengt er
seine Augen an, um die Finsternis zu durchschauen, denn es muss doch einen
Funken Licht dort geben, aber seine Bemühungen sind vergebens, der Raum oder
was immer das ist bleibt dunkel, und das macht ihm Angst. Was ist, wenn das die
Gegenwart wäre!
Ich bin hier Daniel, hört er.
Es ist Morgaine, es ist
tatsächlich Morgaine!
Wo denn Fee, sag’s mir, fragt
er ungeduldig.
Die tote Morgan sagt, es ist
unter der Kirche...
Verdammt, die tote Morgan, wer
ist das? Kannst du ihr vertrauen?
Ja, sagt Morgaine, sie kennt
mich und hat auf mich gewartet, und sie hat auch dafür gesorgt, dass Max und
du...
Okay, okay, wo bist du also?
Morgaine weiß mittlerweile, wo
sie ist, die tote Morgan hat es ihr erklärt. Sie schickt Daniel ein Bild von
einer mit Efeu bedeckten Mauer, ganz in der Nähe der Kirche. Und da ist eine
Tür, eine schwere Eisentür, zu schwer, um von einem kleinen Mädchen aufgemacht
zu werden. Aber Daniel kann sie bestimmt aufmachen, und während er sich eilig
auf den Weg macht, erzählt Morgaine ihm die Geschichte dieses Ortes.
Sie hatte etwas
mit einem Krieg zu tun, der vor langer Zeit stattfand und der dreißig Jahre lang
dauerte. Als die Familie von Kampe eintraf, fand sie kaum noch Überlebende im
Dorf vor, außer in der Krypta der Kirche. Die
Tür, die nach unten führte, war zugemauert worden, und es war der sicherste
Zufluchtsort des Dorfes, erreichbar nur von außerhalb der Kirche durch eine
geheime Tür in der Mauer, die man einst gebaut hatte, um die wasserbringende
Strulle ins Dorf zu leiten.
Die von Kampes ließen von nun
an ihre Ahnen in der Krypta der Kirche bestatten, aber diese Bestattungen
erwiesen sich als recht umständlich, und hundertfünfzig Jahre später ließen sie
sich ein eigenes Mausoleum bauen.
Kurz danach brachen wieder Kriege aus. Männer jeglichen Alters wurden getötet oder wurden vermisst. So gesehen war es kein Wunder, dass die versteckte Tür zur Krypta allmählich in Vergessenheit geriet und keiner mehr davon wusste. FAST keiner mehr davon wusste...
„Mammi!“
Rebekka, die immer noch ihren Kopf
in Claudias Armen vergraben hat, richtet sich ungläubig auf.
„Mammi, ich bin doch hier...“
Halluzinationen eindeutig! Sie
fängt allmählich an durchzudrehen, bildet sich vielleicht ein, dass Morgaine...
Aber dann hört sie es noch einmal: „Mammi, ich bin doch hier...“
Sie dreht
den Kopf nach rechts zur Eingangstür – und sieht Morgaine dort stehen. Es ist
Morgaine, ihr kleines Mädchen, ihr ein und alles, und sie spürt, wie ihre Augen
nass werden. Durch die Tränen, die unwiderstehlich aus ihnen herausquellen,
sieht sie außer Morgaine auch Daniel, der Morgaine an der Hand hält. Hat Daniel
sie gefunden? Wenn ja, dann liebt sie ihn dafür, und er wird für immer in ihrer
Schuld stehen.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Es gibt immer Neugierige, die alles
ausspionieren. Zirza ist so eine Neugierige. Auch ihre Familie ist sehr alt,
aber leider nicht so reich und berühmt wie die von Kampes, und deswegen
interessiert sie sich heftig für alles Mögliche, sei es für die fast
vergrabenen Geheimnisse des Dorfes – oder sei es für die Geheimnisse ihrer
Mutter...
Es geschah, als Zirzas Mutter Helena, die gleichzeitig Hebamme und Oberabtreiberin des Dorfes war, Besuch von einer hochschwangeren entfernten Cousine und deren Mann hatte.
Diese Verwandten wohnten
vierhundert Kilometer weit weg in einer Kleinstadt mit ländlichem Umfeld. Die
hochschwangere Cousine hatte in Helenas Haus eine Frühgeburt. Es war nicht mehr
möglich, den Arzt aus Brunswick zu holen, und Helena in ihrer Eigenschaft als
Hebamme übernahm. Aber das Kind wurde tot geboren. Die Kusine weinte und machte
ihr heftige Vorwürfe, in die auch ihr nichtsnutziger Mann mit einstimmte.
Und um das Geflenne nicht mehr
anhören zu müssen, kam Helena auf eine geniale Idee. Im Herrenhaus war die
hochnäsige Schwester von Archibald zu Besuch, die selber hochschwanger war. Und
sie konnte es ja mal versuchen. Bei Gott, sie hasste dieses hochherrschaftliche
Pack – und sie wusste, dass alle vom Gut beim Schützenfest waren, außer Claudia
Mansell, die sich nicht gut fühlte. Auch ihr ausländischer Mann war mit zum
Schützenfest gegangen, welches dieses Jahr sehr spät stattfand, nämlich Ende
Oktober.
Helena trank schnell zwei Gläser
billigen Branntweins, um locker zu werden. Dann packte sie das tote Kind in ihr
Hebammenköfferchen, kramte im Apothekerschrank herum –als Hebamme kannte sie
natürlich diverse brauchbare Mittel – sie mischte etwas in einer Flasche
zusammen, packte noch ein Narkosemittel namens Halothan dazu – und machte sich
schließlich mit dem Koffer auf den Weg in Richtung Herrenhaus, das ja nicht
weit vom Unteren Dorf entfernt lag, nämlich nur zweihundert Meter.
Niemand im Dorf
schloss tagsüber die Haustür ab, und deswegen war es für Helena kein Problem,
ins Herrenhaus zu gelangen. Das Köfferchen mit dem toten Kind hatte sie hinter
den Tannen an der Eingangstüre versteckt.
Wie erwartet war
keiner da, außer dem leicht schwachsinnigen Mädchen, das gerade in der Küche
heiße Schokolade zubereitete, die für Claudia Mansell bestimmt war. Grandioser
Zufall, schicksalhaft irgendwie, dachte Helena frohlockend. Ohne die Schokolade
wäre sie in ziemliche Schwulitäten gekommen, aber es ging ja um nichts, es
handelte sich nur um einen Versuch.
Es war kein
Problem für Helena, das Mädchen abzulenken und ohne überhaupt gesehen zu
werden, eine ordentliche Portion aus ihrem Fläschchen in die Schokolade zu
geben. Das Mädchen erschien wieder, nahm das Tablett mit der Schokolade und
ging damit leise vor sich hinsingend die Treppe hinauf.
Ein paar Minuten später fing
Claudia Mansell an zu schreien, während der Spielmannszug gerade fürchterlich herumlärmte
mit Querflöten und Pauken und Trompeten.
Außer dem leicht schwachsinnigen
Mädchen hörte niemand ihre Schrei. Niemand außer Helena. Sie hatte die Schreie
gehört, als sie ZUFÄLLIG am Gutshof vorbeigegangen war. Sie schellte an der
Tür.
Das Mädchen ließ die dörfliche
Hebamme, die glücklicherweise ihren Koffer dabei hatte, erleichtert herein,
denn Claudia Mansell hatte wohl Wehen bekommen...
Die Geburt verlief ohne
Komplikationen, aber dennoch war das Kind tot. Klar, Helena hatte es flink
vertauscht und trug nun ein anderes, und zwar ein höchst lebendiges Kind in der
Tasche. Sie hatte ihm vorsichtshalber eine angemessene Portion Halothan
verpasst, denn es sollte nicht schreien. Das Mittel wirkte zwar erst nach ein
paar Sekunden, aber das war egal...
Doch Claudia, die trotz des
wehenerzeugenden Mittels und trotz des Schlafmittels darin immer noch ein wenig
wach war, hatte ihr Kind gesehen. Und sie hatte es auch gehört. Es war nicht
tot, nicht tot, nicht tot, nicht tot, nicht tot... Es war wie ein Alptraum,
nicht tot, nicht tot, nicht tot, nicht tot... Noch Jahre später dachte sie an
diesen Augenblick, als sie ihr Kind gesehen und gehört hatte. Aber niemand
glaubte ihr. Auch der Arzt, der wenige Minuten später kam, herbei telefoniert
von dem leicht schwachsinnigen Mädchen, konnte nur noch den Tod des Kindes
feststellen. Es kam ihm zwar etwas seltsam vor, aber als er mit Helena
gesprochen hatte, stellte er anstandslos den Totenschein aus. Warum tat er das?
Ganz einfach, Helena hatte ihn in der Hand, einstmals Putzfrau bei ihm gewesen,
hatte sie dann etwas anderes geputzt, nämlich ihn selber, und diesen Gefallen
musste er ihr tun. Er war schließlich verheiratet, und seine Frau war maßlos
misstrauisch und eifersüchtig...
Helena fühlte sich stark und
mächtig. Dennoch war die Geschichte zu heiß, die Angelegenheit zu verzwackt,
und dass zwei Kinder zur gleichen Zeit im selben Ort geboren wurden, war zu
auffällig.
Sie drängte also die Cousine,
sofort die Heimreise anzutreten, koste es was es wolle. Nach hundert Kilometern
sollten sie in das nächste Krankenhaus gehen und behaupten, das Kind wäre auf
der Autobahn geboren worden. Und sie sollten sich am besten nie mehr hier
blicken lassen! Helenas Euphorie nach ihrem gelungenen Geniestreich war schon
fast verflogen, denn ihre undankbare Cousine fand das kleine Mädchen nicht
besonders anziehend. „Die mütterlichen Instinkte werden sich schon noch
einfinden“, sagte sie giftig zu ihr und drängte sie förmlich aus dem Haus.
Man war so schlau, ihre
Anweisungen genau zu befolgen. Es gab nur eine kleine Komplikation mit dem
Geburtsort der Kleinen, aber nachdem die Cousine reichlich herumgeheult und ihr
Mann den Chefarzt des Krankenhauses fast auf Knien liegend gebeten hatte, die
Geburtsurkunde hier auszustellen, weil er nicht wollte, dass sein Kind als
Geburtsort „Autobahn zwischen dem Ort und diesem Ort“ im Personalausweis stehen
hatte, gab die Krankenhausverwaltung nach, es kostete sie ja nichts. Die
glücklichen Eltern spendierten eine Runde Sekt und fuhren dann gemütlich nach
Hause.
Zirzas Mutter Helena, was bekam
sie für diesen Deal? Sie behielt es für sich. Viel Kontakt hatte sie nicht mehr
zu den Verwandten, die lebten ziemlich weit weg, dort wurde das Kind der
Claudia Mansell aufgezogen, und keiner wusste, wie es ihm erging.
Einmal jedoch besuchte Helena ihre
Cousine entfernten Grades. Sie sah das Kind, es schien ihm körperlich gut zu
gehen. Es war nicht eigentlich hübsch, sah aber interessant aus mit den dunklen
Haaren und den blauen schräggestellten Augen. Ihre Cousine hackte jedoch
dauernd auf ihm herum, als ob sie ihm die leicht adelige Abkunft verübeln
würde.
„Du glaubst wohl, du bist was
Besseres!“ hörte Helena – und: „Ich prügele es schon aus dir heraus!“ Das
Mädchen allerdings lächelte nur und zeigte sich unbeeindruckt. Gut gespielt,
dachte Helena, denn sie hatte die gequälten Augen des Kindes gesehen.
Es bereitete Helena nicht viel
Vergnügen, bei ihrer Verwandtschaft zu sein, möglicherweise hatte sie den
Anflug eines schlechten Gewissens. Sie ließ von weiteren Besuchen ab und erfuhr
Jahre später, dass noch ein Kind angekommen war, ein Sohn und dass er der
erklärte Liebling seiner Eltern wäre. Sie zuckte mit den Schultern und dachte
fast nicht mehr daran.
Allerdings machte sie dann und
wann, wenn sie zuviel billigen Branntwein getrunken hatte, dunkle Andeutungen,
die von ihrer Tochter Camilla gierig aufschnappt wurden.
Camilla, die sich später Zirza
nannte, und zwar in Anlehnung an die Zauberin Circe, hatte damals in einer Ecke
des armseligen Häuschens gesessen und alles mitgekriegt, ohne viel davon zu
verstehen. Zirza, alias Camilla sammelte Informationen, egal über was und über
wen. Und irgendwie bekam sie es heraus aus ihrer besoffenen Mutter, die sich
doch tatsächlich Vorwürfe machte. Die alte Kuh wurde sentimental! Zu diesem
Zeitpunkt war Zirza drei Jahre mit Archibald von Kampe verheiratet, sie hatte
zwar eine Stieftochter, aber kein eigenes Kind, und dann erfuhr sie, dass noch
ein Sprössling dieser verdammten Sippe lebte, und zwar bei ihren eigenen Verwandten.
Ein Schlag ins Gesicht! Aber es würde mit Sicherheit nie herauskommen, es war
wasserdicht und absolut nicht knackbar. Ihre Mutter starb kurz darauf,
offiziell an Leberzirrhose – oder aus Scham über ihre undankbare Tochter, die
sie nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen hatte.
Aber trotzdem informierte Zirza
sich über die ‚Verwandte’, die weit weg von ihr lebte, denn Information konnte
nie schaden...
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
KAPITEL VI – Teil 4 NOTWENDIGKEITEN...
Zwei Stunden später hörte Rebekka
allmählich auf zu weinen. Es war wie ein Sturzbach bei ihr gewesen, sie weinte
über Morgaines Verschwinden und über ihre Wiederkehr, sie weinte über ihre
Kindheit, über ihre Eltern, über ihre Beziehungen, sie weinte über all das,
worüber sie ihr ganzes Leben lang noch nicht geweint hatte.
Und sie war im Moment so dankbar
für jede körperliche Nähe. Vorhin war es Claudia gewesen, an die sie sich
geschmiegt hatte und für die sie Worte des Dankes gemurmelt hatte. Warum? Weil Claudia
an Morgaines Rückkehr geglaubt hatte, als Rebekka selber schon schwach gewesen
war. Oder Archie, er war gekommen und hatte sie umarmt, klar doch, er hatte
selber ein Kind und wusste wie es war, wenn... Auch Tante Bernadette war da
gewesen. Die arme Tante Bernadette, die ihre Tochter und gleichzeitig ihre
Enkelin verloren hatte vor fünfzehn Jahren, aber auch sie hatte Rebekka an sich
gedrückt, und Rebekka musste wieder weinen...
Und jetzt saß Daniel neben ihr auf
dem Sofa, und er streichelte geistesabwesend ihre Hand. Sie ließ es sich
gefallen. Rebekka hatte Morgaine ins Bett gebracht, damit sie sich richtig
ausschlafen konnte. Sie hatte die Nacht in der Krypta gut überstanden, und auch
die eisige Kälte darin hatte ihr nicht geschadet. Wieder kamen Rebekka die
Tränen. Daniel hatte Morgaine gefunden und zurückgebracht. Allerdings schien er
nicht ganz bei der Sache zu sein, denn er guckte streng an die Wand, als ob er
über irgendetwas nachgrübeln musste. Aber das war egal, sie strahlte ihn durch
die versiegenden Tränen hindurch an und sagte: „Wie hast du das nur geschafft,
Daniel?“
Er sagte nichts, sondern schaute
sie nur prüfend an. Und allmählich wurde ihr ein wenig beklommen zumute. Was
hatte er?
„Kannst du es jetzt wenigstens
zugeben?“ sagte Daniel schließlich und ließ ihre Hand los.
„Was denn? Was soll ich zugeben?“
Rebekka hatte absolut keine Ahnung, was sie zugeben sollte. Und ihre Hand kam
ihr auf einmal nutzlos und verlassen vor.
„Dass ich Morgaines Vater bin! Und
rede dich nicht wieder mit damit heraus, dass sie keinen Vater braucht!“
„Aber...“ Rebekka wurde still. Er
redete richtiges Hochdeutsch und nicht wie sonst mit der lässig abgekürzten
Sprache des Ruhrgebiets. Und seine Stimme hatte so eindringlich und kalt
geklungen, dass sie wirklich versuchte, in die Vergangenheit hineinzuschauen
und sie zu ordnen. Eigentlich war es das erste Mal, dass sie es tat. Sie
überlegte krampfhaft, aber es kam nichts dabei heraus, bis dann auf einmal…
„Ich hab’ doch die Pille
genommen“, meinte sie schließlich kläglich, aber in einem Winkel ihres
Hinterstübchens war ihr dazu eingefallen: Sie hatte zwar die Pille genommen,
aber sie hatte diese Darmgrippe gehabt, wieso hatte sie nicht früher daran
gedacht... „Verdammt!“ sagte sie entgeistert.
„Ich will gar nicht wissen, warum
und wieso, es ist eben so.“ Daniels Stimme klang ein wenig zärtlicher als
zuvor, was soviel hieß, sie klang wie die Stimme eines Eisbergs.
„Und woher nimmst du diese
Gewissheit?“ Rebekka war trotz ihres wiedererlangten Erinnerungsvermögens immer
noch skeptisch.
„Herrgott, Mädel! Ich habe eine
Verbindung zu Morgaine, nur dadurch habe ich es geschafft, sie da raus zu
kriegen.“
„Eine Verbindung? Was soll denn
das für eine Verbindung sein?“ fragte Rebekka ungläubig.
„Es geschieht eben, ich glaube, ich
kannte sie schon, als sie noch in deinem Bauch war...“
„Das gefällt mir jetzt aber gar
nicht“, sagte Rebekka ärgerlich, denn sie hatte es nicht gerne, wenn jemand in
ihr spionierte, sei es in ihrem Bauch oder sei es in ihrem Gehirn.
„Es war warm und dunkel und
schaukelig...“
„Quatsch! Das war nur eine
Einbildung pränataler Art!“
„Nein, das war es mit Sicherheit
nicht. Später habe ich dann auch andere Sachen gesehen...“
„Und welche bitte?“
„Einmal habe ich mich selber
gesehen, das war einwandfrei aus deinem Kopf heraus. Und ich habe Morgaine
schon lange vorher im Traum gesehen, da wusste ich noch gar nicht, dass sie
existiert...“
„Du spinnst ja wohl“, ereiferte sich Rebekka, die krampfhaft darüber nachgrübelte, warum er sich selber hatte sehen können. Von IHREM Kopf aus? So ein Quatsch! Und dann fiel ihr siedendheiß ein, dass sie wohl öfter an ihn gedacht hatte, und zwar wenn sie sich ähem... selber befriedigt hatte. Und dieser Gedanke brachte sie dermaßen aus dem Konzept, dass sie das andere, nämlich dass er Morgaine schon kannte, bevor er sie äääh... Das war zu verwirrend, jedenfalls hoffte sie, dass Morgaine nicht allzu viel davon mitgekriegt hatte, vor allem nichts von Daniels Körper...
„Ich glaube, dass Morgaine in
Gefahr ist. Irgendjemand bemüht sich, sie in seinen Besitz zu bekommen.“
„Aber warum denn?“ fragte sie,
obwohl ein Teil von ihr die Antwort bereits wusste.
„Sie kann irgendwie Bilder in
unseren Köpfen sehen, sie kann Bilder schicken und andere lesen, und wer weiß,
was sie noch alles kann.“
„Ja, sie ist außergewöhnlich.“ gab
Rebekka zu, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. „Sie ist so lieb und
so gut, und sie weiß so viel. Aber was können wir tun?“
„Wir sollten heiraten!“ sagte
Daniel nach einer kurzen Pause.
Heiraten? Rebekka starrte ihn an.
Ihn heiraten? Obwohl sie eine sehr realistische Person war – das dachte sie
jedenfalls von sich – war der Gedanke verlockend. Vielleicht hatte sie im
tiefsten Inneren das Verlangen gehabt, es irgendwann zu tun, das mit dem
Heiraten. Aber so? Das war nicht gerade die Hochzeit, die ein Mädchen sich
wünschte. Andererseits war das alles
vollkommen egal, denn jetzt ging es um Morgaines Sicherheit. Aber wieso heiraten?
„Warum?“, fragte sie ratlos.
„Sie wäre dann weniger gefährdet“,
sagte Daniel mit tonloser Stimme. „Du hattest doch gestern diesen seltsamen
Unfall...“
„Beim Reiten, ja.“ Rebekka bewegte
unbehaglich ihre verletzte Schulter, denn jetzt fühlte sie ihn wieder, den
Schmerz, den sie gestern Nacht wohl verdrängt hatte.
„Genau den! Der Sattelgurt
sah nicht normal aus, er kam mir vor, als hätte ihn jemand angeschnitten.“
„Oh Gott! Sag’ mal, wo ist denn
eigentlich dieser neue Stallknecht abgeblieben?“
„Weg! Verschwunden! Hat sich nicht
mehr blicken lassen.“
„Seltsam...“
„Sehr seltsam. Wirklich. Aber wenn
er etwas damit zu tun hatte, dann war er nur ein Handlanger für irgendjemand
anders. Vielleicht für eine Organisation, die so etwas erforscht. Ich habe von
einem weißen Operationsraum geträumt.“ Daniel schüttelte sich leicht.
„Du hast davon geträumt? Aber
wieso...“ Rebekka verstummte. Sie konnte sich nur langsam mit Morgaines
Fähigkeiten abfinden.
„Es kam mit Sicherheit von
Morgaine, sie kann wahrscheinlich auch in die Zukunft sehen, vielleicht träumt
sie von Dingen, die eventuell passieren können unter bestimmten Umständen. Und
ich kriege sie manchmal mit.“
„Ein Operationssaal?“, Rebekka war
blass geworden, sie hatte erst jetzt das Wort realisiert.
„Ein Operationssaal! Und wenn das
kein Zufall ist? Was passiert, wenn du stirbst?“ Daniel schaute sie
eindringlich an. „Würden deine Eltern für Morgaine sorgen können?“
Rebekkas Gesicht wurde noch
blasser. Ihre Eltern? Nein, nein, nein, um Gottes Willen! Nicht ihre Eltern.
Nicht ihre Mutter, und erst recht nicht ihr Vater!
„Nein, das will ich nicht!“ sagte
sie hart. „Da heirate ich doch lieber dich!“ Auch das konnte nicht sein. Warum
hatten diese Worte ihren Mund verlassen, sie war ja total verrückt im Moment,
vollkommen außer sich vor Glück, dass Morgaine wieder da war und auch total
außer sich, weil sie sich Sorgen machte. Es stimmte, Morgy war etwas
Besonderes, und das mit dem Hineinblicken in anderer Leute Köpfe hörte sich
zwar unwahrscheinlich an, aber wie sonst hätte Daniel Morgaine finden können in
diesem Loch, in dieser Krypta, umgeben von Toten – und das alles nur erreichbar
durch einen Geheimgang, von dem niemand etwas mehr wusste. Rebekka erschauerte,
Tote, Skelette und ihr kleines Mädchen allein in dieser Dunkelheit... Dann fiel
ihr schlagartig ein, dass doch noch jemand davon wusste, nämlich der Entführer.
Sie fing an zu zittern.
„Aber ich habe keine Papiere...“
sagte sie hilflos.
„Das ist kein Problem. Wir
brauchen nur deine Geburtsurkunde. Es muss aber schnell gehen.“
„Die habe ich zu Hause“, murmelte
Rebekka. Tatsächlich hatte sie bei ihrem Auszug aus dem Elternhaus alle
wichtigen Urkunden und Unterlagen mitgenommen.
„Wir brauchen jemanden, der die
Urkunde hierhin faxen könnte. Und er sollte sie mit der Post schicken. Per
Einschreiben mit Rückschein natürlich. Und ich habe schon mit Archie
gesprochen, er wird den Bürgermeister überreden, die Kopie anzuerkennen. Das
Original werden wir dann später nachreichen.“
„Meinst du, das geht?“, Rebekka
schaute ihn zweifelnd an.
„Ich hoffe es!“
„Dann rufe ich Sabine an, die hat
einen Schlüssel.“
„Sehr gut, also morgen dann?“
Daniel lächelte sie an, aber es sah aus, als wäre er mit seinen Gedanken ganz
woanders.
„Wo sind die Blumen, und solltest
du nicht vor mir niederknien?“ sagte Rebekka in einem Anfall von Sarkasmus.“
„Es ist ja nur pro Forma.“
„Du bist echt lustig! Meine
Hochzeit hab’ ich mir etwas anders vorgestellt, vor allem nicht so überstürzt.“
Rebekka schüttelte den Kopf. Dann aber dachte sie an ihre Tochter und konnte es
immer noch nicht fassen, dass sie wieder da war. Sie musste geschützt werden.
Und auf keinen Fall sollte Morgaine in die schmierigen Hände ihrer so genannten
Großeltern geraten.
„Du hast von meinen...“ Sie machte
eine winzige Pause, bevor sie fortfuhr, „Eltern geträumt?“
„Ich denke schon. Morgaine war
etwas älter als jetzt und nannte den Mann Opa. Er war blond und sah
irgendwie...“ Daniel redete nicht weiter, denn es kam ihm zum Bewusstsein, dass
er wohl über seine zukünftigen Schwiegereltern sprach. Seltsamer Gedanke.
„Du wirst nichts mit ihnen zu tun
haben“, Rebekka sah wütend aus, als sie ihre Eltern erwähnte. „Sie wissen
nichts von Morgaine, und ich war seit Jahren nicht mehr da.“
„Wieso Rebekka? Was haben sie dir
angetan?“
Rebekka sah aus, als würde sie gleich
wieder anfangen zu weinen, und er wechselte das Thema und meinte: „Ich lass’
mir dann auch mal mein Stammbuch reinreichen.“
„Wie haben sie gewohnt?“ fragte
Rebekka.
„Was, wer?“
„Na, meine Eltern…“
„Es war alles ziemlich abgewetzt
und eng dort. Wie in einer sehr billigen Mietwohnung.“
„Dann haben sie das Haus verkauft
und das Geld meinem Bruder in den Hintern gesteckt.“ Rebekka lachte auf, aber
es war ein bitteres Lachen. „Oder sollte ich besser sagen, dass sie es in ein
paar Jahren tun werden?“
Sie schien ihre Eltern nicht
besonders zu mögen. Was hatten sie ihr angetan, und warum sprach sie nicht
darüber?
Daniel
war auf einmal selber voller Zweifel. Empfand sie überhaupt etwas für ihn?
Nichts deutete darauf hin. Und außerdem fiel ihm ein, was Marissa damals über
Rebekka erzählt hatte, von wegen dass sie mit jedem ins Bett gehen würde.
Tatsächlich war sie sogar mit seinem besten Freund ins Bett gegangen, aber es
war nichts draus geworden, denn sie war vor dem Liebesspiel eingeschlafen.
Danach war Lukas ein wenig sauer auf sie gewesen, gekränkte männliche
Eitelkeit... Danach werde ich sie auch irgendwann fragen, dachte Daniel. Und
was trieb sie mit Archie? Die Beiden schlossen manchmal die Tür der Bibliothek
von innen ab, man hörte nur gedämpfte Musik und ab und zu leises Lachen. Man
konnte sich alles mögliche darunter vorstellen, und Daniel hatte viel
Phantasie... Aber trotz aller Zweifel wollte er diese Heirat, erstens weil er
Rebekka liebte – ja das tat er – und zweitens, weil er diesen Traum mit dem Kamin
und dem Klavier in die Wirklichkeit bringen wollte. Es wäre gut für alle und
besonders für Morgaine.
„Okay“,
sagte Rebekka so locker wie sie konnte. „Ich rufe Sabine gleich an.“ Sie erhob
sich vom Sofa, konnte ein leichtes Stöhnen nicht unterdrücken und hielt sich
die Schulter.
Daniel
schaute besorgt drein, und seltsamerweise freute sie das. „Bleibst du hier bei
Morgaine?“ fragte sie ihn.
„Sicher“,
Daniel nickte.
„Aber
bevor das alles über die Bühne geht, sollten wir sie fragen, ob sie es
erlaubt.“ Das war Rebekka gerade eingefallen. Wenn Morgaine es nicht wollte,
dann würde sie es auch nicht tun.
„Sie
weiß es schon, und sie ist begeistert.“
„Oh!“
Rebekka schaute ziemlich erstaunt drein.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Claudia,
die im Souterrain des Herrenhauses wohnte, dort wo es im heißen Sommer kühl und
im kalten Winter warm war, öffnete Rebekka die Tür.
Rebekka
trat ein und setzte sich sofort auf das große gemütliche Sofa, das über sich
ein Fenster hatte, durch das man auf den Hof des Herrenhauses gucken konnte.
Rebekka war oft bei Claudia zu Besuch, sie fühlte sich hier wie zuhause, sie
vermutete allerdings, dass Morgaine noch öfter hier war als sie. Morgaine
liebte Claudia bedingungslos, sie liebte natürlich auch Andy und Archie, aber
Claudia und sie zusammen zu sehen, das war, Rebekka fielen da keine Worte ein,
oder doch, herzerquickend oder so was ähnliches. Trotzdem liebte Morgaine eine
Person noch mehr, nämlich Daniel...
„Ich
werde also heiraten“, sagte sie und nippte vorsichtig an dem heißen Kaffee, den
Claudia ihr gebracht hatte.
„Und wie
fühlst du dich?“ Claudia hatte sich neben sie gesetzt.
„Ich
weiß nicht, es ist alles so plötzlich gekommen“, Rebekka schaute unsicher in
die Kaffeetasse, als ob sie in ihr lesen könnte.
„Und du
hattest wirklich keine Ahnung, dass er der Vater von Morgaine ist?“
„Nein!
Nicht im geringsten.“ Rebekka wirkte nachdenklich, bevor sie fortfuhr: „Kann es
sein, dass ich’s verdrängt habe? Aber so blöd kann man doch gar nicht sein...“
„Man kann
ziemlich blöd sein“, sagte Claudia. „Aber gerade du, du bist nicht blöd.“
„Danke
Claudia“, Rebekka musste lachen. „Aber in gewisser Hinsicht bin ich doch sehr
blöd. Warum habe ich den Typen, den ich für den Vater hielt, nicht als Vater
angegeben. Es ist doch viel besser, wenn das Kind weiß, wer sein Vater ist, als
wenn im Ausweis oder sonst wo steht: Vater unbekannt...“
„Du
warst dir also sicher, dass er der Vater ist?“
„Na
klar, denn es war anscheinend die bequemste und die beste Lösung für mich. Und
leider auch die teuerste...“ Rebekka grübelte immer noch darüber nach, wie es
passieren konnte, dass sie Daniel nicht als Vater in Betracht gezogen hatte.
„Es war
bestimmt nicht leicht für dich“, sagte Claudia mitfühlend.
„Ich
wollte das Kind. Seltsam, ich wollte es. Vorher wollte ich nie eins haben. Ich
hatte immer Angst, dass ich...“ Rebekka brach ab.
„Dass du
damit nicht fertig wirst?“
„Natürlich“,
sagte Rebekka. „Ich hatte Angst, wie meine Mutter zu sein. Jedenfalls habe ich
im ersten Moment sogar an Abtreibung gedacht.“ Sie schaute Claudia wie um
Verzeihung flehend an.
„Ich
kann dich verstehen. Aber du hast es dann doch nicht getan.“
„Ich
wollte es, seitdem ich es gespürt hatte.“ Rebekka lächelte. „Und außerdem hatte
ich die Nase voll davon, durch die Kneipen zu ziehen und jemanden aufzureißen.
Auf Dauer wäre ich dabei vor die Hunde gegangen. Ich wusste nur nicht, wie ich
es finanzieren sollte, ich hatte zwar einiges gespart, aber nicht genug. Und
dann rief mein Vater an und machte mir das Angebot, mir mein Erbe vorzeitig
auszuzahlen. Es war recht wenig, aber sechstausend Mark haben oder nicht
haben... Damit ging es dann so.“
„Er hat
dich bestimmt übers Ohr gehauen“, meinte Claudia.
„Das ist
normal bei ihm.“ Rebekkas Mund zitterte ein wenig.
„Ach
Gott!“ sagte Claudia mitleidig und schloss sie in ihre Arme. Rebekka lehnte
sich an sie und musste wieder weinen. Es war wie verhext, vorher hatte sie nie
richtig weinen können, aber seit sie hier in Kampodia war, hatte sie sich echt
zur Heulsuse entwickelt.
„Du
solltest ein wenig mehr Vertrauen in Daniel haben“, sagte Claudia schließlich.
„Ich glaube, er liebt dich.“
Rebekka
befreite sich aus Claudias Umarmung, nahm eine Serviette vom Tisch und wischte
sich damit die Tränen ab. „Aber er ist untreu und unzuverlässig, er hat mit mir
geschlafen, obwohl er noch mit einer anderen fest zusammen war.
„Ach
Kind, solche Dinge passieren. Aber jetzt ist er hier, er sorgt sich um dich und
um Morgaine, obwohl es ja wohl schon lange her ist, seitdem ihr...“
„Fast
fünf Jahre ist es her.“
„Er hat
dich also nicht vergessen. Und Morgaine hat eine Verbindung zu ihm.“ Claudia
fügte nachdenklich hinzu: „Bei uns in der Familie gibt es auch solche
unerklärlichen Dinge...“
„Ich
fühle mich nur so überwältigt, und ich habe Angst davor.“
„Manchmal
ist Nachgeben das Vernünftigste. Und wenn man kein Risiko eingeht, dann ist das
ganze Leben sinnlos.“
Dieser
Satz setzte sich in Rebekkas Hirn fest. Allerdings auf englisch, nämlich: No risk, no sense,
no fun…
„Und die
Hauptsache ist doch wohl, was du für ihn fühlst.”
„Das
weiß ich nicht“, gab Rebekka zu. „Er ist fantastisch im Bett, er ist Morgaines
Vater. Er ist in meinen Gedanken, ich weiß nicht, ob ich ihm trauen kann, er
verunsichert mich...“
„Das
sollte wohl reichen!“ meinte Claudia und fing an zu lachen.