Kapitel
I – Teil 1 ANKUNFT
Auf dem letzten Stück der Fahrt ging es ständig bergauf.
„Meine Güte, wie hoch liegt das hier?“, fragte
Sabine.
„Ziemlich hoch“, Rebekka schaltete die
Scheibenwischer ein, denn die anfänglich zarten Tropfen hatten sich zu einem
richtigen Landregen ausgewachsen. „Hier fällt bestimmt schon Schnee, wenn
woanders noch die Sonne scheint...“
„Sind wir bald da?“
„Oh ja, hoffentlich“, meinte Rebekka ziemlich genervt. Nicht die
vierstündige Reise hatte sie geschafft, sondern die Streitereien hinter ihr.
Okay, Sammy war ein netter Kerl, aber leider hatte er im letzten Jahr diese
Tussi auf einer Busreise nach Spanien kennen gelernt, sich in sie verknallt und
kurz darauf geheiratet. Männer über fünfunddreißig waren wohl sehr anfällig für
so was.
Immerhin hatten die beiden Morgaine ein wenig unterhalten, wenn sie
sich nicht gerade stritten oder abknutschten. Morgaine war Rebekkas ein und
alles, nie hätte sie gedacht, dass sie jemanden so lieb haben könnte.
„Sind wir bald da, Mammi?“, fragte nun auch Morgaine, und Rebekka warf
einen Blick nach hinten, wo die Vierjährige angeschnallt in ihrem Kindersitz
saß. „Noch nicht ganz, Morgy, aber bald...“
Jedenfalls ging es die letzten paar Kilometer ständig bergauf. Zum
Arsch der Welt, wie Rebekka dachte. Gott, was für eine absurde Idee, hierhin zu
fahren, nur auf die vage Einladung von einem gewissen Max, den sie von früher
her kannte. Er hatte vor ein paar Jahren in ihrer Stammkneipe gearbeitet, ein
Eigenbrötler mit einer sehr schönen und intelligenten Freundin. Manchmal hatte
Max sie, Rebekka, sehr seltsam angeschaut, nie direkt, sondern immer haarscharf
daneben, als wolle er sich eine Illusion erhalten. Vielleicht kannte er
jemanden, dem sie ähnlich sah. Und auf Sabines teilweise heftige
Zudringlichkeiten hatte er zwar nett, aber ausweichend reagiert, das imponierte
Rebekka wirklich, obwohl es ihr auch leid tat für Sabine. Sabine machte zwar
allgemein den Eindruck eines männermordenden Weibes, aber sie war sehr
empfindlich, hatte schon viel Mist erlebt, soff ab und zu recht ordentlich,
hing dann Männern um den Hals und machte sie unbarmherzig an. Rebekka beneidete
sie manchmal um ihre Lockerheit, denn sie selber lebte seit zwei Jahren wie
eine Nonne. Sie musste lächeln und korrigierte sich im Geiste: Wie eine Nonne
mit Kind...
Der Wagen rumpelte über irgendetwas, es entpuppte sich als verregnetes
Bahngleis, und Rebekka erkannte ein Schild am Straßenrand: ‚Kampodia 3 km’.
Sie hatten es endlich geschafft. Es ging zwar immer noch bergauf, aber
der Regen ließ auf einmal schlagartig nach, als ob sie eine magische Grenze
passiert hätten, und tatsächlich ahnte man durch die grauen Wolken hindurch die
Sonne.
Zur Linken erstreckte sich eine lange Bergkette, an die sich kleine
Orte schmiegten, zur Rechten sah man ein Sägewerk, in dem man heftig sägte und
fräste. Die Luft roch nach Holz und nach Sägespänen.
Vor einer scharfen Rechtskurve tauchte dann endlich ein Schild auf: ‚Willkommen
in Kampodia’.
Der Ort wirkte malerisch, der unvermeidbare Verfall der Dinge war
durch die Jahreszeit in ein frisches Grün gekleidet, und Rebekka fühlte sich an
ihre Heimatstadt erinnert. Ihre Eltern grenzte sie bei diesen Erinnerungen
automatisch aus, denn die hätten das Malerische nur gestört. Ihre Eltern
wussten auch nichts von Morgaine, sie hatte ihnen ihr Enkelkind verschwiegen,
sie wollte nicht, dass sie Morgaine in ihre Finger bekamen und sie verkorksten,
so wie sie... Rebekka verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich auf die
Straße.
Ein idyllischer Teich versperrte die Weiterfahrt, es ging nur nach
links oder nach rechts. Auf der anderen Seite des Teiches erhob sich ein
Schloss, nein, es war kein Schloss, es war eher ein Herrenhaus. Seltsames Wort,
aber es drängte sich Rebekka auf.
Sie zögerte kurz, bog dann links ab und fuhr die geschlängelte Hauptstraße entlang bis zum Ortsausgang, was circa eine Minute dauerte. Beim Schild ‚Landsende 5 km’, musste sie auflachen, ‚Landsende‘ war zu komisch, kam einem fast so vor, als ob der Ozean ganz nahe wäre.
Sie wendete das Auto, fuhr langsam zurück und versuchte krampfhaft einen Eingeborenen zu finden, der ihr Auskunft geben konnte, doch leider war weit und breit kein Mensch zu sehen.
Das Kaff Kampodia war anscheinend nicht sehr groß. Rebekka schätzte es
auf vielleicht zweitausend Einwohner.
Endlich sah sie ein verhutzeltes Weiblein, das gerade aus einem
kleinen Laden herauskam, möglicherweise handelte es sich bei diesem Laden um
eine Bäckerei, denn die Frau trug unter dem Arm ein glänzendes hellbraunes
Brot, das mit einem Stück Papier umwickelt war. Hatten die sonntags auf?
Rebekka hielt kurzentschlossen an und schwang sich aus dem Auto.
„Tschuldigung! Die von Kampes, wo wohnen die?“, fragte sie für ihre
Gemütsverfassung sehr höflich – Rebekka hegte nämlich einen bestimmten
Verdacht, irgendjemand hatte sie in dieses Kaff gelockt, und die Einladung von
Max war nur ein übler Scherz. Dagegen stand allerdings, dass sie mit Max
telefoniert hatte, aber das konnte fingiert worden sein...
„Die von Kampes?“ Die tausend Gesichtknitterfalten des verhutzelten
Weibleins verzogen sich zu einem Lächeln. „Da müssen Sie zurück, biegen Sie an
der Strulle links ab. Und danach sofort wieder rechts. Da ist das Gut.“
„Danke schön!“ Strulle? Gut? Was gut? Was meinte das Weiblein? Rebekka
stieg wieder in den Wagen und sagte entnervt zu Sabine: „Manchmal möchte ich
mir wirklich das Rauchen wieder angewöhnen...“
Sabine schwieg, sie träumte nämlich gerade von einer Dusche.
Rebekka schaute aufmerksam nach links, sie entdeckte einen größeren
asphaltierten Trampelpfad, setzte den Blinker und fuhr nach links. Fuhr langsam
an einem mit Steinen ummauerten Wässerchen vorbei, möglicherweise handelte es
sich dabei um die Strulle, und was hatte das Weiblein sonst noch gesagt, ach
ja, dann sofort wieder rechts. Rebekka riss das Steuer herum...
...Und landete zu ihrem Erstaunen in einem riesigem Hof. Links vom
Eingang des Hofes stand ein Torhüterhäuschen, Neuere Generationen hätten es
vielleicht als Poolhaus bezeichnet. Sie waren in einem riesigen Gutshof
gelandet. Ein Gut, natürlich, jetzt verstand sie, was das Weiblein gemeint
hatte.
Sie fuhr ganz vorsichtig weiter. Vor allem fuhr sie vorsichtig, um
keins von den gackernden Hühnern platt zu fahren, die gemächlich über den
riesigen Hof stolzierten. Das wäre kein guter Einstand gewesen. Vor Rebekkas
geistigem Auge erschien das Bild, wie sie dem Besitzer des Gutes ein vollkommen
flaches Huhn überreichte – und wie der Besitzer des Gutes dann sagte: Nein, das
ist keins von unseren. So platte Hühner haben wir nicht... Sie musste lächeln,
dieser Witz war wirklich uralt.
Der Weg
gabelte sich, links befand sich eine kleine aus Natursteinen gemauerte Kirche,
ein schmuckloses Gebäude im Miniformat. Besaßen die von Kampes etwa eine
Privatkirche?
Zur Rechten erstreckten sich Stallungen, jedenfalls sahen sie so aus.
Und in der Mitte verströmte ein üppiger Misthaufen typischen Landgeruch.
Aus den Stallungen eilte gerade ein gut aussehender großer Mann
heraus, er trug Gummistiefel und einen blauen Overall, hatte schwarzes, kurz
geschnittenes Haar, eine athletische Figur und einen energischen Gang. Er
winkte den Insassen des Autos kurz zu und verschwand dann mit langen Schritten
in dem Torhüterhäuschen, in dem Poolhaus, oder je nachdem, was es nun wirklich
war.
„Der sah aber gut aus“, meinte Sabine verträumt.
„Das war doch Max!“ sagte Rebekka.
„Sag’ ich doch, der sah aber gut aus!“
„Wolltest du nicht ’ne Dusche?“ Rebekka schaute Sabine von der Seite
her an. „Dann nimm am besten gleich ’ne kalte...“
Ein paar Leute, größtenteils ältere schwarz gekleidete Frauen kamen
gerade aus der Kirche, die Kirchenglocke ertönte leise und melodisch, und es
roch nach Koteletts.
Nach Koteletts? Klar doch, bis zum Mittagessen war noch Zeit, und
diese Zeit nutzten Ehemänner und Junggesellen, um in der vielleicht einzigen
Kneipe des Ortes noch mehr Bier zu inhalieren. Und viele Koteletts würden kalt
und viele Frauen sauer werden...
>>> Die Kirchenglocke ertönt
leise und melodisch, und es riecht nach Koteletts. Am Sonntag gibt es zum
Mittagessen fast immer Koteletts mit irgendeinem Gemüse, das in einer fetten
Mehlsoße schwimmt. Die Mutter ist stinksauer, weil der Vater noch in der Kneipe
ist und lässt ihren Zorn an Rebekka aus. Eigentlich ist sie immer sauer auf
Rebekka, und manchmal schlägt sie ihre Tochter mitten ins Gesicht, sogar vor
irgendwelchen Nachbarn, und das demütigt Rebekka mehr als die Schläge. Der
Vater kümmert sich nicht viel um das, was die Mutter mit ihr anstellt. Aber
manchmal lässt er sich von ihr aufhetzen, und Rebekka bekommt Stubenarrest. Ihr
einziger Trost ist, dass sie gut lernt. Sie ist zwar nicht die Klassenbeste,
dazu hat sie zu wenig Ehrgeiz, aber ihre Lehrerin ermuntert sie, aufs Gymnasium
zu gehen und später zu studieren. Aber das wird nie passieren, sie ist ja nur
ein Mädchen. Mädchen heiraten und müssen keinen aufwändigen Beruf erlernen...
<<<
Rebekkas Erinnerungen verblassten, denn just in diesem Moment sah sie
das Herrenhaus zum erstenmal von vorne.
Es war riesig, es wirkte absolut ebenmäßig, es war mit altrosa
Schiefer behangen, und die vielen Fenster mit ihren weiß gestrichenen
Fensterläden hoben sich apart davon ab.
Das Haus erhob sich zweigeschossig, oder sagte man dreigeschossig
dazu? Jedenfalls gab es eine Art Souterrain mit tiefliegenden Fenstern, dann
das Erdgeschoss, den ersten Stock und einen ausgebauten Dachboden. Vor dem Haus
führten links und rechts zwei Treppen zu der großen dreiflügeligen Eingangstür
empor. Klassisch wirkende Säulen stützten die Galerie im ersten Stock.
Rebekka stutzte, sie kannte das Haus, aber vielleicht erging es einem
mit vielen schönen Dingen so, man erträumt sie sich einfach. Hinter dem Haus
gab es sicher einen riesigen Garten mit hohen Bäumen. Bei gutem Wetter würden
dort Liegestühle aufgestellt werden, und die weniger Sonnenhungrigen würden
sich der Sonne entziehen, den dunklen Schatten der Bäume aufsuchen und coole
Drinks zu sich nehmen...
Rebekka lenkte den Volvo in eine der Parkbuchten, die vor dem
Herrenhaus angelegt waren. Die beiden Wege vereinigten sich nämlich, und man
konnte entweder die Kurve kratzen, oder vor dem Herrenhaus parken. Eine andere
Möglichkeit gab es nicht, bis auf einen Fußweg, den Rebekkas scharfe Augen
erspäht hatten, aber da würde sie mit dem Auto nicht entkommen, huch, was
dachte sie denn da, durchkommen können natürlich...
Als Rebekka die Autotür öffnete, tauchte neben ihr ein älterer Mann
auf, der sie ein wenig erstaunt ansah, aber das war bestimmt nur Einbildung.
„Du musst Rebekka sein“, sagte er zu ihr, während sie sich aus dem
Auto schälte.
„Wieso sind Sie nicht beim Stammtisch?“ fragte Rebekka und lächelte
ihn an.
„Es heißt, wieso bist DU nicht beim Stammtisch.“ Auch er lächelte.
„Ich habe ihn heute ausfallen lassen, weil ich euch unbedingt begrüßen wollte.
Und nenn' mich bitte Archie...“ Er zog kurz ihre Hand an seine Lippen, und sie
musste fast lachen über diesen ersten Handkuss ihres Lebens. Obwohl, es hatte
ihr schon jemand die Hand geküsst, aber nach dem Sex und – ach Mist...
„Dann sind Sie äääh… bist du Archibald von Kampe?“ Rebekka fiel es
ungewohnt leicht, ihn zu duzen.
„Das bin ich dann wohl.“ Archie machte den Eindruck eines klugen
erfahrenen Mannes, seine Stimme klang ähnlich wie die von Sean Connery
–synchronisierte Fassung – und er sah auch ein bisschen aus wie Sean Connery.
Vermutlich war er ein Drecksack, wie er im Buche stand, und vermutlich mochte
sie Drecksäcke, denn sie war im Laufe ihres Lebens schon auf ein paar
hereingefallen. Allerdings waren die alle ein bisschen jünger gewesen, denn
Rebekka hatte nie nach Vaterfiguren gesucht.
Sie stellte dem Herrn des Gutshofes das muntere Sammy-Biggi-Ehepärchen vor – und auch Sabine, die mittlerweile aus dem Auto geklettert war und ihre zarten Glieder provozierend reckte. Sabine starrte Archibald mit ihren großen braunen Augen an. Und der küsste ihr natürlich auch die Hand und hielt sie ein wenig länger fest als zuvor bei Rebekka und bei Biggi. Es machte Sabine verlegen, stellte Rebekka erstaunt fest. Ihre Freundin schien schwer beeindruckt zu sein, war ja auch zu verstehen, Archie wirkte trotz seiner altmodischen Höflichkeit kein bisschen dekadent, nein ganz im Gegenteil. Dieser Junker, sie schätzte ihn auf fünfundvierzig bis fünfzig Jahre, wirkte absolut männlich. Sogar sein leichter Landgeruch, eine Mischung aus Misthaufen, Pfeifentabak und Pferdedunst war nicht abstoßend, sondern Vertrauen erweckend und angenehm. Es hieß doch Pferdedunst, oder? Rebekka fühlte sich zwar im Grunde als Landkind, aber so genau wusste sie das auch nicht.
„Ja, und
wer ist denn das?“ Archibalds Blick richtete sich auf die kleine Morgaine, die
mittlerweile von Rebekka aus ihrem Kindersitz befreit worden war.
„Morgaine?“
Morgaine schaute ihn neckisch an.
„Du bist
aber eine Hübsche!“ Archibald streckte die Arme aus, und Morgaine ließ sich willig
hochheben, was Rebekka etwas erstaunte, denn normalerweise verhielt sich
Morgaine gegenüber Unbekannten sehr reserviert. Andererseits fasste sie
manchmal auch sofort Vertrauen zu wildfremden Leuten. Verstehe einer Morgaine!
„Andromeda
ist schon sehr gespannt auf euch. Wo steckt das Mädel nur?“ sagte Archies
sonore Stimme gerade.
Sabine
schaute Rebekka fragend an.
„Max hat
am Telefon von ihr gesprochen...“, erklärte Rebekka ihr.
„Da
kommt sie ja!“ Archibald blickte zu den Ställen herüber.
Aha, das
Töchterchen! Rebekka. war ziemlich neugierig auf diese Andromeda, denn Max’
Stimme hatte so seltsam geklungen, als er von ihr sprach.
Sie sah
ein Mädchen aus der Stalltür herauskommen, es war fast schon eine junge Frau,
und diese junge Frau kam ihr so bekannt und vertraut vor, als würde sie sich
selber flüchtig im Spiegel betrachten. Sie trug verwaschene blaue Jeans,
Reitstiefel und eine strahlend weiße Bluse, um deren Weißheit sie Rebekka
beneidete. So weiß würde sie eine Bluse nie kriegen... Sie besaß langes dunkles
Haar wie Rebekka, sie hatte es zu einem praktischen Pferdeschwanz
zusammengerafft, trotzdem fielen ihr vorwitzige Strähnchen in den Nacken. Ihre
Figur ähnelte Rebekkas sehr, nur war sie ein wenig größer und robuster.
Sie trat
mit langen geschmeidigen Schritten näher, und Rebekka konnte nun ihre großen
graugrünen Augen sehen. Sie sah aus wie eine wunderschöne Katze!
„Meine
Tochter Andromeda“, sagte Archibald von Kampe, der immer noch Morgaine auf dem
Arm hatte, wo sie sich sichtlich wohl zu fühlen schien. „Wir nennen sie Andy.“
Rebekka lächelte ein wenig unsicher. Sie hatte das Gefühl, das Mädchen
zu kennen. Es war wie ein Déjà Vu, aber das konnte nicht sein, denn sie wusste,
dass solche Gefühle irrationaler Quatsch waren. Gut, sie sah ihr ein bisschen
ähnlich, aber das Haar von dieser Andy war viel lockiger als ihres, ihre Augen
waren auch viel schöner als ihre und..
„Du bist
ja süß!“ Andromeda schaute Morgaine liebevoll an und streckte ihr einladend die
Arme entgegen.
„Ich bin
süß!“ krähte Morgaine und rutschte ihr willig entgegen.
Rebekka
seufzte auf. Bei ihrer Tochter war sie wohl abgemeldet.
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Kapitel
I – Teil 2 HERRENHAUS
Archibald hatte sie in eine Wohnung im ersten Stock geführt. Sie war
gut aufgeteilt, mit zwei kleinen Schlafzimmern, einem großen Wohnraum mit
Kochnische und natürlich einem Badezimmer mit Wanne und Dusche. Von den
Schlafzimmern aus gelangte man auf die Galerie, die rund ums Haus lief und die
durch Holzspaliere von den anderen Wohnungen abgeteilt war. Von dort aus sah
man hinunter auf eine riesige Terrasse und einen parkähnlichen Garten mit
vielen alten Bäumen. Rebekka hatte also recht gehabt mit ihrer Vermutung.
Nachdem sie ihre Sachen in den Schränken verstaut hatten, führte
Archibald sie im Haus herum. Sammy und Biggi waren nicht bei der Führung
zugegen, wahrscheinlich hatten sie Wichtigeres zu tun, und Archibald
entschuldigte ihre Abwesenheit mit einem wissenden Grinsen.
Er fing ganz unten im Haus an, welches zwar ein Hotel war, aber kein
besonders typisches, denn die Besucher wurden eher wie Familienmitglieder
behandelt, und sie mussten anscheinend auch viel Eigenleistungen erbringen, wie
Archibald mehrmals andeutete.
Im Souterrain befanden sich die Wirtschaftsräume.
„Wie praktisch“, meinte Rebekka.
„Hier sind die Waschmaschinen und die Trockner, falls ihr etwas
waschen wollt. Natürlich könnt ihr eure Wäsche auch bei Mansell abgeben.“
Rebekka und Sabine entschieden spontan, ihre Wäsche selber zu waschen.
Zumindest größtenteils, wenn es denn bei den fünf Urlaubstagen bliebe. Max
hatte ihnen geschrieben, dass sie bei Gefallen unendlich verlängern könnten.
Allerdings hatte Sabine nur fünf Tage Urlaub – und Rebekka bis jetzt noch keine
Ahnung, ob und überhaupt...
Archibald zeigte ihnen die Vorratskammer, darin hingen riesige
geräucherte und ungeräucherte Schinken und Würste aus eigener Schlachtung,
standen massenhaft Konserven und Einmachgläser, gefüllt mit Obst und Gemüse,
und im kleinen Kühlhaus stapelten sich Kisten mit Mineralwasser, Limonade und
Bier.
„Bist du Brauereibesitzer?“ fragte Rebekka aus Spaß.
„Das bin ich! Die Brauerei ist unser drittes Standbein, nach dem
Gutshof und dem Hotel...“
„Ist ja irre“, murmelte Rebekka und musste grinsen.
Im Souterrain gab es zwei Wohnungen, und zwar die von Tante
Bernadette, der Köchin – und von Mansell, die wohl eine Art Hausdame war. Die
beiden hüteten übrigens für ihr Leben gern die Kinder anderer Leute, wie Archie
erzählte.
Sabine wies auf eine Tür, an der ein Schild mit Aufschrift ‚Swimming
Pool’ hing. „Ist da etwa ein Swimming Pool drin?“
„Er ist nicht besonders groß“, gab Archibald von Kampe zu, „nur sieben
mal vier Meter. Aber wenn man die Gegenstromanlage einschaltet, kann man ganz
nett schwimmen.“
Daraufhin war Sabine zum ersten Mal wirklich beeindruckt. Nur sieben
mal vier Meter! Eine Pfütze von einem Swimming Pool...
„Also weiter“, Archibald fing nun an, den Tagesablauf auf dem Hotelgut
zu erklären: „Frühstück gibt es schon ab sieben. Sieben Uhr hört sich vielleicht
früh an“, er lächelte, „aber die meisten unserer Gäste stehen früh auf, um
irgend etwas zu unternehmen, seien es Ausflüge oder Erbsenpflücken. Manche
wollen schon um sechs Uhr geweckt werden.
Erbsenpflücken? Rebekka überlegte. Was zum Geier sollte das für eine
tolle Unternehmung sein?
„Kannst du reiten, Rebekka?“, fragte Archibald sie in ihre Gedanken
hinein.
„Nein, ich glaube nicht...“ Sie hatte zwar mal auf einem dicken Bauernpferd gesessen, aber das konnte man wohl nicht als Reiten bezeichnen
„Du solltest es unbedingt lernen. Wir haben da ein besonders
gutmütiges kleines Pferdchen. Ein richtiges Schaukelpferdchen.“
„Ssaukelferdchen? Ich mag Ssaukelferdchen!“ Morgaines süße Stimme
meldete sich wieder zu Wort.
„Ach Morgi, du kennst doch nur die aus Holz“, Rebekka schaute ihr
Töchterchen besorgt an.
„Wir haben hier auch ein winziges Pony“, sagte Archibald und zwinkerte
Morgaine zu. „Das könnte für dich passen. Aber du hast doch bestimmt Angst, auf
einem Pony zu sitzen?“
„Wer ich, nööö!“
„Aber ICH hab’ Angst, du bist doch noch so klein...“ gab Rebekka zu
bedenken.
„Andy pässt auf!“
„Na gut, wenn Andy aufpässt...“ Rebekka musste lachen. „Und Archibald
pässt bestimmt auch auf.“
Archibald von Kampe lächelte zustimmend. „Und du Sabine? Wie steht’s mit dir?“
„Du lieber Himmel! Auf so ein Biest kriegt mich keiner drauf!“
„Wir werden bestimmt auch für dich etwas finden...“ Bei diesen Worten
hörte sich Archies Stimme noch sonorer an als sonst.
Er fuhr mit seinen Ausführungen fort: „Mittagessen gibt es bei uns
nicht – wer Hunger hat, kann sich aus dem Kühlschrank bedienen – aber am frühen
Nachmittag vespern wir, dann gibt es Malzkaffee, Milch und Brot mit Marmelade,
Schmalz, Mettwurst und Schinken.“
„Mein Cholesterinspiegel steigt schon beim bloßen Zuhören“, sagte
Rebekka lächelnd. Sie sah, dass Morgaine gerade in die Vorratskammer
marschierte, hoffentlich stellte sie dort keinen Unsinn an. Und wieso kannte
sich ihr Töchterchen so gut mit den Örtlichkeiten aus, obwohl sie doch noch nie
hier war?
„Der Cholesterinspiegel ist hier kein Thema, das Fett verbrennt
vollständig, und man nimmt sogar noch ab. Das macht der viele Sauerstoff in der
Luft.“
„Echt?“ fragte Sabine ungläubig.
„Echt!“ Archie lächelte sie an. „Um noch mal auf die Aktivitäten zurück
zu kommen, man kann hier in der Nähe Segelfliegen oder mit dem Gleitschirm was
machen. Oder einfach nur wandern oder joggen. Und wir bieten noch ganz
besondere Aktivitäten, ich nenne mal ein Beispiel: Ein weiblicher Gast, eine
reiche Industrielle liebt es, der Köchin zu helfen.“
Rebekka und Sabine schauten sich verblüfft an.
„Jawohl, sie findet Vergnügen daran, Brot zu schneiden, Gemüse zu
schnetzeln, Kartoffeln zu schälen, der Köchin bei ihrer Arbeit zuzuschauen,
einen Speisenplan aufzustellen und natürlich auch für viele Leute zu kochen. Es
handelt sich eine Art Kochkurs für Großfamilien, nach dem Motto: Man nehme
zwanzig Eier...“ Archie amüsierte sich sichtlich. „Übrigens sind Tante
Bernadette und Mansell Schwestern von mir, die sich hier die Langeweile
vertreiben mit ihrer Arbeit, man kann die Tanten also nicht als Personal
bezeichnen.“
„Vielleicht wäre das mit der Küche was für dich“, schlug Sabine vor
und schaute Rebekka dabei hinterhältig von der Seite her an.
„Möglicherweise...“, Rebekka verfiel in einen leicht tranceartigen
Zustand. Sie hat gerade ein wunderbares Mahl zubereitet, und alle loben
begeistert ihre Kochkünste. Natürlich sind nur ein paar Leute da, Sabines
Eltern, mit denen sie sich gut versteht und ihre ältere Nachbarin, die manchmal
Morgaine betreut. Mit Sabine und Morgaine sind sie sechs Personen, eine
Großfamilie in den heutigen Zeiten...
„Wir hätten vielleicht doch die Schürzen einpacken sollen“, witzelte
Sabine, doch Rebekka hörte sie gar nicht, sie träumte weiter ihren Großfamilienkochtraum.
Dann jedoch sagte Archie etwas, das sie aufwachen ließ.
„Wenn jemand lesen möchte, steht ihm unsere Bibliothek zur Verfügung.
Meine Vorfahren haben allerlei Schätze im Laufe der Jahre zusammengetragen, von
Ovid bis Brecht. Aber wir haben natürlich auch neuere Literatur.“
„Eine Bibliothek?“ Das war irre! Rebekka hatte ihren Lesedurst wegen
Geldmangels immer nur in öffentlichen Bibliotheken stillen können. „Wo ist
sie?“
„Im Parterre hinter dem Frühstücksraum.“
Archie zeigte ihnen nun den Frühstücksraum, der auch als Bar,
Aufenthaltsraum und sogar als Billardzimmer diente. Eigentlich war er Teil des
ehemaligen Ballsaals, der einmal im Jahr zu seiner ursprünglichen Größe
erweitert wurde, und zwar für das traditionelle Sommerfest.
„Bei gutem Wetter frühstücken und vespern wir natürlich draußen.“ Er
wies auf die zweiflügelige Glastür, durch die es hinaus auf die geräumige
halbrunde Steinterrasse ging. Dort standen silbrig patinierte Holztische,
Stühle und Deck Chairs. Eine Steintreppe führte hinunter in den riesigen Park,
der von einer halbhohen mit Efeu und wildem Wein fast völlig zugewucherten
Backsteinmauer umschlossen war.
„Im Augenblick ist es wirklich ein bisschen kühl“, Archibald
betrachtete skeptisch die dicken grauen Wolken, die eilig über den Himmel
wanderten, „aber bis jetzt hatten wir immer Tage, an denen wir draußen gesessen
haben.“
„Wundervolle alte Ahornbäume“, sagte Sabine.
„Das sind Platanen und keine Ahornbäume“, klärte Archibald sie auf.
„Die einen haben nämlich als Früchte kleine Propeller und die anderen
stachelige Kugeln.“
„Und ich habe mein Leben lang alles für Ahörner gehalten. Was für ein
Irrtum!“ Dabei sah Sabine Archibald intensiv in die Augen.
Sie ist an ihm interessiert, dachte Rebekka verblüfft. War er nicht
ein bisschen alt für sie? Aber Archibald war bei Gott kein Tattergreis, er war
unglaublich attraktiv und außerdem ging sie das doch gar nichts an.
Wie sah es wohl außerhalb des Parks aus? Sie schlenderte nach rechts, und Morgaine lief ihr munter hinterher.
Rebekka hob sie hoch, setzte sie auf die fast schulterhohe Mauer und hielt sie ganz fest. Mutter und Tochter sahen auf einen Teich, der teilweise mit einem grünen Zeug bedeckt war und auf dem mehrere Schwäne majestätisch daher schwammen.
„Hühner“, Morgaine deutete auf die Schwäne.
„Nein, das sind Schwäne, Hühner können nicht schwimmen.“ Huch, was
erzählte sie denn da? Es gab mit Sicherheit Hühner, die schwimmen konnten. Nur
die Haushühner konnten das nicht. Hatten sie es jemals gekonnt? Knifflig...
„Ich weiß nicht alles, Morgy“, gab sie verlegen zu.
Morgy drehte sich zu Rebekka, strahlte sie an und schlang zärtlich die
Arme um ihren Hals. „Ein kleines Haus mit vielen Leuten!“, rief sie fröhlich.
Rebekka folgte ihrem Blick und sah es nun auch, das hinter üppigen
Rhododendronbüschen versteckte Häuschen mit der rostigen Eisentür. Es kam ihr
vor wie auf einem Friedhof...
„Das Häuschen sieht aber nicht sehr gemütlich aus“, sagte sie zu
Morgaine.
„Es ist schön!“ Ihr Töchterchen hatte wie immer eine eigene Meinung
dazu. Es sah tatsächlich aus, als lausche Morgy in das Häuschen hinein. Dann
verlor sie das Interesse, fing an, mit Rebekkas Haaren zu spielen und fragte
plötzlich: „Mammi, was ist eine Enkelin?”
„Wie kommst du denn darauf?” Morgaine erstaunte sie immer wieder, und
meistens hatte sie absolut keine Ahnung, aus welcher unergründlichen Quelle sie
ihre spontanen Fragen bezog.
“Hab’ ich gehört...” murmelte Morgaine vor sich hin und spielte weiter
mit einer von Rebekkas Haarsträhnen.
“Eine Enkelin ist das Kind eines Kindes von jemandem”, erklärte
Rebekka ihrer Tochter, und anscheinend gab Morgaine sich damit zufrieden.
Hoffentlich fragt sie nicht eines Tages danach, wessen Enkelin sie ist, der
Gedanke bereitete Rebekka Sorge. Oder wer ihr Vater ist. Bis jetzt schien sie
keinen Vater zu vermissen, und das war gut so.
„Entengrütze und Mausoleum!“ sagte Archibald lakonisch, als Rebekka
mit Morgaine von ihrer Exkursion zurückkam. „Wir haben drei Teiche in Kampodia.
Den Oberen, das ist der, den man zuerst sieht, wenn man ankommt, den Mittleren,
den sieht man, wenn man nach rechts fährt – und den Unteren, der fast schon
außerhalb des Ortes liegt. Das hier ist der Mittlere.“
„Klingt einleuchtend“, Rebekka nahm sich in diesem Augenblick vor, Kampodia zu Fuß zu erforschen.
„Hey, man kann vom Garten in den Swimming Pool gehen. In den Raum mit
dem Pool, meine ich. Das ist ja wirklich praktisch!“, stellte Sabine gerade
fest.
Rebekka stimmte ihr zu, das war wirklich praktisch. Und nach dem
Mausoleum würde sie Archibald später fragen, irgendwann einmal. Sie fand es
nämlich ein bisschen unheimlich.
Sie gingen wieder ins Haus hinein, denn es war kühl draußen, obwohl
die Sonne ab und zu durch die Wolken schien.
„Der Sommer kann ganz plötzlich wiederkommen“, sagte der Hausherr, der
wohl das Bedürfnis verspürte, sich für die nicht so tollen Wetterverhältnisse
zu entschuldigen. „Aber wenn er da ist, dann bleibt er auch. Manchmal gibt es
ein heftiges Gewitter, und es gießt in Strömen, doch danach ist alles wieder
fantastisch.“
Er deutete auf die kleine Bar. „Hier ist Selbstbedienung angesagt,
jeder muss selber schätzen, wie viel er getrunken hat und wie viel er zahlen
muss.“ grinste Archibald vor sich hin. „Wir suchen übrigens immer jemanden, der
sich hinter die Theke stellt und die Leute bedient.“
„Hmmm, da fällt mir was ein. Ich hab’ die optimale Besetzung für die
Bar“, meinte Rebekka nachdenklich.
„Moment mal“, Sabines Stimme klang ein bisschen empört, „so versoffen
bin ich nun auch wieder nicht!“
„Du doch nicht, Baby“, Rebekka stupste sie freundschaftlich an. „Nein,
ich meine Sammy natürlich!“
„Natürlich!“, Sabine schaute erleichtert drein.
„Und was ist im Dachgeschoss?“ fragte Rebekka.
„Nun, dort wohne ich mit Andromeda. Und mit meiner zweiten Frau
natürlich – wenn sie mich mal besucht... Außerdem befindet sich dort unsere
Hochzeitssuite, aber die ist nur selten belegt.“
Archie sah bei der Erwähnung seiner zweiten Frau nicht gerade
glücklich aus, wie Rebekka fand.
„Kommen wir zum Abendessen. Es ist für uns die wichtigste Mahlzeit des
Tages. Meistens gibt es ein Büffet mit warmen und kalten Speisen, denn die
Gäste sind so ausgehungert nach einem arbeitsamen und mit Aktivitäten voll
gestopften Tag, dass sie ziemlich viel essen. Aber sie nehmen nicht an Gewicht
zu, nein...“
„Im Gegenteil“, sagten Rebekka und Sabine wie aus einem Munde. „Sie
nehmen sogar ab!“ Sie schauten sich an und mussten lachen.
„Wir nehmen sogar ab“, krähte Morgaine.
Auch Archibald von Kampe fing an zu lachen: „Ganz genau. Wir nehmen
sogar ab!“
Sie gingen durch die große dreiflügelige Eingangstür nach draußen, und
Archibald wies auf die Stallungen zur Linken: „Wir züchten jetzt nur noch
Pferde. Max hat das veranlasst. Der Junge hasst es, Vieh zu züchten. Natürlich
füttern wir ein paar Schweine durch, aber ich denke, die haben es ganz gut
hier.“
„Schwein sein auf Kampodia hat bestimmt seinen besonderen Reiz“, sagte
Sabine ein wenig spöttisch, und Archie schaute sie fasziniert an, jedenfalls
kam es Rebekka so vor.
„Schwein? Ich will die Schweine sehen!“ Morgaine stampfte trotzig mit
dem rechten Fuß auf.
„Du wirst sie schon sehen, die Schweine, aber heute nicht mehr“,
Rebekka nahm Morgaine auf den Arm. „Sie ist müde“, sagte sie zu Archie. „Ich
bringe sie ins Bett. Aber wo ist Max eigentlich? Er hat uns noch gar nicht
begrüßt.“
„Er hat immer viel zu tun“, Archibald lächelte. „Aber spätestens zum
Abendessen wird er da sein. Heute gibt es übrigens kein Büffet, sondern
serviertes Essen.“
„Wir werden es verkraften“, meinte Rebekka tapfer. „Ich meine, natürlich,
dass er erst zum Abendessen kommt...“ Sie sah, dass Andromeda gerade über den
Hof in Richtung Torhäuschen lief, und wieder hatte sie das Gefühl, das junge
Mädchen zu kennen, aber das war natürlich Blödsinn.
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Kapitel
I – Teil 3 BEGEGNUNGEN
~*~*~*~ Der Traum ist verschwommen, als würde
er in einen fließenden Bach hineinschauen. Alles bewegt sich zitternd, drehend,
ein Strudel von irrationalen Farben taucht auf, verschwindet – das Bild
beruhigt sich, und er sieht einen weißen Kamin.
Über dem Kamin hängt ein gerahmtes Bild, möglicherweise
stellt es ein Hochzeitspaar dar, am Kamin steht undeutlich ein großer junger
Mann mit dunklem Haar.
Sie wollen mich aber ich weiß nicht ob ich es tun
soll... Es klingt, als ob eine Schallplatte
rückwärts abgespielt wird.
Eine andere, hellere Stimme sagt in einem seltsamen
Singsang: Du bist der Richtige dafür David jeder der nicht nach der Macht
strebt ist der Richtige dafür.
Die junge Frau sitzt verschwommen vor einem Klavier und
spielt einige Töne an, die trotz der Verzerrungen melodisch klingen. Sie kommt
ihm bekannt vor. Kann es Morgaine sein?
Mein Sohn möge die Macht dann mit dir sein, sagt jemand, und um ihn herum bricht alles in Gelächter aus,
bis er es nicht mehr ertragen kann und sich die Ohren zuhält… ~*~*~*~
Ein Auto hielt gerade vor dem Herrenhaus, und alle schauten neugierig
darauf herunter.
Ein stämmiger, sympathisch wirkender Mann stieg aus, ihm folgte eine dralle untersetzte Brünette, die recht resolut aussah.
„Schau mal, Georg mit Frau ist da...“ sagte Rebekka vieldeutig.
„Die Zigarettenschnorrerin?“ Sabine verdrehte die Augen. „War ja
angeblich Nichtraucherin, und hat nur ganz ganz selten eine geraucht...“
„Das ist schon 'ne komische Nudel, wie heißt die noch? Ich kann mir
den Namen einfach nicht merken.“
„Die heißt kettenrauchende Schnorrernudel“, nahm Sabine den Faden auf,
und sie mussten beide kichern.
Dann stieg noch jemand aus dem Auto, und Rebekka hörte zögernd auf zu
kichern. Der sah ja fast aus wie... Nein, das konnte nicht sein, sie musste
sich täuschen, ihre Augen waren ja nicht so gut, und sie trug aus Eitelkeit
keine Brille. Es war ein Irrtum. Klar doch, einwandfrei ein Irrtum!
„Das ist nicht wahr, sag’, dass es nicht wahr ist!“ Sie schaute Sabine
flehend an.
„Sorry, aber er ist es“, lautete Sabines lakonische Antwort.
Er war groß, trug sein kurz geschnittenes dunkelblondes Haar vorne ein
wenig länger als hinten – und er sah einfach blendend aus mit seinem fast
klassischen Profil.
„Scheiße!“ zischte Rebekka in sich hinein. Was wollte der hier? Er war
ein beunruhigendes Relikt ihrer Vergangenheit, sie hatte doch mittlerweile
ihren Frieden gefunden, zog nicht mehr durch die Kneipen, immer auf der Suche
nach, nach ja was – und jetzt das? Verdammt, verdammt!
Andromeda, die gerade aus dem Verwalterhäuschen kam, sah das Auto und
natürlich auch seine Insassen. Und dann fiel ihr dieser Mann auf. Sie blickte
ihn an, und ihr Blick verriet, dass sie bis ins Herz getroffen war. Sie schaute
schnell zu Boden, um diesen Blick zu verbergen. Aber den Blitz, der in sie
gefahren war, als sie ihn zum ersten Mal sah, den konnte sie nicht verbergen.
Nicht vor sich selber.
Es war Liebe! Es musste Liebe sein! Denn so etwas hatte sie noch nie
erlebt, noch nie empfunden.
Rebekka bekam trotz ihrer Sehschwächen Andys Blick mit. War ja nicht weit weg. Na Klasse! Er hatte immer noch diese Wirkung auf Frauen. Und anscheinend auch auf Kinder. Das Mädchen mit dem seltsamen Namen Andromeda war so wundervoll jung. Andromeda war unschuldig, obwohl sie vielleicht körperlich keine Jungfrau mehr war, aber sie war noch unberührt, so ahnungslos, so anfällig für Liebe... Rebekka wusste das.
Verdammt, man konnte ihm nicht trauen! Wie kann man einem Mann trauen, der seine Freundin in der gemeinsamen Wohnung und im gemeinsamen Bett mit einer anderen betrügt?
Rebekka
wandte sich mürrisch ab, sie ging mit Morgaine ins Haus zurück, ohne die frisch
Angekommenen zu begrüßen. Nein danke, jetzt nicht. Heute Abend vielleicht, und
außerdem war Morgaine müde. Rebekka hatte es so eilig, ins Haus zu kommen, dass
sie gar nicht merkte, wie gespannt Morgaine sie anschaute.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Andromeda lag auf ihrem Bett. Ihre Gedanken waren seltsam verschwommen, und sie musste unaufhörlich lächeln. Sie hatte Angst, dass jedermann ihre Benebelung und ihr Glück spüren könnte. Deswegen wollte sie auch nicht dabei sein, wenn ihr Vater IHM und den anderen beiden das Haus zeigte.
„Komm’ her, Alfonso“, sagte sie zärtlich zu dem kleinen getigerten Kater, der gerade durch die nur angelehnte Tür hereinstolzierte. Alfonso war Andys Liebling. Sie hatte ihn bei seiner Geburt praktisch aus seiner Mutter herausgezogen, weil er mit seinem dicken Kopf im Geburtskanal stecken geblieben war. Sie hatte ihn trockengerieben, ihm ihren Atem in sein winziges Mäulchen geblasen, bis er endlich nach Luft schnappte.
Alfonso durfte im Haus bleiben, er wurde der unumstrittene König von
Kampodia, der Schrecken aller Hunde und ein wirklich unausstehliches verwöhntes
Tierchen.
„Mein Süßer“, flüsterte Andy ihm ins Ohr, denn er war natürlich sofort
auf ihr Bett gesprungen und trampelte auf ihrem Magen herum. „Wie findest du
ihn?“
Alfonso schnurrte laut in Andys Gesicht und schaute sie aus seinen
großen grünen Augen an, Alfonso war kein Blödmann... äääh Kater. Alfonso wusste
nur noch nicht, was er werden wollte, ein Huhn, eine Ente, ein Hund oder ein
Mensch? In diesem Alter war alles möglich...
„Er sieht so gut aus“, seufzte Andy. „Ich fühle mich schwach, wenn ich
in seiner Nähe bin. Ich hoffe, er merkt nichts davon...“
Alfonso bezog diese bewundernden Worte natürlich auf sich selbst, nach
dem Motto: Ich bin schön, ich bin klug – als Haustier bin ich überqualifiziert
– er legte noch einen Gang zu im Schnurren und ließ ein leises heiseres Krähen
hören.
„Er ist wunderbar“, sagte Andy. „Ich wusste, dass du auch so denkst,
mein süßer Alfi.“
Alfi rieb sein wunderbar getigertes Schnäuzchen an Andromedas Nase und
dachte: Ich bin wirklich wunderbar, und ich bin der Größte unter dem Ding, das
so schön warm ist...
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Morgaine schlief tief und fest.
Kann ich da runtergehen, fragte sich Rebekka. Was ist, wenn sie
aufwacht? Sie verfluchte das Abendessen, verfluchte ihren Appetit, denn schon
jetzt kam der Sauerstoffüberschuss in der Luft Kampodias zum Tragen, und sie
fühlte sich permanent hungrig. Und das nach nur ein paar Stunden! Hoffentlich
stimmte das mit den Kalorien, die hier zu Asche verbrannt wurden...
In diesem Augenblick klopfte jemand an die Tür. Rebekka zuckte
zusammen, das war doch wohl nicht Daniel? Blöder Gedanke, was sollte der hier
wollen?
Also öffnete sie die Tür und stand einer älteren Frau gegenüber.
„Ich bin Mansell“, sagte diese. Sie schaute Rebekka irgendwie
verwundert an, bevor sie hinzufügte: „Genauer gesagt, bin ich Claudia Mansell.“
„Und ich bin Rebekka“, Rebekka war etwas verwirrt, weil die Frau sie
so erstaunt ansah. „Äääh... Steiner, Rebekka Steiner, und ich hatte mir schon
gedacht, dass Sie nicht Nigel heißen...“
Claudia Mansell sah sie verständnislos an.
„Wie der Rennfahrer“, erklärte Rebekka.
Claudia Mansell fing an zu lachen, und sie sah auf einmal sehr jung
aus mit ihrem aufgesteckten blonden Haar und mit ihren lavendelblauen Augen.
Rebekka schätzte sie auf fünfzig Jahre oder jünger, ihre Figur war tadellos,
soweit man das beurteilen konnte, ihre Kleidung sah gediegen, elegant und
lässig aus, sie trug nur Schwarz. Rebekka musste automatisch an den Film „Die
Braut trug Schwarz“ denken.
„Ich bin eigentlich nur hier“, wieder schaute Claudia sie eindringlich
und forschend an, „um Ihnen meine Hilfe anzubieten. Sie haben ein kleines
Mädchen...“
„Oh ja, das habe ich“, bestätigte Rebekka.
„Archie hat Ihnen doch sicher gesagt, dass ich Kinder sehr liebe. Und
dass ich gerne auf Morgaine aufpassen würde.“
„Das ist nett von Ihnen.“ Rebekka überlegte, ob sie dieser Frau trauen
konnte. Vom Gefühl her sicherlich, sie fand sie sehr sympathisch, und das war
ungewöhnlich. Normalerweise hatte sie eine lange Aufwärmphase gegenüber fremden
Leuten, bevor sie ihnen ihr Vertrauen schenkte.
„Darf ich sie einmal sehen?“ Mansells Gesicht drückte eine ungewisse
Sehnsucht aus.
„Na gut, warum nicht.“ Rebekka führte Claudia Mansell in ihr
Schlafzimmer und wies auf die kleine Gestalt, die in dem großen Bett selig
schlummerte. Was für ein Engel Morgaine doch war, mit ihrem langen lockigen
Haar und ihren goldbraunen Augen, von denen man jetzt allerdings nicht viel
sehen konnte.
„Oh Gott, sie ist so süß!“ Claudia Mansell betrachtete Morgaine
hingerissen. In diesem Augenblick gab Rebekka ihr ohnehin nicht großes
Misstrauen auf, und sie sagte zu Claudia: „Das ist sie! Und ich werde sie
beschützen, egal was passiert!“
Beide Frauen blickten sich an, und es war ein seltsames Einverständnis
in diesem Blick.
Warum kann meine Mutter nicht so sein, dachte Rebekka und schaute
verlegen weg. Dann allerdings merkte sie, dass Claudia Mansells Mundwinkel
anfingen zu zucken und dass ihre Augen sich veränderten.
„Ich konnte es nicht beschützen“, murmelte sie schließlich tonlos, und
Tränen erschienen in ihren Augen.
„Was meinen Sie? Was ist denn los?“ fragte Rebekka bestürzt. Sie
hoffte, dass sie sich nicht in dieser Frau getäuscht hatte, denn die schien ja
etwas labil zu sein.
„Ich habe lange nicht mehr daran gedacht“, die ältere Frau starrte vor
sich hin. „Aber als ich eben dieses Kind sah, da kam alles wieder zurück...“
„Aber was denn?“
„Ich habe es doch gesehen, ich habe es doch gehört...“ Claudia Mansell
wiegte ihren Oberkörper leicht hin und her, als ob sie in Trance wäre. „Aber es
war tot.“ Ihr blass gewordenes Gesicht zuckte ein wenig. „Es war doch tot!“
„Sie hatten ein Kind?“ fragte Rebekka betroffen und legte den Arm um
Claudia.
„Ich hatte eins, und ich hatte keins. Ich habe es gehört und auch kurz
gesehen. Dann war es tot, als ich aufwachte, und es war nicht mein Kind.“
Rebekka schüttelte verwirrt den Kopf. Das hörte sich für sie wie eine
Psychose an. Sie dachte kurz nach. Eine Mutter verliert ihr Kind, es wird tot
geboren oder es stirbt kurz nach der Geburt. Die Mutter will es nicht glauben,
sie hat das Kind gehört und auch gesehen, sie will nicht wahrhaben, dass es tot
ist...
„Ich weiß mittlerweile, dass ich mir alles eingebildet habe.“ Claudia
hatte sich anscheinend gefangen und trocknete mit einem Taschentuch ihre
Tränen. „Die Ärzte haben mich davon überzeugt. Und ich war bei vielen
Ärzten...“
„Okay, wenn Sie also wollen, können Sie auf Morgy aufpassen“, sagte
Rebekka schließlich locker, es war ihr ein wenig peinlich, dass sie Claudias
Tränen gesehen hatte. „Außerdem bin ich ja nicht weit weg, und da ist auch noch
das Babyphon, ich weiß, das ist übertrieben für eine Vierjährige...“
„Sicher ist sicher! Ich werde also alle paar Minuten nach Morgaine
schauen.“
„Kommen Sie nicht zum Abendessen?“ Seltsam, sie würde sich bestimmt
sicherer fühlen, wenn diese Frau da wäre.
Claudia schüttelte den Kopf. „Normalerweise ja, aber heute nicht. Es
sind nur junge Leute da, außer Archie natürlich...“
„Das ist schade, aber dann morgen?“
„Natürlich, Rebekka.“ Claudia lächelte, und auf einmal sah sie sehr
jung aus. „Aber heute wollen wir dafür sorgen, dass Morgaine sich nicht einsam
fühlt, falls sie wach werden sollte.“ Sie wandte sich zur Tür.
„Danke, Claudia!“ Rebekka blickte ihr nachdenklich hinterher, sie
mochte diese Frau, vertraute ihr, obwohl sie nicht genau wusste warum.
Gut, für Morgy war gesorgt, aber jetzt hatte sie ein
neues Problem, nämlich was sie anziehen sollte. Warum machte sie sich überhaupt
Gedanken darüber, sonst war sie doch auch nicht eitel. Etwa, weil ER sie sehen
würde? Lächerlich!
Also zog sie nur ein anderes Oberteil an, ein
weißes, das zufälligerweise auch weit ausgeschnitten und ärmellos war. Es
brachte ihre Vorzüge perfekt zu Geltung, Rebekka fand nämlich ihre Arme ganz
nett und ihren Ausschnitt auch. Die schwarze Leinenhose behielt sie an, sie war
bequem und stand ihr gut.
Ihre klare Haut hatte einen bräunlichen Ton, ihr
langes dunkles Haar trug sie offen, die goldenen Strähnchen darin hatte Sabine
gefärbt, denn Geld für teure Frisörbesuche besaß sie nicht. Ihre schmalen
schräggestellten Augen waren nicht gerade klassisch schön, aber sie strahlten
in Lavendelblau, ähnlich wie die von Claudia Mansell. Ihre Nase kam ihr
unbedeutend vor, aber ihr Mund hatte eine schöne zarte Farbe. Die ausgeprägten
Wangenknochen gingen auch, und das Kinn war eindeutig vorhanden. Sabines Kinn
erschien ihr dagegen ein wenig schwächlich, trotzdem war Sabine natürlich viel
hübscher als sie. Und sie konnte sich gut verkaufen, etwas das Rebekka
vollkommen gegen den Strich ging, denn wie kann man sich gut verkaufen, wenn
man von der Ware ‚ICH’ nicht besonders überzeugt ist?
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Sabine erschien endlich, und sie sah recht aufgekratzt aus.
„Ich finde ihn hinreißend“, waren ihre ersten Worte. „Er ist wirklich
intelligent!“
„Oh bitte! Du weißt genau, was du für Intelligenz hältst, ist manchmal
nur pures einstudiertes Geschwafel.“ Rebekka hatte so ihre Erfahrungen mit
Sabines Liebhabern gemacht. Und mit ihren eigenen natürlich auch.
„Diesmal nicht!“ Sabines Stimme klang überzeugt. „Er hat jede Menge
Bildung und Kultur.“
„Meinst du das im Ernst?“ sagte Rebekka ironisch. Was faselte Sabine
da eigentlich?
„Archibald ist wirklich intelligent!“
„Archibald? Du meinst Archibald? Okay, da hast du recht!“
„Natürlich meinte ich Archibald!“ Sabine überlegte angestrengt, bis
sie drauf kam: „Du meintest Daniel, gelle?“
„Nicht wirklich“, sagte Rebekka ein wenig verlegen.
„Er ist also wieder da, der Daniel, er wohnt bei uns in der Nähe, und
er arbeitet wieder in seinem eigentlichen Beruf.“
„Wie denn, was denn? Er hat keine Kneipe mehr?“
„Nein, keine Kneipe mehr. Diese Phase seines Lebens ist vorbei. Hat er
gesagt.“
„Ich freue mich für ihn und hoffe, dass er sich nicht wieder blind in irgendeine
Tussi verliebt.“ meinte Rebekka spöttisch.
„Ach was, der hat seine Lektion gelernt!“
„Glaube ich nicht...“
„Jedenfalls finde ich ihn hinreißend! Archie natürlich... Was soll ich
zum Abendessen anziehen, was meinst du?“
Rebekka seufzte auf, denn das konnte jetzt dauern...
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Kapitel
I – Teil 4 DINNER
Die lange Treppe war fantastisch, aber auch fürchterlich. Jeder konnte sie sehen, und das galt sogar für die Ahnen der Familie von Kampe, deren Portraits entlang des Treppenaufgangs hingen. Da gab es ein bestimmtes Bild, es stellte eine blonde Frau dar, sie ähnelte Morgaine ein wenig. Ihre Augen schienen Rebekka zu verfolgen, doch die fand das tröstlich und zwinkerte der Dame unauffällig zu.
Sie waren alle da, wie Rebekka unauffällig feststellte. Sie saßen an
einem riesigen Tisch, den man wohl aus mehreren anderen zusammengestellt hatte
und der aussah wie König Arthurs Tafel.
Rebekka überlegte krampfhaft, wo sie sich hinsetzen sollte, es waren
noch zwei Stühle frei, der zwischen Daniel und Archie – und der zwischen der
namenlosen Schnorrerin und dem Mädchen Andromeda.
Sie spürte, dass alle auf sie starrten. Quatsch, sie starrten sicher
alle auf Sabine. Sie selber tat nämlich das, was sie gelernt hatte: Sich
unscheinbar machen bis zur Unsichtbarkeit...
>>> „Wie hübsch dieses
Mädchen ist, diese wunderschönen großen braunen Augen! Natürlich hat sie ein
bisschen Pech mit ihrem Mann gehabt, aber hübsch ist sie, das muss man ihr
lassen...“ Rebekka fühlt sich verletzt. Zu ihr hat die Mutter nie so etwas
gesagt, ganz im Gegenteil. Sie weiß natürlich, dass ihr exotisches Aussehen
ungewöhnlich ist, vor allem wegen ihrer schrägen Augen. Wenn sie wenigstens
blond wäre... Nein, sie ist hässlich! Wenn die eigene Mutter das findet, dann
muss es stimmen, denn warum soll die eigene Mutter sie so herabsetzen? Sie ist
ein Nichts, sie ist hässlich, und warum sollte sie überhaupt jemand sehen
wollen? <<<
„Ich setze mich neben Andy und die... äääh Schnorrergurke“, flüsterte
sie Sabine zu, und die kapierte es sofort.
Rebekka war froh, dass sie ohne großes Stolpern ihren Sitzplatz
ereichte. Andromeda lächelte ihr zu, und sie lächelte zurück. Sie bemerkte,
dass Sabine mittlerweile zwischen Daniel und Archie saß, und sie stellte fest,
dass Sabine aussah wie eine Katze, die an Sahne geschleckt hat.
Der Wein war schon eingeschenkt, und Rebekka stürzte sich förmlich auf
ihn. Er hatte eine beruhigende Röte und schmeckte außergewöhnlich frisch und
fruchtig.
„Er schmeckt gut, nicht wahr?“ Andromeda zwinkerte ihr zu. Sie trank
allerdings keinen Wein, sondern Orangensaft.
„Woher weißt du das denn?“ fragte Rebekka.
„Genascht habe ich!“ Andromeda grinste, und wieder spürte Rebekka eine
Verbindung zwischen ihr und dem jungen Mädchen, aber das war bestimmt nur
Einbildung.
„Ich hab’ so einen Hunger!“ Das kam von der anderen Seite. Da saß
nämlich die, Himmel wie hieß sie denn noch, ach ja, die Zigarettenschnorrerin.
„Die werden uns schon versorgen“, meinte Rebekka lässig, obwohl sie
selber auch großen Hunger verspürte.
„Rehterrine, das hört sich toll an!“ Die Zigarettenschnorrerin klopfte
mit ihrem Löffel demonstrativ auf den Tisch, was aber im allgemeinen
Gesprächsgemurmel unterging.
„Ich glaube nicht, dass man davon richtig satt wird“, sagte Rebekka
ein wenig anzüglich.
„Doch! Das hört sich gut an. Wie ein fetter Eintopf mit viel Wild und
Pilzen!“ Wieder klopfte die Zigarettenschnorrerin mit dem Esslöffel auf den Tisch.
„Nein...“ Himmel, Rebekka fiel der Name dieser Frau einfach nicht ein.
„Das ist kein fetter Eintopf...“
Just in diesem Augenblick wurde der erste Gang von einem jungen
Mädchen aufgetragen. Die namenlose Frau ließ enttäuscht den Löffel fallen, als
sie ihn erblickte. Es war nämlich nur die Scheibe von einer Pastete.
Zugegebenermaßen vielleicht mit ein bisschen Rehfleisch darin, aber es war kein
fetter Eintopf.
Und es gab wieder Wein. Rebekka stürzte sich förmlich auf ihn. Diesmal
schmeckte er ein wenig kräftiger, aber gut...
Nach der Rehterrine ging es Schlag auf Fall: Eine köstliche
Hühnerbrühe wurde serviert. Danach kam der Hauptgang, Medaillons auf
Brokkoli-Gratin.
Und es gab wieder Wein, diesmal einen trockenen Weißen. Rebekka
stürzte sich auch auf diesen, und sie fand ihn pikant und vor allem
appetitanregend. Ab und zu lugte sie nach halblinks, wo Sabine sich sehr zu
amüsieren schien. Kein Wunder, sie saß zwischen zwei ungewöhnlichen Männern.
Rebekka lächelte, aber das Lächeln fiel ein wenig grimmig aus.
„Warum lachst du?“ Andromeda hatte ihr Lächeln gesehen – und
anscheinend auch den Blick nach halblinks.
„Ach nur so...“
„Kennst du ihn?“ Andromedas Gesicht wurde eine Spur röter und somit
noch frischer und lebendiger.
„Wen meinst du?“ Rebekka versuchte, sich blöd zu stellen.
„Daniel natürlich!“
„Ach so...“ Rebekka überlegte krampfhaft. Was sollte sie sagen? Die
Wahrheit etwa, dass er ein Scheißkerl war, unzuverlässig und untreu und sich in
jede Tussi verlieben würde? Nein, das konnte sie diesem Kind nicht erzählen.
„Ich kenne ihn. Zwar nicht so richtig.“ Das war einwandfrei gelogen.
„Aber ich glaube, er hat schon einiges hinter sich.“ Das war zwar nicht
gelogen, aber vieldeutig gesagt.
„Hmmm...“ Andromeda überlegte sichtlich, aber dann wechselte sie zu Rebekkas
Erleichterung das Thema: „Willst du mal meinen Alfonso kennen lernen?“
„Ist das ein Freund von dir?“
„Na ja, ein Freund ist er schon, aber er ist ein Kater...“
„Ich liebe Kater! Leider kann ich keinen halten, der Vermieter erlaubt
es nicht...“ Rebekka verstummte, denn sie musste an den kleinen Kater denken,
sie hatte ihn von einem Bauerhof geholt, aber ihr Vater war im Dunkeln
angeblich über ihn gestolpert, und das war’s dann. Eigentlich wohnten ihre
Eltern nicht weit von hier, es waren höchstens hundert Kilometer, aber sie
wollte nicht dorthin, hatte sie seit Jahren nicht mehr besucht. Nur ein
gewisses Pflichtgefühl veranlasste sie, alle paar Wochen die Mutter anzurufen
und sich ihre Krankheitsbeschreibungen anzuhören. Die Pflicht erfüllt, die Gleichgültigkeit
geblieben.
„Du wirst ihn mögen!“, sagte Andromeda gerade.
„Wenn du das sagst...“ Rebekka blickte ihr in die Augen und fühlte wieder diese Vertrautheit zu dem jungen Mädchen. Es war, als hätte sie eine jüngere Schwester, es war ein gutes Gefühl, ganz anders als bei ihrem kleinen Bruder, den sie mit vierzehn bekam. Der verwöhnte Kleine erkannte schnell, dass sie in der Hierarchie der Familie das Schlusslicht war und nutzte das schamlos aus. Rebekka hatte aber sowieso die Nase voll, sie ging fort, als sie volljährig war und die Lehre aus hatte. Rebekka war hart geworden im Laufe ihrer Jugend. Das glaubte sie zumindest.
Es gab nun kleine Zwiebelküchlein, die aber ungemein sättigend waren.
Es lief alles locker ab beim Essen, während der Pausen zwischen den Gängen
besuchten sich die Leute. Georg besuchte zuerst Sabine und hatte viel mit ihr
zu reden – was von seiner Ehefrau misstrauisch beäugt wurde. Dann besuchte
Georg Max und hatte auch mit dem viel zu reden. Klar, er war einer von Max’
besten Gästen gewesen, nur übertroffen von Sammy natürlich. Und just zu dem
wanderte Georg nun hin.
Rebekka überlegte, wen sie besuchen könnte, und dann fiel ihr
natürlich Max ein, er war im Augenblick frei und saß ja nicht weit entfernt.
Sie erhob sich und ging die zwei Meter zu Max hin.
„Es scheint dir gut zu gehen, Max“.
Max lächelte und sagte: „Ich bin ja schließlich zuhause hier.“
„So richtig viel hast du aber nie von deinem zuhause erzählt“, meinte
Rebekka ein klein wenig ironisch.
„Ich bin eben ein schweigsamer Typ.“
„Ja, das bist du wohl. Übrigens finde ich Andy sehr nett!“
Max schien leicht zu erröten. Er schaute schnell hin zu Andy, die aber
mit ihrem Orangensaft beschäftigt war und verstohlene Blicke an Daniel sandte.
„Es ist seltsam, dich nicht hinter einer Theke zu sehen...“ Sie fand
ihn immer noch so attraktiv wie damals und genauso verschlossen und beherrscht.
Auch als er einmal total betrunken war, hatte er sich nicht mit der
Kneipenschlampe eingelassen. So einen Mann möchte ich haben, hatte sie damals
gedacht, einen Mann, der nicht auf jede hereinfällt, Und damit meinte sie nicht
ihren Freund Michael, obwohl ihre Beziehung in den letzten Zügen lag, sondern
einen anderen, von dem sie gewisse Dinge gehört hatte.
Wie Max allerdings die junge Andy ansah, war schon seltsam. Wieder
fiel ihr der Name auf, Andromeda. Woher kam er, aus der griechischen Sagenwelt
etwa? Und wieso beschäftigte Andromeda sie so? Aber Max schien sie auch zu
beschäftigen. Warum? Andy war doch noch ein Kind irgendwie, und sie konnte sich
nicht vorstellen, dass Max irgendwie pädophil war. Sie korrigierte sich: Nein,
Andy war kein Kind mehr.
„Meine Kneipenzeit war eher zufällig“, Max lächelte sie an. Und
Rebekka hatte wie früher das Gefühl, dass er zwar wohlgefällig auf sie schaute,
aber irgendwie haarscharf daneben. Doch dann wusste sie es: Sie sah Andromeda
ein wenig ähnlich, und durch das haarscharfe Danebenblicken wollte er sich die
Illusion bewahren, dass er auf Andromeda schaute... Genau!
„Aber es hat dir doch Spaß gemacht?“, stellte sie fest.
„Klar doch, aber im Grunde war es nur wegen der Kohle“, sagte Max
lakonisch.
„Und warum hast du dann uns, die wir ja nur zufällige
Kneipenbekanntschaften sind, hierhin eingeladen?“ Sie konnte es sich nicht
verkneifen, Max ein wenig in Verlegenheit zu bringen.
„Na ja, erstens, weil ich euch mag“, Max zögerte, bevor er
weitersprach. „Und außerdem hat mich Daniel drum gebeten.“
„WAS?“ Rebekka sah ihn entgeistert an. Was zum Teufel hatte Daniel mit
der ganzen Sache zu tun?
„Könnte es sein, dass er dich wiedersehen wollte?“ Max’ graue Augen
waren undurchschaubar, doch Rebekka hoffte, dass ihre blauen Augen ebenso
undurchschaubar waren.
„Warum sollte er?“ sagte sie gleichgültig. Also wirklich, Max kam ja
auf vielleicht auf Ideen!
„Warum sollte er was?“ Neben ihr ertönte eine bekannte Stimme. Sie
drehte sich langsam nach links – und sah Daniel direkt in die Augen. Oh nein,
nicht das! Aber sie musste da irgendwie durch, und sie konnte nicht immer davor
weglaufen. Warum auch, er war überaus gut aussehend, er war ihr Typ als Mann,
er war großartig im Bett... Und wovor sollte sie eigentlich weglaufen? Das
hatte sie nicht nötig.
„Oh Daniel! Was machst du denn hier?“ Das war blöde gesagt, dachte sie
und trachtete danach, die Scharte auszuwetzen. „Ich meine, was machst du hier
bei mir?“ Das war ja noch blöder gesagt.
„Jetzt erzähl’ nicht so ein blödes Zeug, Rebekka!“ Tatsächlich legte
er ihr seine Hand auf die Schulter.
Sie schüttelte ihn ab. Sie wollte das nicht. „Ich erzähle blödes Zeug?
Na toll! Aber du musst es dir ja nicht anhören, das blöde Zeug!“ Rebekka
wunderte sich in einem verborgenen Winkel ihres Gehirns darüber, wieso er sie
so zornig machen konnte. Das war doch vollkommen irrelevant. Wer sagte das
immer? Genau, Seven of Nine im Raumschiff Voyager.
„Ich dachte, wir könnten uns hier mal unterhalten.“ Seine Augen waren
messingfarben wie die einer Katze, es war ein seltsamer Kontrast zu seinem
dunkelblonden Haar.
„Worüber denn?“
„Über unsere Beziehung!“
„Wir haben keine Beziehung, wir hatten nie eine Beziehung!“ Rebekka
blickte ihn aufgebracht an.
„Ich denke schon. Es war etwas Besonderes!“ sagte Daniel, und seine
Stimme war so weich und so verlangend, dass sie fast eingelenkt hätte – aber
sie tat es nicht. Typen wie Daniel konnten gefährlich sein. Sie schwatzten
einem von Liebe, und nach einem Jahr war dann Schluss mit der Liebe. Nein, sie
wollte nur noch streng rational leben, nur noch nach Vernunftgründen handeln.
Vor zwei Jahren dachte sie sogar an eine festere Bindung, also an Heirat.
Warum? Vielleicht war es der finanzielle Druck, der auf ihr lastete, denn sie
bekam vom Jugendamt keinen Unterhalt für Morgaine. Das war der Preis für den
Eintrag ‚Vater unbekannt’ in Morgaines Geburtsurkunde. Und ihre Tochter hatte
bestimmt ein besseres Leben verdient, als sie ihr bieten konnte...
>>> Ein ernsthafter Mann, er verspricht
Beständigkeit, und er liebt sie sehr. Aber sie ist noch unschlüssig,
gewissenhaft stellt sie es sich vor, mit ihm verheiratet zu sein. Am Anfang ist
es bestimmt wunderbar, sie fühlt sich sicher und beschützt durch den warmen
Mantel der Liebe, den er um sie hängt. Sie ist glücklich, und Morgaine ist auch
glücklich. Doch dann melden sich zögernd ihre Instinkte. Zuerst verdrängt sie
den immer größer werdenden Abscheu, mit ihm intim zu werden, sie missachtet den
anfangs leisen, aber immer lauter werdenden Ekel vor seinem Geruch. Bis es dann
nicht mehr geht. Der warme Mantel der Liebe, er wird immer schwerer und lastet
unerträglich auf ihr, sie will diesen Mantel nicht. Sie will ihn von niemanden,
sie kommt besser ohne Mann und Mantel klar. Doch was ist mit Morgaine? Er würde
sie wie eine Tochter aufnehmen, sie lieben... Nein, das ist nicht genug. Es
geht nicht, es geht einfach nicht. Sie würde ihn unglücklich machen, diesen
Mann, und sie würde selber auch unglücklich sein, das liegt wohl in ihr drin.
Sie lehnt seinen Antrag ab, und kurz darauf trennen sie sich. <<<
„Etwas Besonderes? Für mich nicht!“ Das war natürlich gelogen, es war
doch irgendwie besonders für sie gewesen, zwar eine ihrer verkorksten Aktionen,
also von vorneherein vergiftet, vermurkst und vor allem falsch – aber auch
wunderbar.
„Rebekka, bitte...“ Er sieht verletzt aus, und automatisch hebt sie
schon die Hand, um ihn zu streicheln...
„Hallo Becky! Wir geht’s dir denn so?“ Georgs Bassstimme lässt sie aus
ihrer Gefühlsduselei aufwachen.
„Tachchen Georg! Mir geht’s gut. Und dir?“
Daniel ist weg, aber jetzt fühlt Rebekka sich plötzlich etwas leer. Himmel, was will sie eigentlich? Geistesabwesend bemüht sie sich, Georg zuzuhören. Sie unterhalten sich über den Wirt des Jedermann, der so verrückt war, dass er seinen gut laufenden Laden pleite gehen ließ. Sie reden über den Dichter Lipinski, der manchmal Lesungen im Jedermann hielt – und über ein Gedicht, das er geschrieben hat. Rebekka denkt angestrengt nach, und tatsächlich fällt es ihr wieder ein, das Gedicht:
HARALD, DAS WAR ANNAS MANN
TRANK AM SAMSTAG MAL 8 Alt.
DANACH GAB HARALD GANZ STARK AN...
Just an dieser Stelle hört Rebekka auf, Lipinski zu zitieren und
schaut stattdessen wie gebannt auf die Treppe, auf der gerade Claudia Mansell
erschienen ist, sie hält ein entzückendes kleines Mädchen an der Hand, es hat
helle gelockte Haare und goldbraune Augen, die weit aufgerissen sind und suchend
umherschauen.
„Morgy!“ Rebekka eilt die Treppe empor, sie umarmt Morgaine, die sich
an sie klammert.
„Es ist nichts passiert“, Claudia Mansell macht einen gelassenen
Eindruck. „Morgaine wollte nur ihre Mutter sehen...“
Morgaine schmiegt sich in die Arme ihrer Mutter und horcht in sie
hinein. Mammi ist ein bisschen durcheinander, wie es scheint, so hat sie Mammi
noch nie erlebt.
Sie schaut in die Runde der lustigen Gesellschaft, und sie findet ihn.
Sie erkennt ihn sofort, denn sie hat ihn schon öfter in den Bildern ihrer Mami
gesehen, er ist hier...
Er starrt sie an, und sie starrt ihn an. Dann muss sie lachen, er ist
nicht schlimm, und er hat auch gar keine bösen Gedanken, ganz im Gegenteil. Sie
weiß das.
Sie starrt ihn immer noch an, als Rebekka mit ihr auf dem Arm die
Treppe hochgeht und sich schließlich umdreht, um sich von der Gesellschaft zu
verabschieden. Sein Gesicht sieht so dumm aus, dass Morgaine ihm beruhigend
zulächelt. Sie kann das gut...
~*~*~*~ Eine andere, hellere Stimme sagt in
einem seltsamen Singsang: Du bist der Richtige dafür David jeder der nicht
nach der Macht strebt ist der Richtige dafür.
Die junge Frau sitzt verschwommen vor einem Klavier und
spielt einige Töne an, die trotz der Verzerrungen melodisch klingen. Sie kommt
ihm bekannt vor. Kann es Morgaine sein? ~*~*~*~
Daniel weiß es immer noch nicht, er weiß nur: Das niedliche kleine
Mädchen – Rebekka trägt es gerade die Treppe empor – das ist Morgaine.