Topp102     Der Ernst der Liebe

 

DAS ENDE DER WETTE

Sie schauten sich an. Dann berührten sich ihre Hände, Handfläche lag an Handfläche, ihre kleinere Hand an seiner größeren. Ein seltsames Gefühl durchströmte Irma. Diese einfache Berührung war so ungewohnt intensiv, und sie fühlte sich an, als würden sie sich damit noch mehr verbinden als durch Sex. Hmmm, ihr Sex war immer überwältigend gewesen, aber heute Nacht, lieber Himmel! Zum erstenmal hatte er sich richtig gehen lassen, obwohl er doch sonst immer so beherrscht und so beherrschend war…

Irma riss ihre Gedanken mühsam von dieser Nacht los. „Ich bin so froh, dass ich dich noch erwischt habe“, sagte sie.

Als Antwort darauf zog Chris sie an sich und küsste sie. So sanft, so innig. So neu, so anders. Was für ein Gefühl, seine Lippen auf ihren zu fühlen... Und sie hatte ihn für arrogant und unerreichbar gehalten – na gut, arrogant war er schon – aber er lag in ihrem Bett, und er empfand etwas für sie. Unglaublich, aber wahr. Irma schloss die Augen und fühlte nur noch ihn. Seine Lippen, seine Arme... Alle ihre Überlegungen lösten sich in Luft auf, und sie überließ sich vollkommen diesem Kuss.

Als sie wieder denken konnte, bettete sie den Kopf an seine Schulter. Ihr Mund an seiner Haut, er roch so gut...

„Du bist unglaublich schnell, Haselmaus, und das mit nackten Füßen...“ Chris streichelte ihr Haar.

„Unglaublich ist, dass ich mir bei dieser Aktion nichts gebrochen hab’...“ Irma musste kichern. „Du hast anscheinend heilende Lippen, denn es tut gar nicht mehr weh...“

„Noch unglaublicher ist, dass ich dich jetzt in den Arm nehmen darf, wenn du nachts einen schlimmen Traum hast. Ich meine, ohne dass du dich sofort verdrückst...“

Irma musste das ein bisschen sacken lassen, bevor sie es verstand. „DU hast mich in den Arm genommen?“

„Na klar, wer sonst?“

„Oh nein! Und ich dachte, ich hätte mich bei DIR eingekuschelt. Ich fand es so total vermessen. Bei so einem wie dir...“

„Bei so einem wie mir?“ Chris fing an zu lachen. „Ich bin anscheinend absolut sentimental. Weißt du, dass ich mir manchmal vorstellt habe, du wärst eine winzige Puppe – und ich würde diese Puppe immer mit mir herumtragen?“

„Wie eine blonde Barbiepuppe aus Silicon Valley?“ Das konnte sich Irma nicht verkneifen.

„Nein, es war eine Art Haselmaus...“ Er grinste irgendwie befriedigt. „Das Püppchen war arrangiert. Die Freundin von einem Kollegen...“

„Im Arrangieren bist du ja echt groß“, musste Irma zugeben.

„Du etwa nicht?“ Chris machte eine kunstvolle Pause, bevor er weiter sprach:   „Hast du dich denn jetzt entschlossen, den Job im, wie hieß der Schuppen noch mal, ach ja, im SEX 4 YOU anzunehmen?“

„Och nö“, sagte Irma. „Ich hab’ mich dann doch entschlossen, nur für dich allein zu tanzen, ich verzichte sogar auf das Geld...“

„Och schade!“ Chris grinste wieder auf seine unnachahmliche Art. „Ich hätte dir gerne was ins Höschen gesteckt...“

„Wer hindert dich denn dran?“ Wieder musste Irma kichern.

„Jetzt lenk’ mal nicht ab, Haselmaus!“ Chris schob sie ein wenig von sich. „Und dein Extyp, was ist mit dem?“

Irma spürte, wie sie ein wenig rot im Gesicht wurde. Und er rückte ein Stück von ihr weg, unmerklich zwar, aber sie fühlte es. Was sollte sie ihm sagen? Etwa die Wahrheit? Sie hatten sich heute Nacht zwar versprochen, ehrlich zueinander zu sein und keine Spielchen mehr zu spielen, aber DAS zugeben? Auf keinen Fall!

„Ich hätte fast mit ihm geschlafen, weil ich so sauer auf dich war.“ Oh je, da war es raus... Sie sprach hastig weiter: „Aber es ging nicht...“ Wie unglaublich dumm sie doch gewesen war! Sie hatte sich so lange gegen ihre Gefühle gewehrt, bis es fast zu spät war.

„Kannst du mir das verzeihen?“ flüsterte sie verlegen.

Chris schwieg, und Irma schaute ihn angstvoll an.

„Du bist anscheinend auch nicht viel besser als ich.“ Er sah nachdenklich aus. „Aber Tatsache ist doch, wir sind uns beide treu gewesen, obwohl wir keine Ahnung hatten, warum.“

Sie atmete erleichtert aus. „Aber jetzt ist es anders! Jetzt hab’ ich Ahnung, jetzt weiß ich, dass ich dich, na du weißt schon...“

„Und ich dich auch, wie du ja schon weißt.“

„Ach Chris, mein Liebster... Ob es wohl mit uns klappen wird?“

„Es wird klappen!“ Er nahm ihre Hände und küsste abwechselnd ihre Handflächen, während Irma ihm wie hypnotisiert zusah.

„Aber vorher sollte ich mich mal an die Arbeit machen. Schau’ mal wie’s hier aussieht!“ Chris deutete auf die Klamotten, die überall im Zimmer verstreut herumlagen.

„Da haben’s aber welche eilig gehabt!“ Irma musste lachen. „Und du willst wirklich am Sonntag arbeiten?“

„Spielschulden sind Ehrenschulden...“

„Du spinnst!“ Sie strich zärtlich mit dem Finger über seinen Mund. „Aber könntest du mir einen Gefallen tun?“

„Alles was du willst, Haselmaus!“

„Zieh’ dir ja nichts an beim Putzen!“

„Okay. Aber nur, weil du es bist. Und dein Teil der Abmachung?“

„Ich lass’ mir was einfallen.“ Irma stieg aus dem Bett. Sie wollte nach einem Stück Stoff suchen, das sich als Schürzchen eignete, aber als sie aus dem Fenster sah, vergaß sie ihr Vorhaben.

„Oh schau mal, wie es regnet!“

Er stand auf einmal hinter ihr, sie spürte seinen Körper, und sie fühlte seine Arme um sich. Dann spürte sie, wie er ihr Haar beiseite schob und sie auf ihre Schulter und ihren Hals küsste.

Sie erschauerte und ließ sich gegen ihn sinken, sie konnte nicht anders, ihr Körper befand sich anscheinend in Auflösung, und ihre Beine waren auf einmal so schwach. Aber Chris hielt sie ja fest…

Eine unendliche Weile standen sie so da, und sahen in den Regen hinaus, ohne ihn wirklich zu sehen.

„Schön, dass wir beide verloren haben“, sagte Chris irgendwann.

Und Irma fühlte auf einmal, wie ihre Beine in der Luft hingen. War sie doch umgekippt vor lauter Liebe und Schwäche? Nein, er hatte sie nur hochgehoben und trug sie gerade zum Bett zurück.

„Verloren?“ kicherte sie, während sie ihre Arme um seinen Hals schlang und sich an ihn klammerte. „Gewonnen haben wir. Uns!“

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Das ESSEN

„Irma kann wirklich gut Billard spielen“, Christopher nahm ihre Hand und drückte einen leichten Kuss darauf. Einfach so, während sein Vater, seine Schwester und sein Schwager mit ihnen am Tisch saßen. Es sah bestimmt aus wie eine Liebeserklärung, und Irma hatte das Gefühl, ihre Wangen würden auf einmal in einer leicht rötlichen Farbe prangen, aber das war ihr egal. Und am liebsten wäre sie Chris um den Hals gefallen, hätte ihn geküsst, sogar hier vor versammelter Verwandtschaft, aber sie hielt sich zurück und sagte stattdessen allgemein in die Runde: „Aber nicht gut genug, er hat mich schon geschlagen...“

„Ach komm’, gib es zu, du hast extra verloren...“

Verdammt Chris, du musst doch nicht alles ausplaudern! Irma spürte, dass ihre Wangen jetzt in einem womöglich noch tieferen Rot glühten. Er hatte sie durchschaut! Er wusste, dass sie absichtlich verloren hatte, nein Quatsch, das war nur Zufall, ihre Hand hatte einfach im entscheidenden Moment gezittert...

Mühsam wandte sie die Gedanken von dem verlorenen Spiel ab, sie entzog Chris sanft ihre Hand und lächelte seinen Vater an. Er saß ihr direkt gegenüber und betrachtete sie interessiert. Er sah sehr gut aus, obwohl er schon älter war. Kein Wunder, es handelte sich um Chris’ Vater...

„Ein Onkel von mir hat auch einen Billardtisch, der ist übrigens auch Arzt. Ich war richtig enttäuscht, als ich ihn gesehen habe, es war nämlich einer ohne Löcher.“ Nach zwei Sekunden fiel Irma dazu ein: „Ich meine natürlich den Tisch und nicht den Onkel.“ Himmel, was erzählte sie da überhaupt, war es denn so schlimm, den Vater ihres Freundes kennenzulernen?

Eher nicht, sie fand es richtig nett. Draußen toste ein Herbststurm um das Haus, und Chris hatte die Balkontür gerade geschlossen. Drinnen war es gemütlich, Kerzen flackerten, und das gedämpfte Licht der Deckenlampe machte den Raum noch behaglicher. Ihre Peking-Suppe war gut angekommen, Gott sei Dank! Sie saßen zu fünft an dem großen Esstisch, der sonst im Keller neben dem Billardtisch sein Dasein fristete, hochkant an die Wand gelehnt. Und irgendwie kam das Gespräch darauf, nein, nicht auf die Sachen natürlich, die nach der Wette passiert waren, sondern auf den Billardtisch. Sie hatte sich bei Chris’ Vater für die Existenz dieses Billardtisches bedankt, und es stimmte, ihr Onkel war auch Arzt, allerdings kein Chirurg, sondern Frauenarzt, und er hatte wirklich einen Billardtisch, allerdings so ein blödes Carambolage-Ding. Ohne Löcher, wie langweilig!

Chris’ Vater fing an zu lachen. „Wie heißt denn dein Onkel?“ Er duzte sie einfach, er schien einer dieser netten volkstümlichen Professoren zu sein und gehörte somit einer Gattung an, die bestimmt bald aussterben würde.

„Norbert Schlemmer.“

„WAS? Etwa Nobby?“ Er schaute ungläubig drein „Den kenne ich! Wir haben in Dortmund zusammen studiert, das ist ja wohl ein Ding! Was macht er denn noch so?“

„Er wohnt in der Nähe von Heidelberg und hat eine gut gehende Praxis“, berichtete Irma gewissenhaft.

„Das ist ein Onkel von dir?“

„Nur ein angeheirateter. Aus meiner Familie kommen keine Ärzte, wir sind nämlich waschechte Proletarier.“ Irma übertrieb natürlich ein bisschen, sie stammte nicht aus einer Arbeiterfamilie, obwohl ihr das schietegal gewesen wäre, aber ihr Vater war eben ‚nur’ ein simpler Handwerker, und in diesem illustren Kreis von Studierten, von Doktoren – Chris schrieb gerade an seiner Doktorarbeit – und sogar von Professoren, wow, echt einschüchternd, Irma musste ein Kichern unterdrücken, galt ihre Herkunft bestimmt als underdogmäßig. Und gerade deswegen wollte sie noch ein bisschen mehr tiefstapeln, sie wollte denen zeigen, dass sie sich kein bisschen schämte wegen ihrer Herkunft. Ihre Herkunft war nämlich astrein. Ihr Vater, ein wirklich guter Handwerker, hatte vor Jahren eine eigene Firma gegründet, die sehr erfolgreich lief, so erfolgreich, dass er sich schon zur Ruhe gesetzt hatte und nur noch auf privat machte, sehr zum Entsetzen von Irmas Mutter. Wieder muss Irma fast kichern, ihre Mutter liebte Daddy natürlich über alles, aber sie fand es ziemlich stressig, ihn immer zu Hause zu haben. Aber bei Chris wäre das bestimmt nicht stressig, sondern verlockend. Ach Chris, wieso beschäftigst du immer meine Gedanken! Automatisch rückte Irma ein bisschen näher an Chris heran.

Sein Vater fing wieder an zu lachen. „Na, dann lass' uns mal Billard zusammen spielen, du waschechtes Proletarierkind. Und sag' bitte DU zu mir und nenn' mich Proff.“

„Ehrlich? Ich soll Sie Proff nennen?“ Irma war total verblüfft.

„Nein falsch! Ich soll DICH Proff nennen, so heißt das!“

„Ich soll dich Proff nennen...“, murmelte Irma in sich hinein, und darüber musste sie schließlich auch lachen

„Tu es einfach!“ Irene mischte sich ein, sie erhob ihr Rotweinglas und prostete Irma zu. Irma liebte Irene, Irene war so kultiviert, so gelassen und beherrscht, sie wusste gar nicht, was Irene an ihr fand. „Dann muss ich das wohl“. Sie lächelte Chris’ Schwester zu und hob ihr das Glas entgegen.

„Schade, dass Chris nicht Medizin studiert hat“, sagte der Proff gerade bedauernd. Seine Stimme hörte sich leicht vorwurfsvoll an, und Irma hegte irgendwie die Vermutung, dass dieses Thema wohl schon öfter auf den Tisch gebracht worden war.

„Ich habe eben keine Neigung dazu“, Chris grinste. “Biologie liegt mir mehr.“

„Ach Neigung!“ Sein Vater machte eine verächtliche Handbewegung. „Und jetzt bist du ein simpler Lehrer!“

Chris schwieg und schaute etwas unsicher auf seinen Teller.

Irma hatte ungläubig zugehört. Der Proff war ihr ja eigentlich sehr sympathisch, aber jetzt hatte sie so ihre Zweifel, denn wieso hackte er dauernd auf Chris herum?

„Es kann nicht jeder ein Halbgott in Weiß sein“, sie mischte sich in das Gespräch ein, es war ihr Wurst, ob sie unhöflich war, sie hatte das Bedürfnis, Chris zu verteidigen. Der Proff schaut sie erstaunt an. Hoffentlich konnte er sie jetzt noch leiden, aber auch das war ihr Wurst. „Oder nennt man das Halbgötter in Grün? Ich meine natürlich bei den Chirurgen...“

Der Proff sah belustigt aus. „Wir sind keine Götter, Irma!“

„Da bin ich jetzt aber beruhigt“, sagte Irma energisch. „Und Lehrer zu sein ist bestimmt viel stressiger als Arzt zu sein!“

„Da hast du wohl Recht, Irma.“ Der Proff schaute sie wider Erwarten wohlwollend an.

Heiliger Strohsack, er hat es nicht in den falschen Hals gekriegt, Irma atmet insgeheim erleichtert auf, Na und wenn schon, sie muss sich nicht bei Chris’ Vater einschleimen, aber es ist stressig... Sehr, sehr stressig, es hat doch alles so nett begonnen, zu nett wahrscheinlich. Die Spannung zwischen Chris und seinem Vater ist nicht zu übersehen, aber keinem außer ihr fällt es auf. Es handelt sich um eine unterschwellige Spannung, Chris versucht wohl, seinem Vater zu gefallen, aber der macht immer wieder so seltsame Bemerkungen, dass Chris nicht seinen Erwartungen entsprechen würde und ähnliches. Was ist los mit denen? Und wieso verhält Chris sich so unterwürfig, wieso lenkt er immer wieder ein? Das passt doch gar nicht zu ihm, er hat doch sonst soviel Selbstbewusstsein. Und das hat er zu Recht! Nicht weil ich ihn liebe, fast muss Irma lachen, nein, er ist einfach überwältigend. Was also geht zwischen den beiden vor? Irene behandelt der Proff viel netter. Ob es daran liegt, dass manche Väter ihre Töchter bevorzugen? Möglich, so etwas gibt es bestimmt, aber sie selber kann das nicht beurteilen, sie ist das einzige Kind ihrer Eltern, und ihre Eltern lieben sie, aber sie würden bestimmt auch ihre anderen Kinder lieben, wenn sie denn welche hätten...

„Du hast wirklich eine gute Wahl getroffen“, sagt der Proff gerade anerkennend zu Chris.

Huch, was erzählt er denn da? Er meint doch nicht etwa sie? Irma fühlt sich ein wenig verlegen. Es ist natürlich schmeichelhaft, aber viel wichtiger findet sie, dass er Chris gelobt hat.

„Ich habe keine Wahl getroffen“, Chris wendet sich ihr zu und schaut sie zärtlich an, und wie immer, wenn er sie so anschaut, ist sie wie benommen. Was wird das?

Chris nimmt ihre Hand und küsst ihre Fingerspitzen. „Ich konnte gar nicht anders...“

Oh nein Chris, das darfst du nicht tun, nicht sagen, nicht jetzt, ich löse mich auf, ich könnte mich auf der Stelle, nein um Gottes willen nicht jetzt! Aber trotzdem... Irmas Blick taucht für einen Moment in seine Augen ein, und das Verlangen, das sie darin sieht, macht sie vollends fertig.

„Ich muss noch mal in die Küche“, sagt sie leise und löst ihre Hand behutsam aus der seinen. Sie berührt ihn zart am Rücken und geht, in Richtung Küche, es sieht bestimmt aus als würde sie stolpern... Sie spürt instinktiv, dass Chris ihr nachfolgt.

Und so ist es auch. Er nimmt sie in die Arme und drängt sie zur Arbeitsplatte hin. Er schiebt ihr ein Bein zwischen ihre willigen Schenkel, schaut sie atemlos verlangend an. Und Irma fühlte sich dahinschmelzen, ihre Beine kommen ihr vor, als wären sie aus Gelee, und im Bauch hat sie ein komisches Kribbeln. Oh Chris, was tust du mit mir? Sie schlingt die Arme um seinen Hals. Nimm mich bitte, ich gehöre dir! Sie stöhnt auf und biegt ihm willig ihren Körper entgegen.

Natürlich ist er genauso erregt wie sie. Aber sie hofft inständig, dass er mehr Widerstandskraft hat als sie, sie ist ja so schwach... Ihre Lippen treffen sich und verschmelzen miteinander, sie fühlt seine fordernde Zunge in ihrem Mund, sie küssen sich heftig, zuerst leidenschaftlich, aber dann allmählich sanfter, sie beherrschen sich beide, ihre Berührungen werden zärtlich und spielerisch, sie wissen ja, es entgeht ihnen nichts, sie können alles später nachholen, aber trotzdem, schade, schade...

Nach einer Weile lösen sie sich widerstrebend voneinander und schauen sich bedauernd an. „Wir müssen wohl wieder zurück“, sagt Chris, „die warten bestimmt schon auf die Hausherrin...“.

„Hausherrin? Aber ich fühle mich so gar nicht wie eine Hausherrin,“ seufzt Irma.

„Das kannst du aber, Haselmaus“, Chris sieht auf sie herab. „Du weißt doch, dass du meine Herrin bist...“

„Bin ich das?“ Sein Blick macht sie nervös und verlegen. Aber es hört sich herrlich an, so nach Mittelalter und nach Minnesängern. Meine Herrin... Irma fühlt, wie sie errötet. „Chris, das meinst du jetzt aber nicht sadomasomäßig, oder?“

„Ein bisschen schon.“ Chris lächelt sie an. „Nein Quatsch, ich meine es anders. Ich meine, dass du mich besiegt hast.“

„Aber ich hab’ dich doch nicht besiegt, du bist Chris, und du bist doch kein Verlierer!“

„Nein, das bin ich nicht! Ich bin ein Gewinner. Aber hallo, das hört sich ja an wie Muhammad Ali...“ Wieder muss er lachen, und dann sagt er: „Jedenfalls bist du meine Herrin, denn du bist die einzige, die mich besiegen konnte...“

„Wow“, sagt Irma mit schwacher Stimme.

„Und ist doch alles gut gelaufen“, Chris lächelt und berührt mit dem Zeigefinger zart ihre Nase.

„Oh ja, doch...“ Irma zieht die Nase kraus und überlegt. „Sag’ mal, hast du irgendwelche Probleme mit deinem Vater?“

Chris stutzt und sieht etwas verwirrt aus. „Nicht dass ich wüsste“, sagt er dann schließlich.

„Dann hab’ ich mich wohl geirrt.“ Er hat keine Ahnung, denkt Irma verwundert, aber da ist etwas...

„Und weswegen sind wir jetzt in die Küche gegangen?“, fragt Chris sie arglistig.

Irma starrt ihn an. „Upps!“ sagt sie und sieht sich in der Küche um. Vielleicht könnte man ja Servietten mitnehmen, oder... „Was hältst du von diesem Spucknapf? Die Chinesen lieben so was!“ Irma hält triumphierend ein Schüsselchen aus Edelstahl hoch.

„Ein Spucknapf? Genau das haben wir immer schon gebraucht!“

Hand in Hand gehen sie zurück in das neu erschaffene Esszimmer, wo sie sich dann doch voneinander trennen müssen. Irma stellt das Metallschüsselchen auf den Esstisch, der sonst im Keller steht neben dem Billardtisch und sagt: „Da ist er, der Spucknapf. Ich weiß aber nicht, ob man ihn auf den Tisch stellt oder auf den Boden...“

Alle glotzen sie verwirrt an, aber der Proff kapiert es als erster. „Frag’ am besten den chinesischen Gärtner“, schlägt er vor, alle fangen an zu kichern, und sogar der sehr zurückhaltende Mann von Irene kann sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Sie... äääh DU hast einen chinesischen Gärtner? Kann der auch chinesisch kochen?“

„Bei weitem nicht so gut wie du, Irma. Deine Peking-Gulasch Suppe ist unerreicht“, Der Proff grinst, und es sieht fast so aus, als ob Chris grinst. Die beiden sehen sich wirklich total ähnlich, Chris ist allerdings ein bisschen größer als er. Und schon sind ihre Gedanken wieder bei Chris. Er ist wunderbar und vor allem im Bett...

„Dann gehört dir also der nette Karmann, der immer in der Einfahrt steht“, hört sie wie von weitem die Stimme des Proffs. „Ich hatte mich schon darüber gewundert, weil sonst nie einer dort parkt...“

Irma reißt mühsam ihre Gedanken von Chris’ Körper los und auch von dem, was Chris’ Körper mit ihr anstellen könnte. „Ja, das ist meiner, aber er wird’s nicht mehr lange machen.“

„Durchgerostet?“ stellt der Proff mehr fest als dass er fragt. Er hat anscheinend viel Ahnung von Karmännern.

„Voll durchgerostet! Und das Schweißen ist einfach zu teuer.“ Irma schaut betrübt vor sich hin, sie hängt an ihrem Auto, es ist ziemlich einmalig, wenn auch manchmal recht unbequem und lausig kalt, vor allem im Winter, wenn die Heizung nicht richtig warm wird.

„Was denn, so teuer kann es doch gar nicht sein!“

Ha, der hat gut reden, er ist Professor und verdient bestimmt jede Menge Kohle. „Im Prinzip schon, aber nur wenn man Beziehungen hat.“ Irma sieht Chris zärtlich an, und der nimmt wieder ihre Hand und küsst sie. „Und ich habe gewisse Connections aufgegeben.“ Eigentlich ist Connections ja ein blödes Wort...

„Connections? Was denn für Connections?“

Der Proff ist ja ganz schön neugierig. „Solche, die ich nur durch gewisse Leute hatte“, Irma lächelt, und sie scheint es nicht zu bedauern, dass sie diese Connections nicht mehr hat. Chris scheint das auch nicht zu bedauern, denn er schaut sie liebevoll und mit einem schweren Hauch von Besitzerallüren an. Irma mag es, wenn er sie so anschaut.

Der Proff sieht erst verständnislos aus, aber dann geht ihm wohl ein Licht auf, er überlegt ein Weilchen und verkündet dann schließlich: „Ich habe da eine kleine Werkstatt an der Hand, da machen sie es gut und günstig.“

„Ach wirklich?“ Irma ist überrascht, dass Chris’ Vater sich so für ihren Karmann interessiert.

„Natürlich nur unter der Bedingung, dass ich mal eine Spritztour mit ihm machen darf.“ Der Proff scheint nachzudenken. „Ich habe nämlich mit diesem Auto, nein, natürlich nicht mit diesem Auto, sondern mit einem anderen Karmann meine Frau kennen gelernt...“

„Oh“, sagt Irma erstaunt und fragt sich, ob er wohl Genaueres erzählen wird. Aber er tut es nicht, sondern grübelt versunken vor sich hin. Irma merkt, dass Chris und Irene ihn neugierig anblicken, aber ihr Vater erzählt einfach nicht weiter. Schade, sie hätte so gerne mehr gewusst über seine Frau. Er muss sie sehr geliebt haben, denn er hat nach ihrem Tod nicht wieder geheiratet.

Hoffentlich ist Chris auch so wie sein Vater, und wenn sie mal tot ist, dann bleibt er auch alleine und bindet sich nicht wieder. Oh Mann, was für ein Quatsch, sie sind ja noch nicht einmal verheiratet...

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ZUSTÄNDE

Wie würde Chris wohl mit ihren Eltern klar kommen? Und warum fuhr er mit? Irma wollte schon nach der Zigarettenschachtel auf dem Armaturenbrett greifen, doch dann zögerte sie. Eigentlich hatte sie sich das Rauchen vor einem halben Jahr abgewöhnt, aber trotzdem hatte sie manchmal noch dieses Verlangen, meistens unterdrückte sie es, denn sie hatte Angst, dass sie wieder voll damit anfangen würde. Chris war da härter, er rauchte am Tag zwei bis drei Zigaretten, und er kam gut damit klar. Er hatte eben viel mehr Willenskraft als sie. Unwillkürlich musste sie lächeln. Chris, ihr Liebster, sie warf einen verstohlenen Blick auf ihn, natürlich sah er hinreißend aus, und sie erinnerte sich daran, wie sie wochenlang miteinander geschlafen hatten, ohne dem anderen irgendwelche Gefühle zu zeigen. Was für ein Schwachsinn! Sie schüttelte unmerklich den Kopf.

Sie fand es gemütlich und einschläfernd im Auto, und sie dachte über die vergangenen Wochen nach. Sie wohnte zwar bei Chris, aber sie hatte ihre eigene Wohnung noch nicht gekündigt. Es war bestimmt neu für ihn, mit einer Frau zusammenzuleben, und sie wollte ihm nicht allzu sehr auf die Pelle rücken. Es gab sogar ein Zimmer, in das sie sich zurückziehen konnte, es lag am Ende des Flurs außerhalb seiner Wohnung. Sie traf ihre alten Freunde und ermunterte ihn, das gleiche zu tun. Trotzdem verbrachten sie die meiste Zeit gemeinsam. Auch mit der Verwandtschaft lief alles bestens. Chris’ Schwester Irene liebte sie, und sie liebte Irene, Irene war so erfolgreich, so schön, so souverän... Und Chris’ Vater erst einmal, was für ein toller Typ, sie mochte ihn total gern!

Nur eines bereitete ihr Sorgen, nämlich das Verhältnis zwischen Chris und seinem Vater. Da war doch was faul, Chris verhielt sich seinem Vater gegenüber so unterwürfig, und der ließ keine Gelegenheit aus, an Chris herumzumäkeln. Konnte es sein, dass Chris’ Träume damit zu tun hatten. Möglich, aber wieso? Sie hatte keine Ahnung, sie wusste nur, dass Chris’ Mutter sehr früh gestorben war, und sie empfand das als schmerzlichen Verlust. Das war seltsam, denn normalerweise machte sie einen großen Bogen um die Mütter ihrer Freunde. Doch diese Frau hätte sie liebend gerne kennen gelernt, sie hätte sich mit ihr über Chris unterhalten und sich bei ihr bedankt, dass er da war. Na ja, halt so Sachen...

Wieder schaute sie Chris verstohlen von der Seite her an. Er fuhr äußerst konzentriert, und trotzdem schien er zu spüren, dass sie ihn ansah. Er lächelte und tastete mit der rechten Hand nach ihr. Und Irma fühlte tatsächlich ein Kribbeln im Magen, das war unglaublich. Sie ergriff seine Hand zärtlich, drückte einen verliebten Kuss darauf und sagte dann: „Hoffentlich sind die Betten im Gästezimmer nicht mehr so furchtbar wie früher...“

„Wie meinst du das?“ Er grinste.

„Die hatten so wahnsinnig weiche Matratzen, man versank einfach darin und tauchte nie wieder auf…“

„Mit dir würde ich gerne abtauchen.“ Er ergriff ihr Handgelenk, zog es an sich und berührte mit dem Mund ihren Puls. „Mit wem hast du die denn ausprobiert?“

„Was, wie, wen?“ Irma fühlte, wie seine Lippen ihren Herzschlag küssten, und sie blickte ihn wie hypnotisiert an.

„Na, die Matratzen!“ Chris ließ ihre Hand los.

„Ach die...“, ächzte sie schließlich. „Es könnte sein, dass es mit Oliver war, aber das weiß ich nicht mehr so genau. Wahrscheinlich hab’ ich’s verdrängt...“

„Und wer sonst noch wurde von den Matratzen verschluckt?“

„Niemand!“

„Aber Oliver doch?“ Chris warf ihr einen leicht ärgerlichen Blick zu. Irgendwie reagierte er auf Oliver immer allergisch, obwohl er doch gar nichts von dem zu befürchten hatte.

„Ich habe ihn nie mitgenommen.“ Das war die Wahrheit, keinen hatte sie jemals mitgenommen und sich also auch mit keinem auf die Matratzen gelegt. Hmmm, ihre Eltern würden ganz schön blöd gucken, wenn sie mit einem Kerl ankam, aber sie hatte sie ja vorgewarnt. „Ach Chris, ich weiß immer noch nicht, ob das gut ist.“ sagte sie nach einer Weile.

„Was denn, das mit den Matratzen

„Nein, nicht das Versinken“, druckste Irma herum, „sondern dass du mit zu meinen Eltern fährst...“

„Da du jetzt ja MEINE schrecklich nette Familie kennst, dachte ich, ich könnte deine auch mal kennen lernen.“ Obwohl sein Tonfall wie immer leicht spöttisch klang, wirkte Chris sehr ernst.

„Die ist ähnlich schrecklich wie deine...“, Irma fing an zu kichern. „Nimm dich nur vor meiner Mutter in Acht, die wollte immer schon einen Sohn haben...“

„Vielleicht kriegt sie ja noch einen...“

Irma schaute schnell weg von ihm, das Thema wurde ihr zu heiß, das ging so in Richtung Schwiegersohn. Im gleichen Augenblick fühlte sie, wie eine Welle von Übelkeit sie überschwemmte, irgendetwas kam ihr hoch, sie hielt sich automatisch die Hand vor den Mund und schluckte es wieder herunter. Widerlich war das!

„Bitte halt mal an!“ stöhnte sie gequält.

„Ach komm! So schlimm wird es doch nicht werden.“ sagte Chris amüsiert.

„Nein, nicht das! Ich muss kotzen!“

Chris warf ihr einen kurzen Blick zu, und ihr Anblick schien ihn zu beunruhigen. Sie war bestimmt käsebleich und sah furchtbar aus. Gott sei Dank hatten sie die Autobahn schon hinter sich, und auf der Landstraße herrschte nicht viel Verkehr. Chris konnte fast sofort anhalten, und Irma verschwand eilig im Gebüsch.

Sie übergab sich heftig, es war ein furchtbares Gefühl, und Tränen schossen ihr in die Augen. Es passierte nun schon zum dritten Mal, dass sie morgens und manchmal auch mittags kotzen musste.

Was zum Geier war das? Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie denken, dass sie... Nein, so ein Quatsch, das war unmöglich.

Irma zog nachdenklich ein Kaugummi aus ihrer Hosentasche, echt super, unterwegs zu kotzen. Aber es ging ja schon wieder, sie hatte bestimmt was Falsches gegessen, oder es war ein Virus. In ihrer Firma grassierte im Moment so einer, fiel ihr ein. Na also!

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Die Alten von Irma waren wirklich nicht übel. Ihr Vater erzählte lustige Geschichten aus dem Gemeinderat. Ihre Mutter sah immer noch sehr hübsch aus mit ihren fünfzig Jahren, und Irma ähnelte ihr sehr... Irma hatte natürlich recht gehabt, ihre Mutter liebte ihn auf Anhieb, und Chris, der sich normalerweise sehr zurückhaltend verhielt, ließ es zu, dass sie ihn liebte. Es tat ihm gut, und automatisch musste er an seine eigene Mutter denken. Er hatte sie nie gekannt, sie war kurz nach seiner Geburt gestorben, aber er wusste nichts Genaues. Er war bei seinem Vater auf eine Mauer aus Zurückhaltung gestoßen, als er das Thema anschnitt. Es hieß nur, seine Mutter wäre an einer plötzlichen Krankheit gestorben. Auch Irene wusste nicht viel, sie konnte sich nur verschwommen daran erinnern, wie die Mutter ausgesehen hatte und dass sie sehr lieb gewesen war. Chris hatte immer ein seltsames Gefühl, wenn er an seine unbekannte Mutter dachte. Etwas wie Schuldbewusstsein streifte ihn dann wie ein dunkler Schatten, aber das war irrational, und er verdrängte den Schatten. Und er wollte auch nicht mehr diesen Traum träumen, der ihn seit seiner Kindheit begleitete wie ein bösartiger Dämon. Allerdings hatte der Traum viel von seinem Schrecken verloren, seitdem Irma ihn in der Nacht zärtlich umarmte und seinen Schlaf bewachte...

Jedenfalls fand er Irmas Mutter sehr nett, und er ließ sich von ihr verwöhnen, mit Kuchen, mit Scherzen und mit Komplimenten.

„Wenn du so weiter isst, dann wirst du noch richtig fett werden“, meinte Irma spöttisch.

„Du bist ja bloß eifersüchtig...“

„Blödmann!“ Irma funkelte ihn empört an, musste dann aber lachen. „Komm’, wir gehen spazieren, ich zeig’ dir das Dorf!“

Sie nahm ihn bei der Hand und warf einen Blick auf ihre Mutter. „Ich entführe ihn dir jetzt. Kannst du das aushalten?“

Ihre Mutter lachte, und Irma zog Chris mit sich.
 
Es war kalt geworden, kein Wunder, es ging langsam aber sicher auf Weihnachten zu. Sie hielten sich an den Händen und schlenderten über die menschenverlassene Dorfstraße.

In den Vorgärten reckten sich noch einzelne Blumen empor, sie hatten sich noch nicht der Kälte ergeben, und es wirkte sonderbar, sie blühen zu sehen.

Über ihnen schaukelte die geflochtene Weihnachtsgirlande im Wind, und die winzigen Kerzen darin warfen flackernde Lichter auf die leere Straße.

„Ein schönes Dorf“, sagte Chris anerkennend und ließ seinen Blick über die stattlichen Gehöfte schweifen. Es gab sogar alte Fachwerkhäuser mit großen hölzernen Eingangstüren, gekrönt von dunklen Balken, auf denen in altdeutscher Schrift sinnvolle Sprüche eingeschnitzt waren.

„Ich liebe es!“ Irma umarmte ihn innig und flüsterte ihm ins Ohr: „Du solltest es mal im Sommer sehen, die vielen Blumen - und der Wald erst, es gibt da so Stellen...“

„Dann müssen wir im Sommer unbedingt hierhin fahren“, Chris zog sie noch enger an sich und küsste sie.

Als sie von dem Spaziergang zurückkamen, erwartete sie eine kleine Überraschung. Es war Besuch da, und zwar handelte es sich um Irmas Tante Lisa und ihren Mann Norbert, kurz Onkel Nobby genannt. Der Proff kannte Irmas angeheirateten Onkel Nobby, sie hatten zusammen studiert und mittlerweile auch wieder Kontakt zueinander aufgenommen. Deswegen wusste Onkel Nobby auch Bescheid über den Mann an der Seite seiner Nichte, und er schaute ihn neugierig durch seine dicken Brillengläser an.

„Das ist Chris!“ In Irmas Stimme war ein gewisser Besitzerstolz nicht zu überhören, und Chris schien das zu gefallen, er lächelte und begrüßte Onkel Nobby mit Handschlag. Bald darauf sah sie die beiden im Gespräch vertieft, es ging wohl um etwas Lustiges, denn Irma hörte sie laut auflachen.

 „Was gibt’s denn eigentlich zum Abendessen?“ Sie wandte sich an ihre Mutter.

„Wir wollen grillen.“

„Grillen ist gut!“ Schade, dass schon Winter war, im Sommer hätten sie im Garten gegessen, ein großer Tisch stand dann mitten auf der großen Wiese, die von Obstbäumen umsäumt war, und in der Ferne konnte man die Berge sehen, deren Weiden und Felder von der tief stehenden Sonne angestrahlt wurden. Ein wunderbarer Anblick. Und genauso wunderbar war es, direkt aus dem Gemüsebeet zu ernten, nämlich frische Zwiebeln, Bärlauch und grünen Salat.

Aber jetzt fand sie es auch nicht übel. Sie saßen im Wintergarten, der angenehm geheizt war – es hatte etwas mit Sonnenkollektoren zu tun – und die bequemen Korbsessel passten perfekt zu den Palmen, die hier in großen Kübeln überwinterten. Alles sah wunderschön aus, und Irma war stolz auf den guten Geschmack ihrer Eltern.

Es war ein perfekter Abend, friedlich und schön, alle unterhielten sich gut, und Irma überlegte, wie Chris und sie wohl Weihnachten verbringen würden. Ganz alleine oder mit Freunden? Oder mit der Familie? Hauptsache sie war mit Chris zusammen. Ach Chris… Sie griff nachdenklich nach einem kleinen Lammkotelett, sie hatte zwar schon alles Mögliche gefuttert, aber sie verspürte immer noch Appetit. In diesem Augenblick wurde ihr wieder schlecht, und sie überlegte krampfhaft, ob sie aufspringen und zum Klo rennen sollte, aber sie tat es nicht, sondern versuchte, die Übelkeit zu bezwingen. Und dem Himmel sei Dank klappte es. Nicht auszudenken, wenn sie hier auf den Tisch gekotzt hätte…

Das war doch nicht normal! Sie fühlte sich so anders als sonst, das war keine Magen-Darmsache, das könnte fast... Auch ihre Brüste waren größer geworden und empfindlicher. Aber es konnte gar nicht sein, sie hatte doch die Spirale... Andererseits galt die Spirale nicht als hundertprozentig sicher, aber was war schon hundertprozentig sicher? Die Pille? Nee, auch die nicht. Irma fühlte sich verwirrt und ratlos, sie bemerkte nicht einmal, das ihre Mutter sie forschend ansah. Dann auf einmal kam ihr eine Idee. Sie könnte ihren Onkel Nobby fragen, der war Frauenarzt und müsste es eigentlich wissen.

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Die Matratzen waren genauso weich wie früher, aber Irma spürte nicht viel davon, sie stand nämlich unter Schock. Das Gespräch mit ihrem Onkel steckte ihr immer noch in den Knochen. Es konnte nicht wahr sein! Während sie sich mechanisch auszog und dann unter das Federbett kroch, erinnerte sie sich an seine Worte: „Es kann durchaus sein, dass man trotz einer Spirale schwanger wird. Sie ist lange nicht so sicher wie die Pille – und ich hatte letztens einen Fall in meiner Praxis...“ Das hatte Nobby gesagt. Na super! Irma war das Blut in die Wangen geschossen, und sie kriegte kein Wort heraus, was ihren Onkel wohl ziemlich verwunderte. Aber er ließ sich nichts anmerken und machte auch keine blöden Anspielungen. Er war wirklich ein toller Mann, sensibel und rücksichtsvoll. Tante Lisa hatte viel Glück gehabt, ihn zu kriegen.

„Was ist denn los, Haselmaus?“ Chris beugte sich ihr herüber und nahm sie in die Arme. Irma war immer noch so betäubt von den Offenbarungen ihres Onkels, dass sie wortlos ins Dunkel starrte.

„Ach komm’, sag’s mir“, Chris küsste sie auf die Stirn. Sie entspannte sich ein wenig und versuchte zu vergessen, dass sie eventuell... War bestimmt alles nur Einbildung.

„Ich musste nur an früher denken“, sagte sie leichthin.

Außerdem wollte sie ihn, sie wollte seinen Körper spüren, wollte ihm Freude bereiten, wollte ihn schmecken, küssen, überall...

Langsam begannen ihre Hände an seinem Körper entlang zu streicheln, sie glitten tiefer und berührten ihn sanft. Er atmete heftiger, als sie die Bettdecke etwas beiseite schob. Sie streichelte ihn mit ihren Händen, und sie streichelte ihn mit ihrem Mund, sie küsste jeden Zentimeter seiner Haut, fing an seiner Stirn an, küsste sich über seine Lippen hinunter zu seinem Hals und schließlich zu seiner Brust. Verschwand schließlich ganz unter dem riesigen Federbett und widmete sich tieferen Bereichen. Es war genauso schön wie seine Lippen oder wie alles an ihm. Er schmeckte so gut, und sie liebkoste ihn intensiv, bis er förmlich explodierte.

„Es ist kalt, nicht wahr?“, flüsterte sie, während sie sich an ihn schmiegte. Das stimmte, die Heizung im Zimmer war aus.

„Nicht wirklich...“ Er küsste ihre Brüste, es war wundervoll, es war noch intensiver als sonst. Woran lag es? An ihren Brüsten? Oh Gott, nein! Sie waren wirklich empfindlicher geworden – und auch üppiger. Hatte er es bemerkt? Offensichtlich nicht, und das war gut. Irma fühlte, wie ihr Körper unaufhaltsam auf seine Küsse reagierte, und die blöden Gedanken lösten sich in Luft auf.

Chris schaffte es immer, sie alles andere vergessen zu lassen.

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EIN GESPRÄCH

Jetzt war sie schon eine Woche wieder daheim, ihr Zustand hatte sich zwar leicht verbessert, aber das hieß gar nix, sie war schwanger. Der Arzt hatte es bestätigt, hatte irgendwas von drittem Monat gefaselt und von Mutterpass. Aber Irma verstand es nicht sofort, sie starrte ihn nur fassungslos an. Wieso war es ihr nicht früher aufgefallen? Na gut, sie vertrug die Pille nicht, sie hatte einen langen unregelmäßigen Zyklus, und diese Drecksspirale hatte versagt...

Ihr war es furchtbar übel, und dieses Gefühl verspürte sie am ganzen Körper. Es kam ihr vor, als stünde sie am Rande eines Abgrunds und müsste gleichzeitig kotzen. Haha, das Kotzen morgens war vielleicht eine gute Vorübung dafür. Sie musste lächeln, aber das Lächeln geriet zu einer Grimasse, und sie verschränkte die Arme unter ihren Brüsten und wiegte sich verzweifelt hin und her. Es schien sie zu beruhigen, und sie konnte weiter nachdenken. Es grenzte an ein Wunder, dass Chris noch keinen Verdacht geschöpft hatte. Okay, Männer hatten keinen Blick für so was, auch wenn sie noch so intelligent waren. Und eigentlich war es ein Glück, dass auch sonst noch keiner Verdacht geschöpft hatte. Das fehlte gerade noch, wenn jemand ihr erzählen würde, wie schön das alles doch wäre... Wieder musste sie leicht würgen.

Oh Gott, sie brauchte einen Rat, sie konnte das einfach nicht alleine entscheiden. Obwohl sie sich ja schon halb entschieden hatte. Aber sie wusste absolut nicht, ob die Entscheidung richtig war. Vielleicht gab es ja jemanden, der ihr ganz was anderes riet. Dieser jemand sollte nett, sensibel und erfahren sein, was soviel hieß, er sollte eine Frau sein. Und seltsamerweise kam ihr nicht ihre beste Freundin Jessi in den Sinn, sondern Chris’ Schwester Irene.

Sie würde Irene besuchen, war ja nicht weit, sie wohnte unten im Haus. Meistens hielt sie sich abends beim Proff auf, denn die Operation vor ein paar Wochen hatte ihm ganz schön zugesetzt. Irene machte ihm ein bisschen den Haushalt und brachte ihm Essen vorbei. Ach, der Proff war nett! Sie mochte ihn total. Und er mochte sie auch, weil sie ihm so natürlich und spontan erschien. „Du erinnerst mich an meine Frau“, hatte er zu ihr gesagt. Diese geheimnisvolle Frau, von der Chris nicht viel wusste. Aber Irma wollte von deren Vater-Sohn-Problemen im Moment gar nichts wissen, jetzt ging es um etwas ganz anderes. Es ging um Leben und Tod. Schrecklich war das. Wieder verspürte sie dieses furchtbare Gefühl im ganzen Körper, und sie stöhnte auf.

Also Irene besuchen, die würde bestimmt klarer sehen. Irene schien in ihrer Ehe nicht sehr glücklich zu sein. Oder war das immer so in Ehen, dass nach ein paar Jahren die Luft raus war? Nein, das würde sie nicht zulassen. Sie hatte sich vorgenommen, Chris teils zu verwöhnen, teils in Atem zu halten, hatte sich vorgenommen, ihr eigenes Leben zu leben, und er sollte das auch tun, Männer und Frauen hatten eben unterschiedliche Interessen. Oh Himmel, wieder stöhnte Irma auf, tolle Vorsätze hatte sie da gehabt, alles hatte sie steuern wollen, das Glück, die Liebe, das Zusammensein...

Aber dieses Kind würde alles durcheinander bringen. Sie wäre von Chris abhängig, sie würden aufeinander glucken samt Kindergeschrei in der Nacht und auch am Tage. Die Nerven würden manchmal bloß liegen – und mit der Liebe wäre es dann bald vorbei. Konnte sie Chris diesen ganzen Mist antun? Und seine Freunde würden denken, dass sie es darauf angelegt hätte, nein, nein, das ging nicht, er hatte ihr vertraut, hatte vertraut darauf, dass sie diese Spirale in sich trug. So ein Mist, wie konnte das nur passieren?

Es würde mit Sicherheit schief gehen. Und deswegen sollte sie besser vorher abdampfen. Aber sie liebte ihn doch. Konnte sie ihn einfach so verlassen? Wer war wichtiger, sein Kind oder er? Chris war derjenige, den sie liebte und der ihr bisher am wichtigsten war. Das Kind schwebte irgendwo, eigentlich nur am Rande ihres Bewusstseins, sie hatte noch kein Gefühl für das, was in ihr heranwuchs. Würde sie jemals ein Gefühl dafür haben? Bis jetzt sah es nicht danach aus.

Irma dachte daran, die Schwangerschaft abzubrechen. Halbherzig zwar und mit vielen Zweifeln beladen, und allein schon der Gedanke daran tat ihr weh, aber sie hatte Angst. Angst, es Chris zu sagen. Angst vor der Zukunft. Angst vor seiner Reaktion. Angst davor, dass er es nicht wollte. Ja, das war bestimmt die größte Angst. Dass er es nicht wollte und es nur aus der Pflicht heraus, na ja... akzeptierte. Es gab natürlich noch eine andere Möglichkeit, nämlich Chris zu verlassen und das Kind alleine großzuziehen, ohne ihm etwas davon zu sagen. Der Gedanke daran war verlockend und furchtbar zugleich. Wie sollte sie ohne Chris leben können? Natürlich würde es gehen, aber das Leben ohne ihn wäre ziemlich öde. Bei diesem Gedanken stiegen ihr automatisch Tränen in die Augen. Sie schüttelte unwillig den Kopf und überlegte weiter.

Eigentlich hatte sie ja im nächsten Jahr mit dem Tiermedizinstudium anfangen wollen, Tierärztin werden war ihr Ziel, aber das konnte sie sich abschminken, egal ob sie jetzt mit Chris zusammen blieb oder ihn verließ. Das Kind würde alles von ihrer Kraft brauchen, und das war auch richtig. Man sollte kein Kind in die Welt setzen und sich dann nur unvollkommen darum kümmern. Verdammt, was sollte sie nur tun?

Sie würde Irene fragen. Sie vertraute Irene, doch sie hatte Angst, ihr alles zu sagen, vielleicht würde Irene dann zu Chris laufen und ihm alles brühwarm erzählen – und ihm womöglich ins Gewissen reden, von wegen Vaterpflichten und so weiter. Nein, sie wollte nicht, dass er sich verpflichtet fühlte.

Seltsam, in den letzten Monaten hatte sie festgestellt, dass Chris eigentlich recht konservativ war. Obwohl der Ausdruck konservativ auch nicht richtig passte. Jedenfalls schien er zu seinen Gefühlen zu stehen, egal wie unstet und wechselhaft er früher gewesen war. Er hatte sich für sie entschieden, und er stand dazu. Nie schaute er in ihrer Gegenwart eine andere Frau begehrlich an. Er war immer da, wenn sie Probleme hatte, und sie konnte mit ihm über alles reden. Oh Gott, nur über dieses eine nicht. Davor hatte sie furchtbare Angst

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Es war Freitag Abend, Chris war mit dem Sohn von Bekannten zu einem Tennisturnier gegangen, aber er wollte bald zurückkommen. Irma und Irene saßen auf dem Sofa in Irenes Wohnzimmer und tranken Kaffee. Irene hatte ihr zuerst Rotwein angeboten, aber Irma lehnte ab, es schien ihr zu gefährlich zu sein. Nahm sie etwa schon Rücksicht auf das Leben in ihr? Seltsam war das und unerwartet...

„Sag' mal Irene, hast du nie mit dem Gedanken gespielt, ein Kind zu haben?“ Das war eine, wie ihr schien, recht unverfängliche Frage.

Irene sah zuerst verblüfft aus. Aber dann verzog sich ihr Mund schmerzlich, und sie schwieg eine Weile.

Irma fühlte sich unbehaglich. Hatte sie etwa in ein Wespennest gestochen? War Irene doch nicht der richtige Ansprechpartner?

„Ach Irma“, Irene seufzte leise auf. „Natürlich habe ich daran gedacht, und ich denke immer noch jeden Tag daran. Aber es geht nicht, es ist vorbei. Und dabei hätte ich ein Kind haben können…“

„Aber wieso...“

„Das ist eine unerfreuliche Geschichte.“ Irenes Stimme klang so leise, dass man sie kaum hören konnte, und sie machte eine lange Pause, während der sie vor sich hin starrte. Dann aber sprach sie zögernd weiter. „Aber sie verfolgt mich immer noch, und ich kann einfach nicht aufhören, daran zu denken. Dabei wünschte mir so sehr, ich könnte alles rückgängig machen. Aber es geht nicht. Ich habe meine Chance vertan.“

„Was ist denn passiert?“ fragte Irma erschüttert. Sie sah die von ihr bewunderte Irene zum ersten Mal vollkommen aufgelöst, und dieser Anblick war so ungewohnt, dass er Irmas Welt zum Wanken brachte

„Ich fang’ am besten mit dem Anfang an.“ Irene sammelte sich und überlegte sichtlich.

„Du musst es mir nicht erzählen.“ Irma schaute Irene mitleidig an.

„Doch, doch, es ist besser, wenn ich es endlich tue. Es weiß ja sonst keiner davon. Auch Chris nicht...“

Was denn, auch Chris nicht? Irma stutzte, denn Chris und Irene waren doch zusammen aufgewachsen, Irene hatte für ihren kleinen Bruder gesorgt, und sie wusste fast alles über ihn. Aber umgekehrt war das wohl nicht der Fall.

Irene schwieg eine Weile, aber dann riss sie sich zusammen - Irma könnte förmlich sehen, wie ein Ruck durch sie ging - und fing mit fester Stimme an zu sprechen:

„Als ich achtzehn war, wurde ich schwanger. Ich empfand nicht besonders viel für den Kerl, er war ein Idiot. Aber ich war eine noch größere Idiotin, weil ich nicht verhütet hatte. Ich glaube, in diesem Alter ist man mit Blindheit geschlagen, man nimmt einfach nicht wahr, dass es passieren kann.“

Irma schaute sie ungläubig an. Oh nein, nicht Irene, sie liebte Irene, Irene war ihr Vorbild, sie bewunderte sie, sie war so selbstständig, und sie war die perfekte Ehefrau, sie liebte ihren Mann sehr und tat alles für ihn, ohne dass es nach Aufopferung aussah...

„Ich habe es wegmachen lassen!“ Mit diesem furchtbaren Satz unterbrach Irene ihre Gedanken. „Ich wollte meine Zukunft nicht zerstören. Ich war doch noch so jung...“

Obwohl Irma das irgendwie erwartet hatte, war sie geschockt. Irene hatte auch Abgründe, sie war nicht vollkommen. Aber sie konnte das nachvollziehen, denn sie hatte es ja auch... Obwohl sie es in Wirklichkeit gar nicht tun wollte, das wurde ihr plötzlich bewusst.

„Ach Irene, ich kann das verstehen.“ Sie legte tröstend ihre Hand auf Irenes Arm.

„Du kannst gar nichts verstehen!“ Chris' Schwester schüttelte ihre Hand einfach ab.

„Was ist denn passiert?“ fragte Irma zaghaft, irritiert durch Irenes Zurückweisung.

„Gar nichts! Außer dass es wohl die erste und die letzte Möglichkeit war, ein Kind zu bekommen. Und ich habe es wegmachen lassen.“ In Irenes Augen standen Tränen.

„Oh Gott!“ sagte Irma entsetzt, aber diesmal traute sie sich nicht, Irene zu berühren.

„Ich habe dann Mark geheiratet. Wir wollten beide Kinder, aber ich habe es hinausgeschoben, ich habe gedacht, ich hätte viel Zeit....“ Irenes Stimme klang verzweifelt, einen Augenblick lang kämpfte sie mühsam um ihre Fassung und lachte bitter auf: „Viel Zeit! Die hatte ich aber nicht. Mit achtundzwanzig stellte man Gebärmutterhalskrebs bei mir fest, er war schon ziemlich weit fortgeschritten. Und damit hatte sich mein Kinderwunsch erledigt. Mark war vollkommen fertig, er hatte sich so sehr Kinder gewünscht.“ Irenes Stimme stockte. „Und seitdem kränkelt es bei uns. Wahrscheinlich werden wir uns trennen.“

„Oh nein“, sagte Irma fassungslos. Damit hatte sie nicht gerechnet. Die ganze Geschichte war furchtbar, und sie musste sich automatisch vorstellen, wie ihr das gleiche passierte. Wenn sie es wegmachen ließ, wenn dieses Kind ihr einziges sein würde... Aber es war ja noch schlimmer, denn es wäre Chris’ Kind, und sie würde sich das nie verzeihen, falls... Irma riss sich zusammen.

„Mag Chris eigentlich Kinder?“ Sie hoffte sehr, dass ihre Stimme unverfänglich klang. Und tatsächlich schien Irene keinen Verdacht zu schöpfen.

„Natürlich mag er Kinder!“ Irene fing an zu lachen, sie hatte sich anscheinend wieder gefangen. „Weißt du, dass er mal eine Freundin hatte, eine mit Kind?“

„WAS!!!“ Irma starrte sie an. Das war ja eine tolle Nachricht!

„Ich war ein wenig mit ihr befreundet, sie war die Exfrau eines seiner Kumpels, sie hat einen zehnjährigen Sohn, nein, mittlerweile muss er elf sein...“

„Davon hat er mir nie was erzählt.“

„Hast DU ihm alles erzählt?“ Irene schaute ihr voll in die Augen, und Irma wandte beschämt den Blick ab. „Natürlich nicht“, sie schüttelte den Kopf. „Obwohl ja nicht viel passiert ist, Gott sei Dank...“

„Dann verstehst du ja, was ich meine.“ Irene lächelte irgendwie hinterhältig. „Diese Beziehung war eben nicht wichtig für ihn. Ich glaube, er fand nur den Gedanken nett, sich mit einem Kind zu beschäftigen, ohne sich der Mutter allzu sehr verpflichtet zu fühlen. Es ging ein halbes Jahr lang gut, aber dann...“

„Puuuh“, sagte Irma ein wenig fassungslos. Chris war für längere Zeit mit einer Frau zusammen gewesen? Das passte ihr gar nicht. Und dann handelte es sich auch noch um eine Bekannte von Irene. Die war bestimmt genauso vernünftig, gescheit und solide...

„Ich bin nicht mehr mit ihr befreundet“, Irene sah bei diesen Worten leicht verärgert aus. „Sie ist mir zu oft vorbeigekommen und wollte mich über Chris aushorchen. Ich traue ihr nicht, ich habe bei ihr ein seltsames Gefühl...“

„Chris hat Schluss mit ihr gemacht?“

„Natürlich er! Es ging nicht auf Dauer“, berichtete Irene. „Sie wollte mehr von ihm, wollte ihn mit Haut und Haaren. Und natürlich war er nicht bereit, ihr das zu geben, was sie wollte...“

„Natürlich nicht“, grummelte Irma vor sich hin. „Aber zusammen gepennt haben sie bestimmt...“

„Sicherlich“, Irene lächelte „Aber ich glaube, Chris wollte es einfach mal versuchen, er hatte ja schon seit längerem die Nase voll von seinem... na ja, du weißt schon. Aber es klappte halt nicht.“

„Und der Junge? Was ist mit dem?“, fragte Irma neugierig.

„Chris trifft ihn manchmal... Er mag halt Kinder. Und der Kleine geht auch in die Schule, an der er unterrichtet.“

„Was für ein Zufall!“ sagte Irma zerstreut, sie überlegte, und dann fiel es ihr ein. Sie hatte Chris mit dem Auto abgeholt, und er stand da auf dem Schulhof mit einer Frau und einem Jungen. Sie unterhielten sich, während der Junge Chris anstrahlte und seine Mutter sich verdächtig nah an Chris herumtrieb. Es war eine sehr schöne Frau, blond, gute Figur, elegante Kleidung... Blöde aufdringliche Weiber, hatte sie gedacht, sich aber nichts draus gemacht, denn Frauen standen nun mal auf Chris. Aber diese war anders, er hatte mal was mit ihr, er mochte ihren Sohn, und vielleicht war es kein Zufall, dass der Junge auf das Gymnasium ging, an dem Chris unterrichtete... Na und wenn schon, es war vorbei, Chris liebte sie, und Chris mochte auch Kinder... Irma starrte in Gedanken versunken vor sich.

„Was ist denn, Irma?“ Irene hatte sie leicht angetippt. Irma wachte aus ihren Gedanken auf und sah verlegen auf den Boden.

Irene schaute sie prüfend an. Dann auf einmal schimmerte in ihrem Blick Erkenntnis auf, und sie fing an zu lächeln. „Sag’ es ihm! Du musst es ihm sagen! Er liebt dich doch, das sieht sogar ein Blinder. Und er mag Kinder...“

„Aber es ist so früh, es ist viel zu früh“, Irma blickte Chris’ große Schwester mit unglücklichen Augen an.

„Er wird sich dran gewöhnen, und es wird ihm gefallen. Ich kenne ihn doch, seit er ein kleines Kind war. Er hat zwar seine Macken“, Irene lachte, „und er hat erst spät seine große Liebe gefunden, aber er mag Kinder. Und von dir mag er sie bestimmt am liebsten...“

„Na gut, wenn du das sagst...“ Irma fühlte, wie ihr wieder die Tränen kamen. So ein Mist, lag bestimmt an den Hormonen, denn jetzt war sie ein Muttertier und würde bestimmt bald fett und hässlich werden. Oh Chris, wirst du mich dann immer noch lieben? Ja, sagte etwas in ihr, und sie war geneigt, dieser inneren Stimme zu vertrauen. Sie hatte ja keine andere Wahl, denn sie wusste jetzt, dass sie das Kind bekommen wollte. Es würde einzigartig sein, und sie würde es über alles lieben, denn sie liebte seinen Vater ja auch über alles.

Sie stand da und merkte nichts von dem, was um sie herum passierte. Bis sie fühlte, wie Irene sie umarmte.

„Ich werde Tante!“, sagte Irene enthusiastisch. „Jetzt kann ich doch noch ein Kind verwöhnen! Und ich darf hoffentlich oft den Babysitter spielen...“ Sie küsste Irma abwechselnd auf beide Wangen.

Irma musste lachen, alle ihre Sorgen lösten sich auf, denn wenn Irene an ihrer Seite war, dann konnte ihr nicht viel passieren.

„Ich werd’ bestimmt froh sein, wenn ich das Kind mal loswerde für ein paar Stunden, aber ob du das aushältst? Ich weiß nicht, ich weiß nicht, das Baby wird bestimmt eine brisante Mischung werden...“

Sie kicherten beide, die Frau, die nie Mutter geworden war, und die andere, die es zuerst gar nicht werden wollte. Bis sich Irma schließlich aus der Umarmung löste. Sie hatte nur noch einen Gedanken, nämlich den an Chris.

Sie würde es ihm sagen, heute Abend noch.

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MONOLOGE…

Er war mit dem Sohn dieser Frau zu dem Tennisturnier gegangen, das kam Irma auf einmal zu Bewusstsein. Und sie musste daran denken, wie sie die drei auf dem Schulhof gesehen hatte. Die Frau war nicht nur schön, sondern auch intelligent. Und mit diesem Wunderwesen war er ein halbes Jahr zusammen gewesen. Ein halbes Jahr, das kam Irma wahnsinnig lang vor, sie selber war ja gerade mal fünf Monate mit Chris zusammen, und die ersten Monate zählten eigentlich gar nicht... Oh Gott, diese Frau mit ihrem Sohn, bedrohlich irgendwie, denn so viele Exfreundinnen hatte er ja nicht gehabt, hatte nur mit jeder Menge Frauen rumgemacht. Irma fühlte, wie Ärger in ihr hochkam, aber der kam nicht von der Vorstellung von den vielen Frauen, daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt, die zählten nicht. Aber diese Frau, verdammt noch mal, die mit dem Sohn, die war gefährlich. Chris mochte den Kleinen wohl sehr, aber was empfand er für die Mutter? Die war unheimlich scharf auf Chris, hatte sich in die Idee verrannt, ihn wiederzukriegen, das wusste sie von Irene. Und sie musste etwas Besonderes sein, wenn Chris es ein halbes Jahr mit ihr ausgehalten hatte.

Aber dann dachte Irma trotzig: Ich bin ja auch nichts Besonderes, und trotzdem ist er mit mir zusammen. Und wirklich toll, jetzt bin ich total verunsichert... Irma riss sich mühsam zusammen, sie sollte sich nicht verrückt machen lassen. Nicht von dieser Frau! Und sie wandte ihre Gedanken wieder Chris zu.

Es war schön anzusehen, wie er mit Kindern umging. Er gab ihnen Nachhilfestunden, er war immer für sie zu sprechen, er musste Kinder lieben. Sonst wäre er vielleicht auch nicht Lehrer geworden. War das ein Zeichen? Konnte sie es ihm sagen?

Wieder fiel ihr der kleine Junge ein. Wurde er vielleicht von seiner Mutter benutzt, um Chris zurückzugewinnen? Das wäre abartig, aber nicht unmöglich. Herr des Himmel, was machte sie sich überhaupt Gedanken darum, Chris liebte diese Frau nicht, sonst hätte er sie nicht verlassen. Aber trotzdem, sie war so schön und so perfekt... Wie Nadelstiche fühlte Irma die Eifersucht.

Aber schließlich siegte ihr angeborener Optimismus. Warum machte sie sich überhaupt Sorgen? Chris hatte sich für sie entschieden, und Chris würde auch ihr gemeinsames Kind lieben. Das hatte Irene gesagt. Und sie glaubte Irene.

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„Du hast mir gar nicht erzählt, dass du länger mit einer Frau zusammen warst...“ Sie sitzen eng nebeneinander auf dem Sofa und schauen South Park. Eric Cartman, dieser fette kleine Kerl, das ist wirklich ein Monster...

„Hat Irene dir das erzählt?“ Chris fängt an zu grinsen. „Ihr sprecht doch nicht etwa über mich?“

„Quatsch, du Blödmann! Bild’ dir ja nix ein!“ Irma schaut ihn empört an. „Nein, wir kamen nur so darauf, weiß auch nicht mehr wieso...“ Sie blickt verlegen vor sich hin.

„Ach Irma“, Chris stupst sie zart an ihre Nase. „Das war wirklich nicht wichtig, ich habe damals nur geübt, und natürlich war es vollkommen zwecklos...“

„Kann ich verstehen, Chris. Es soll ja auch kein Vorwurf sein.“ Irma schaut ihm direkt in die Augen. „Und den Jungen? Triffst du den noch?“ Was fragt sie da? Sie weiß doch, dass er ihn manchmal trifft. Aber warum spricht er nie darüber?

Chris sieht sie erstaunt an. „Er geht auf meine Schule, und ab und zu unternehme ich was mit ihm. Heute Nachmittag zum Beispiel, ich hatte schon vor längerer Zeit versprochen, mit ihm zu diesem Tennisturnier zu gehen. Aber woher weißt du von ihm?“

„Irene hat’s mir gesagt.“ Irma überlegt, ob der Kleine vielleicht Chris als seinen Vater ausgibt, wenn er mit ihm... Oh nein!

„Du und Irene, was habt ihr beide denn immer zu quatschen?“ Chris lächelt und zieht sie an sich.

„Ich habe sie um Rat gefragt“, sagt Irma zögernd. Jetzt ist es so weit, jetzt muss sie es ihm sagen.

Chris schaut sie forschend an. „Warum fragst du meine Schwester, ? Warum fragst du nicht mich? Oder handelt es sich vielleicht um so eine Weibersache?“

„Weibersache… Hmmm ja…“, druckst Irma herum. „Das könnte man so sagen...“

„Hoffentlich nichts Schlimmes...“

„Ich hab’ sie nur gefragt, ob du Kinder magst.“ Irma zögert einen Moment, aber dann sprudelt es übergangslos aus ihr hervor: „Denn wir werden ein Kind haben, ich bin schwanger.“ Oh Gott, es ist raus, und sie ist froh drüber!

Sie sieht, dass er sie verständnislos anstarrt, aber dann auf einmal scheint er es zu verstehen, und sein Blick verwandelt sich. Seine Augen sehen seltsam aus, so versteinert...

„Das ist unmöglich.“ sagt er mit einer sehr leisen tonlosen Stimme, aber sie hört sich trotzdem gefährlich an.

Jetzt starrt Irma ihn fassungslos an. „Warum?“

„Du darfst es nicht kriegen! Ich will das nicht!“

„Aber warum?“ Irma spürt, dass etwas Furchtbares in der Luft liegt, und sie hat Angst davor.

„Es ist gefährlich!“ Chris stiert irgendwie blöde vor sich hin. Was ist los mit ihm, man könnte ja fast denken, er hätte große psychische Probleme. Das kann nicht sein.

„Aber wieso?“ hakt sie fassungslos nach. Sie hat es immer noch nicht verstanden, will es immer noch nicht glauben, was sie da gehört hat. Es muss ein Missverständnis sein.

Er sagt nichts und schaut an ihr vorbei. Er macht den Eindruck, als wäre er ganz weit weg, an einem fremden unbekannten Ort. Und dort wo er ist, kann sie ihn nicht erreichen.

Irma merkt, dass ihre Augen feucht werden, und das möchte sie nicht. Nicht vor ihm! Sie schaut auf den Boden, das Muster des Parketts verschwimmt vor ihren Augen und bildet einen Strudel, der sie in sich hineinsaugt. Es ist fast so, als ob sie kotzen müsste, fast so wie eine ihre morgendlichen oder abendlichen Übelkeiten.

Sie hört, wie eine Tür laut zugeschlagen wird, ihr Blick löst sich aus den Strudeln des Parketts, und sie schaut hoch.

Er ist weg! Er ist einfach gegangen. Er hat sie alleine gelassen mit ihren Sorgen und mit ihren mühsam errungenen Entscheidungen, aber das waren wohl nicht seine Entscheidungen. Er hat sich anders entschieden. Er will das Kind nicht, aus was für Gründen auch immer. Es ist aus.

Ihre Augen schmerzen unerträglich, denn die blöden Tränen wollen sich gewaltsam Bahn brechen, doch Irma hält sie mühsam zurück. Stattdessen zwingt sie sich zur Ruhe und denkt nach. Allerdings so, als ob sie besoffen wäre, ein Teil ihres Bewusstseins ist gelähmt, aus Selbstschutz wahrscheinlich, ein anderer Teil beschäftigt sich mit Nichtigkeiten aus der Vergangenheit. Sie hat es damals gedacht, zu welchem Zeitpunkt ihrer Beziehung hat sie es gedacht? Sie kommt nicht darauf, sie weiß nur, dass sie es gedacht hat. Irgendwas mit den Abgründen in der Seele einer Frau, sie grübelt angestrengt weiter, als ob viel davon abhängt, was sie damals gedacht hat, und schließlich fällt es ihr ein: Es war nach der ersten Nacht mit Chris, sie hatten sich morgens im Bett unterhalten, sie litt unter furchtbaren Kopfschmerzen, und sie dachte daran, was Chris nie sein würde. Genau, das war es: Er würde nie einer sein, an den man sich anlehnen konnte, wenn man schlecht geträumt hatte, nie einer, der einen die Abgründe der Seele vergessen ließ, nie einer, bei dem man sich Schwäche erlauben konnte, ohne dass er das ausnutzte.

Irma fühlt eine tiefe Befriedigung darüber, dass ihr diese Gedanken wieder eingefallen sind. Denn jetzt stellt sich heraus, dass nicht sie die Abgründe der Seele hat, sondern der starke Chris, denn warum sonst verhält er sich wie ein in die Falle gegangenes Tier, das um sich schlägt...

Was soll sie nun tun? Erst einmal gar nichts, vielleicht wird sich die Sache ja klären. Er hat Probleme, und vielleicht wird sie darüber erfahren. Und danach sollte sie den Einblick in seine Seele einfach vergessen, denn er wird ihr dafür dankbar sein.

Aber wie konnte er nur, warum hat er das gesagt, warum war er so grausam? Und dann auf einmal kommt der Schmerz, und sie krümmt sich, als hätte sie einen Tritt bekommen. Sie muss weg von hier, sie hält es nicht mehr aus. Hoffentlich ist er nicht mehr im Haus, sie will ihm auf keinen Fall begegnen Und seine Seele interessiert sie einen Dreck, er hat ja gar keine Seele. Denn so verhält man sich nicht.

Leise geht sie aus der Wohnung und schleicht sich in das Zimmer, das am Ende des Flures liegt und einen eigenen Eingang besitzt. Dort hat sie sich ein wenig eingerichtet, es steht nicht viel drin, ein Tisch mit ihrem Laptop darauf, ein Stuhl davor und in der Ecke ein altes Sofa. Es war ihr... hahaha Refugium, in das sie sich manchmal zurückzog, um Chris nicht auf die Nerven zu gehen. Sie hatte ja gedacht, er wäre weibliche Gesellschaft längerfristig nicht gewohnt. Auch das war wohl ein Irrtum.

Ich hasse mich, denkt sie, wie konnte ich nur so dumm sein. Und ihn hasst sie nicht? Das ist wirklich seltsam, sie sollte ihn hassen, aber sie ist nur so furchtbar enttäuscht.

Irma streift sich ihre Jacke über, nimmt ihr Laptop von Tisch, wirft einen letzten Blick in das Zimmer - und verlässt das Haus. Es scheint niemanden zu jucken, ob sie geht oder dableibt.

~~~~~~~~~~~

Als Chris zwei Stunden später nach Hause kommt, findet er die Wohnung leer vor.

Er sucht Irma, läuft leicht schwankend durch die Zimmer, denn er hat einiges getrunken. Aber sie ist nicht da. Ist ja auch kein Wunder. Was hat er da eigentlich erzählt. Chris merkt, dass ihm etwas wie ein eiskalter Klumpen im Magen liegt. Was zum Teufel hat er da eigentlich erzählt? Wie konnte er nur? Aber es war doch richtig, es ist gefährlich, ein Kind zu bekommen. Man kann sterben. Das Kind kann den Tod der Mutter verursachen. Egal wie, egal ob vor oder nach der Geburt.

Was sind das für blöde Gedanken. Es gibt Millionen von Frauen, die Kinder kriegen und nicht dabei sterben. Das ist eine Tatsache, also wovor hat er Angst? Chris setzt sich fassungslos auf das Sofa aus Büffelleder und stiert vor sich hin. Dann stöhnt er auf und vergräbt das Gesicht in seinen Händen. Was hat er getan? Er sieht ihr Gesicht vor sich und wie sie ihn anschaute. Was muss sie von ihm denken? Aber er will doch nur, dass sie lebt – und ein Kind wäre gefährlich.

Chris grübelt verzweifelt vor sich hin. Er denkt an seine Exfreundin. Sie war schön, sie war intelligent – und doch hatte er sich nicht in sie verliebt. Natürlich wollte sie ihn mit Haut und Haaren, vor allem wollte sie seine Liebe.

Aber warum war er mit ihr überhaupt zusammen gewesen? Die Erkenntnis kommt schlagartig: Er war mit ihr zusammen, weil er den Jungen mochte. Es war bequem, eine Art Sohn zu haben, ohne ein Risiko einzugehen. Risiko? Aber um was für ein Risiko handelt es sich? Was kann passieren? Irma ist gesund, aber dennoch hat er große Angst um sie. Und in seiner Vorstellung sieht er ein einsames Kind, das ohne Mutter aufwachsen wird und sich außerdem die Schuld an ihrem Tode gibt.

Diese Scheißträume! Wieso landet er nur immer bei ihnen? Manchmal träumt er, wie ein kleiner Junge ein Messer zückt und die Mutter ersticht. Manchmal träumte er, wie ein kleiner Junge einen Verkehrsunfall verursacht, wegen dem die Mutter ums Leben kommt. Manchmal träumt er, ein kleiner Junge vergiftet seine Mutter schon im Mutterleib... Es sind entsetzliche Träume, und am entsetzlichsten ist die Stimme, die immer den gleichen Satz sagt:

Wenn er nicht gewesen wäre, dann würde sie noch leben.
Wenn er nicht gewesen wäre, dann würde sie noch leben.
Wenn er nicht gewesen wäre, dann würde sie noch leben...

Aber warum, wieso? Was ist passiert? Hat es etwas mit seiner Mutter zu tun? Warum weiß er nicht, wie sie gestorben ist? Er weiß nur, dass sein Vater ihm ausgewichen ist, als er ihn danach fragte. Danach hat er nie wieder gewagt, das Gespräch darauf zu bringen. Und er weiß auch, dass etwas zwischen seinem Vater und ihm steht wie eine unsichtbare Wand. Was ist passiert, was könnte passiert sein, warum weiß er es nicht?

Ich habe Angst, das denkt er immer wieder verzweifelt. Ich habe Angst! Ich habe Angst! Oh Scheiße, was ist nur los mit ihm? Warum hat er Irma so weh getan? Das wollte er nicht, er liebt sie doch. Aber sie darf das Kind nicht haben. Es wird sie umbringen, und das kann er nicht dulden.

Blödsinn! Quatsch! Das ist doch alles irrational.

Mühsam zwingt er sich, rationell zu denken und auch zu handeln. Eigentlich will er sie sofort anrufen, will ihr hinterher fahren, will sie um Verzeihung bitten, will ihr sagen, dass er sie über alles liebt. Will ihr sagen, dass er auch das Kind... Nein, nicht das, das kann er nicht! Aber warum? Weil es eine Lüge wäre? Nein, er liebt dieses Kind doch schon, es ist Irmas und sein Kind, aber Irma liebt er mehr, und er will kein Risiko eingehen. Also besser sie nicht anrufen, ihr nicht hinterher fahren, sie nicht um Verzeihung bitten...

Trotzdem greift er sich das Telefon, es geschieht mit einer instinktiven hastigen Bewegung

Er wählt ihre Nummer und atmet tief ein, denn er weiß nicht, was er ihr sagen soll. Aber er muss ihre Stimme hören, er muss wissen, wie es ihr geht. Aber wie soll es ihr schon gehen? Beschissen natürlich. Und er ist schuld daran.

TUT-TUT- TUT-TUT TUT-TUT TUT-TUT- TUT-TUT…
Besetzt…
Besetzt?

Mit wem zum Teufel kann sie telefonieren? Etwa mit Ralf, ihrem besten Freund? Chris spürt sich fast wahnsinnig werden bei diesem Gedanken. Das Schlimme ist, Ralf ist wirklich ein netter Kerl, und er kann verstehen, dass Irma ihn mag. Sie hat es zugelassen, dass er sich mit Ralf angefreundet hat, hat es toleriert, dass er versuchte, ihr den besten Freund wegzunehmen. Sie ist einmalig und so großzügig, und sie liebt ihn, das weiß er.

Aber damit ist es wohl vorbei, so wie er sich verhalten hat. Wieder wählt er ihre Nummer.

TUT-TUT- TUT-TUT TUT-TUT TUT-TUT- TUT-TUT…

Sie telefoniert bestimmt mit Ralf, und Ralf ist in Irma verliebt und wird alles für sie tun... Wahrscheinlich wird er die Situation ausnutzen und sich an sie ranmachen.

Chris beißt sich auf die Lippen und überlegt wieder. Er will nicht, dass sie bei Ralf Hilfe sucht, obwohl es vielleicht für sie besser wäre. Denn er selber ist ein Arsch, er will ihr Kind nicht, obwohl er nicht genau weiß, warum er es nicht will. Nur aufgrund dieser dämlichen Träume? Das kann nicht sein, das ist irrational und bescheuert. Und er ist doch nicht verrückt!

Oder telefoniert sie gar nicht? Hat sie den Hörer daneben gelegt? Das könnte es sein. Vielleicht sollte er einfach zu ihr fahren und solange anschellen, bis sie die Tür aufmacht.

Aber was wird er ihr dann sagen? Wahrscheinlich genau das Gleiche wie vor ein paar Stunden. Er will das Kind nicht, denn er hat Angst um Irma. Er hat Angst vor dem Tod. Aber leider weiß er nicht warum, er hat einfach keinen einleuchtenden Grund dafür.

Chris legt den Hörer auf, fährt sich verzweifelt durch das Haar.

Ich habe Angst, denkt er wieder. Vielleicht sollte er seinen Kopf gegen die Wand hauen, um diese beschissenen Wahnvorstellungen loszuwerden. Diese Vorstellungen von toten Müttern, die durch ihre Kinder umgebracht wurden.

Chris setzt diese Idee sogleich in die Tat um, er steht auf, tritt auf die freie Wand des Zimmers zu – und knallt mit der Stirn gegen die harte Oberfläche.

Aber es hat keinen Sinn, seine Befürchtungen sind immer noch da, seine Wahnvorstellungen auch – und vor allem seine Angst.

Ich habe Angst, denkt er immer wieder. Er verbirgt das Gesicht in seinen Händen, stolpert auf das Sofa zu und lässt sich darauf fallen. Undeutlich spürt er Schmerzen, irgendwo an seinem Kopf, aber sie dringen nicht zu ihm durch.

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VERZWEIFLUNG

Welch ein Glück, dass sie ihre Wohnung noch nicht gekündigt hat, hier kann sie sich verkriechen, hier kann sie sich verstecken. Aber vielleicht kommt er ja doch noch, vielleicht sagt er dann, dass alles ein Versehen war, dass er das Kind auch will.

Irma schüttelt den Kopf. Sie sollte nicht darauf hoffen, aber die Hoffnung ist einfach nicht kaputtzukriegen, und das tut genauso weh wie die Enttäuschung, die sie gerade erlebt hat. Enttäuschung ist milde ausgedrückt, aber so leicht ist sie nicht unterzukriegen. Sie wird auch ohne Chris klarkommen. Trotzig nickt sie mit dem Kopf und bekräftigt damit ihre Gedanken.

Es ist ziemlich kalt in der Wohnung, aber das spürt sie erst zwei Stunden später. Klar, Mitte Dezember, Außentemperaturen, die sich um fünf Grad bewegen...

Irma dreht die Thermostate im Wohnzimmer und im Badezimmer bis zum Anschlag hoch, und allmählich wird die Wohnung vom Hauch einer unbestimmten Wärme erfüllt. Aber die reicht nicht aus, um ihr ein Gefühl von Behaglichkeit zu geben. Irma fühlt sich immer noch eiskalt. Sie sitzt auf dem Sofa, hat die Beine hochgezogen und umklammert sie mit den Armen, als wollte sie sich daran hindern, einfach auseinander zu fallen. Nebenbei lauscht sie, ob das Telefon etwas von sich gibt, aber es schweigt beharrlich. Chris ruft nicht an.

Also stimmt es, er will sie nicht, okay, sie vielleicht schon, aber nicht mit Kind. Und dabei liebt er Kinder von anderen Frauen! Der ist irre! Aber warum... Irma grübelt wieder vor sich hin, nachdem sie sich eine Weile stumpfsinnig hin und hergewiegt hat, um den Schmerz zu betäuben.

Dann tippt sie in einem Anfall von Wut auf den winzigen grünen Hörer im Display ihres Telefons, schade, früher wäre es sehr theatralisch gewesen, den Hörer daneben zu legen, aber jetzt im digitalen Zeitalter geht es auch. Sie wird nicht mehr auf seinen Anruf warten! Und sie wird ein paar Tage Urlaub nehmen, denn im Büro könnte er sie anrufen oder vielleicht sogar dort abfangen. Nicht dass sie damit rechnen würde. Sie schüttelt erbittert den Kopf.

Schließlich zieht sie zögernd ihre Sachen aus und geht zu Bett. Das Laken fühlt sich eiskalt an, und es ist ungewohnt, alleine hier zu liegen, aber sie wird sich wohl daran gewöhnen müssen. Oh nein, wie soll das gehen? Kein Chris mehr, keine Zärtlichkeiten mit ihm, keine romantischen Abende... Früher hat sie über so etwas gelacht, aber mit Chris ist es richtig, so furchtbar richtig. Kerzenlicht, Küsse, zarte Berührungen, geflüsterte Zärtlichkeiten, liebevolle Blicke, beider Erstaunen über ihre Gefühle, in ungeschickte Worte gefasst. Irma kommen wieder die Tränen.

Und das ist alles falsch gewesen? Das kann nicht sein, vielleicht ist alles nur ein Irrtum, und es gibt noch Hoffnung...

Die Hoffnung stirbt zuletzt, murmelt sie tonlos vor sich hin, und sie muss bitter auflachen. Sie zwingt ihre Gedanken zur Ruhe und überlegt ganz logisch, jedenfalls so logisch, wie es ihr im Moment möglich ist.

Will sie das Kind überhaupt? Sie weiß es nicht mehr genau, und dabei ist sie sich doch so sicher gewesen nach dem Gespräch mit Irene. Die Zukunft sah klar und wunderbar aus, sie würde das Kind lieben, und Chris würde es auch lieben. Es wäre mit Sicherheit ungewohnt und stressig, aber es hätte auch viel Gutes, ein Kind gemeinsam großzuziehen. Es würde ihrem Zusammensein eine neue Dimension geben, eine andere natürlich, aber bestimmt eine noch viel tiefere, falls das überhaupt möglich wäre.

Von wegen eine noch viel tiefere! Sie hat sich in sehr seichten Gewässern bewegt, sie hat an die große Liebe geglaubt, an die irrationale Vorstellung vom Glück mit ihm. Sie hat sich geirrt, ist gestrandet am zu flachen Ufer seiner Gefühle. Was hat sie sich nur dabei gedacht? Nicht viel wahrscheinlich, ist nur getrieben worden von ihren Wünschen, von ihren blöden sentimentalen Vorstellungen. Würde, hätte, wäre...

Und sie spürt noch gar kein Gefühl für das kleine Ding, das sich in ihr eingenistet hat, bis jetzt ist es nur ein Fremdkörper.

Vielleicht sollte sie ja wirklich, vielleicht wäre es das Richtige... Dann würde es mit Chris wieder klappen, sie könnten da weiter machen, wo sie aufgehört hatten, sie könnten ihr Leben und ihre Liebe genießen, befreit und unbeschwert. Aber es wäre alles vergiftet. Sie würde immer an seine Reaktion denken müssen, er will kein Kind... Irma beißt sich auf die Lippen.

Wie wird es wohl aussehen, denkt sie. Und auf einmal sieht sie es ganz klar vor sich, es ist ein Junge, er hat große Ähnlichkeit mit Chris. Klar, dieser Bastard ist so dominierend, er beherrscht sogar das Aussehen ihres Sohnes. IHRES Sohnes! Und er hat mit IHREM Sohn überhaupt nichts zu tun, denn er will ihn ja nicht....

Wir werden sehen, flüstert sie monoton vor sich hin, wir werden sehen. Und automatisch, ohne dass sie es will, legt sie ihre Hände schützend vor ihren Bauch. Seltsam, eben hat sie noch gedacht, wie allein sie wäre, aber das ist sie ja gar nicht.

Und Chris kann ihr gestohlen bleiben, egal wie sie sich entscheiden wird. Mit diesem trotzigen Gedanken schläft Irma endlich ein, aber es ist ein unruhiger Schlaf, sie wälzt sich hin und her, manchmal wacht sie auf, weiß nicht, wo sie ist, denkt, sie liegt neben Chris im Bett und spürt seine körperliche Nähe, aber dann fällt es ihr plötzlich ein, und sie muss daran denken, was Chris zu ihr sagte.

Sie stöhnt auf. „Lass mich in Ruhe!“, flüstert sie, krümmt sich zusammen und legt wieder automatisch die Hände schützend auf ihren Bauch. Ja, sie will es! Und Chris ist raus aus der Sache, er ist ja nur der biologische Vater, was hat er schon groß dazu getan? Sie will ihn nie wiedersehen, sie wird es alleine schaffen, und bezahlen braucht er auch nicht, denn sie wird keinen Vater angeben. Chris hat es nicht verdient, er kann ihr gestohlen bleiben!

Und wieder versinkt sie in einen unruhigen Schlaf.

Irgendwann in der Nacht wacht sie auf, sie spürt eine Wärme, die ihr vertraut vorkommt. Er liegt neben ihr und schläft wohl fest. Es ist wunderbar, neben ihm zu liegen. Chris, ich liebe dich so sehr, flüstert sie und beugt sich zu ihm herüber, um ihn sanft zu streicheln, um ihn zart zu küssen und seinen Schlaf zu behüten. Denn manchmal träumt er schlecht. Als sie es das erste Mal erlebte, da war sie noch gar nicht richtig mit ihm zusammen, aber es hat sie trotzdem erschüttert, er kam ihr so hilflos vor, der große Chris. Vielleicht fing sie in dieser Nacht an, ihn zu lieben, obwohl es ihr nicht bewusst war. Zumindest nicht bis zu der Wette. Irma muss lächeln, als sie an die Wette denkt. Das war zu albern, dieses Spielchen, aber es hatte ein Gutes: Sie kamen endlich zusammen und gestanden sich ihre Liebe, zaghaft natürlich, denn es war ungewohnt für sie. Auch jetzt passiert es selten, dass sie sich eine Liebeserklärung machen, aber es ist gar nicht nötig, sie lieben sich, und sie vertrauen sich. Wer hätte das jemals gedacht...

Irma rückt noch näher an Chris heran, schmiegt sich leicht an seinen Rücken und legt vorsichtig die Arme um ihn. Obwohl er schläft, weiß sie, dass er immer für sie da sein wird. Lieber Chris, denkt sie undeutlich, bevor sie in einen wohltuenden Schlaf gleitet.

Sie wacht auf, geweckt von einem Geräusch. Schlaftrunken lauscht sie in die Dunkelheit. Irgendetwas ist anders, ist nicht normal.

Chris liegt immer noch mit dem Rücken zu ihr, aber sein Atem geht nicht so regelmäßig wie gewohnt sondern verstummt manchmal für lange Sekunden.

Okay, jetzt atmet er wieder, aber stoßweise und heftig.

Bitte lass es nicht der Traum sein, denkt Irma angstvoll. Doch ihre Bitte wird nicht erhört, es ist der Traum. Wieder stöhnt Chris es, abgehackt und stoßweise: Wenn  er nicht  gewesen wäre,  dann würde    sie  noch leben. Er stöhnt es wieder. Wenn  er nicht  gewesen wäre,  dann würde    sie  noch leben. Wenn er nicht   gewesen wäre, dann würde     sie   noch leben.

Armer Chris, sie streichelt zärtlich seinen Rücken und sagt dann leise: „Ist ja schon gut. Du träumst nur.“

Sofort hört er auf zu stöhnen, es scheint, als ob er ihre Stimme gehört hat. Irma bedeckt liebevoll seine Schulter mit Küssen und umarmt ihn. „Chris, Liebster, es ist nichts. Schlaf’ wieder ein, ich bin hier.“ Und während sie ihm Worte des Trostes zuflüstert und ihn gleichzeitig küsst und streichelt, werden seine Atemzüge flacher, der Traum verliert die Macht über ihn, und er liegt ganz entspannt da.

Auch Irma schläft wieder ein, bis sie schließlich im grauen Licht des Dezembermorgens wach wird. Ihr ist kalt, das wundert sie. Und ihre Arme sind leer...

Wo ist Chris? Und wieso hat sie so ein komisches Gefühl? Sie springt aus dem Bett und schaut im Badezimmer nach, es sieht vollkommen unberührt aus, klar doch, sie war ja monatelang nicht mehr hier. Also ist er in der Küche. Aber da ist er auch nicht. Sie starrt ratlos vor sich hin, bis sie es schließlich kapiert. Es war alles nur geträumt. Wie gemein! Und wie echt es ihr vorgekommen ist.

Und dann auf einmal bricht das Elend über sie hinein. Sie krümmt sich, als wäre sie geschlagen worden, es tut so weh, so weh. Er will sie nicht mehr. Und er will ihr Kind nicht. Was soll sie nur tun. Es ist alles vorbei, aber das kann doch nicht sein. Warum, warum...

Schließlich fängt sie an zu schluchzen, diesmal kann sie die Tränen nicht unterdrücken, und sie ist froh darüber. Es ist wie ein Ventil, und sie lässt sich vollkommen gehen. Sie schreit und verwünscht ihn, brüllt, dass sie ihn hasst und dass er zum Teufel gehen soll. Wünscht ihm die Pest an den Hals und viel Vergnügen mit dieser Schlampe von Frau und ihrem Söhnchen. Werd’ doch glücklich mit ihr, ich hasse dich, ich hasse dich!

Irgendwann ist sie so erschöpft, dass sie kein Wort mehr herauskriegt, und die Tränen sind auch versiegt.

Bin wie ausgetrocknet, denkt sie ironisch. Sie schleppt sich ins Badezimmer, lässt minutenlang kaltes Wasser über ihr vom Weinen verschwollenes Gesicht laufen, und danach betrachtet sie sich forschend im Spiegel.

Wirklich toll siehst du aus, sagt sie zu ihrem Spiegelbild, das ihr blass, verhärmt und mit rot umränderten Augen entgegenstarrt. Wirklich toll siehst du aus! Und warum? Wegen einem, der dein Kind nicht haben will? Das ist doch die älteste Geschichte der Welt und ganz normal. Also stell’ dich nicht so an, lass ihn sausen und mach’ alleine weiter. Was anderes wird dir auch nicht übrig bleiben...

In diesem Augenblick klingelt es an der Tür, und Irma spürt, wie ein Hoffnungsschimmer sie durchzuckt, es ist wie eine elektrische Ladung, die ihr voll durch den Magen geht, eine Ladung, die einen aufputschenden Effekt hat.

Er ist gekommen und will sie holen!

Aber sie wird nicht sofort aufmachen, soll er ruhig noch ein wenig zappeln. Oh Gott, wie sieht sie nur aus, ihre roten Augen... Hastig schminkt sie mit dem Eyeliner eine graue Kontur auf ihre unteren Lider. So müsste es gehen, dann läuft sie zur Tür, atmet tief durch, um ruhig und gelassen zu erscheinen und öffnet die Tür.

Sie stöhnt unmerklich auf, es ist nicht Chris, sondern ihr bester Freund Ralf, und sie schaut ihn sichtlich enttäuscht an.

Etwas in ihrem Magen kitzelt unangenehm, vielleicht kommt ihr gerade die hoffnungsvolle elektrische Ladung hoch, die sie eben durchzuckt hat – das ist kein nettes Gefühl, und sie hält sich schnell die Hand vor den Mund, bevor sie ins Badezimmer läuft, um sich zu übergeben.

Sie sitzt vor dem Klo und stiert in die Schüssel. Widerlich ist das! Oh Gott, ausgerechnet jetzt muss sie kotzen. Ralf wird sofort merken, dass irgendwas nicht stimmt. Nicht stimmt? Ha, was für eine Untertreibung... Irma setzt sich auf den Badewannenrand und schaut benommen vor sich hin. Dann richtet sie sich auf, greift sich ihr Zahnputzzeug und putzt sich wie besessen die Zähne.

„Das ist ja eine tolle Begrüßung“, sagt Ralf, als sie wenig später im Wohnzimmer erscheint, er sieht ein wenig verunsichert aus.

„Es war nicht für dich gedacht.“ Hach, wie witzig sie doch sein kann. Irma muss lachen, aber ihr Lachen klingt leicht hysterisch. Immerhin hat sie ihren Humor nicht verloren. Nicht wegen dem! Nicht wegen einem, der sie nicht haben will!

„Ich war eben bei Chris.“

„Was?“ Oh nein, schon ist sie wieder verunsichert, und wo ist ihr Humor geblieben. Futsch ist er. Nur durch diese paar Worte: Ich war eben bei Chris.

„Er sah gar nicht gut aus.“

„Das geschieht ihm recht!“ Irma spuckt diese Worte förmlich aus und wendet sich zur Seite, um Ralf nicht anschauen zu müssen..

„Was ist denn los, Irma?“ Ralf tritt einen Schritt auf sie zu, Irma will zurückweichen, aber dann lässt sie es doch zu, dass er sie in den Arm nimmt.

„Ist es das, was ich denke?“

Irma wird steif in seinen Armen. „Was denkst du denn?“, fragt sie schließlich unsicher.

„Ich weiß, wie es schwangeren Frauen manchmal geht, ich habe schließlich eine jüngere Schwester, die auch mal...“

„Ach, halt die Klappe!“ Irma befreit sich unwirsch aus seinen Armen. Soll sie es ihm sagen? Warum eigentlich nicht. Sie will das Kind, sie hat sich entschieden, sie wird es kriegen – und alle werden es erfahren, also warum nicht gleich damit rausrücken...

„Okay, du hast recht!“ Ihre Stimme klingt wütend, und sie fährt verächtlich fort: „Er hat mich angepimpert, mir einen dicken Bauch gemacht, mir einen Braten in die Röhre geschoben. Er hat mich, verdammt noch mal geschwängert. So, jetzt weißt du es! Gibt es sonst noch ähnlich nette Namen dafür? Du musst es doch wissen, du bist doch auch ein Mann!“ Oh je, warum hackt sie auf Ralf herum, er hat ihr doch gar nichts getan.

Ralf schaut sie fassungslos an und überlegt sichtlich. Was wird er wohl von sich geben? Irgendeinen hirnrissigen, oberflächlichen und vor allem männlichen Mist?

„Irma“, sein Blick ist zärtlich, so scheint es ihr. „Du weißt doch, dass ich dich liebe.“

„Nein“, sagt Irma nach einer Weile fassungslos. „Das weiß ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen!“ Warum schreit sie das so heraus? Er hat ihr doch nichts getan.

„Schon gut, Irma. Schon gut.“ Ralf wendet sich ab. „Aber du solltest wissen, dass ich immer für dich da bin. Und wenn Chris das Kind nicht will, dann...“ Er spricht nicht weiter, aber Irma erkennt automatisch, was er meint.

Sie starrt ihn mit verletzten Augen an. Wenn Chris das Kind nicht will... Woher will er das wissen, aber er hat wohl Recht. Chris will das Kind nicht.

„Du spinnst ja“, bringt sie mühsam hervor, während sie wieder spürt, dass ihre Augen feucht werden.

„Überleg’ es dir. Du kannst dich auf mich verlassen.“

Irma starrt ihn immer noch an, sie weiß nicht, was sie sagen soll. Das sind ja ganz neue Aussichten, sie hat keine Ahnung, ob sie ihr gefallen. Und tief im Innersten hat sie das Gefühl, als wäre ihre Freundschaft mit Ralf vorbei, er hat sich zu weit vorgelehnt, hat zu sehr seine Gefühle gezeigt. Und sie kann nicht mit ihm... Nein, das geht nicht, Chris oder keiner, es gibt keine Ausweichmöglichkeiten, keine Freundschaft, die für Liebe ein Ersatz wäre. Aber wie wird Ralf das aufnehmen? So ein Mist!

„Ralf, du weißt doch, dass du mein bester Freund bist.“ Okay, das ist gut gesagt, aber wie weiter? Ralf blickt sie gespannt an, und sie fährt schnell fort: „Und ich will dich nicht verlieren, egal was auch passiert.“

„Du wirst mich nicht verlieren.“ Seine Stimme klingt fest und bestimmt. „Ich bin immer für dich da, wir könnten heiraten, und ich würde dich auf Händen tragen. Und das Kind wäre dann eben mein Kind, Irma. Denn ich würde es lieben, weil es deins ist.“

Schön, schön, wunderschön, leider vom falschen Mann gesagt. Irma steht wie verloren da, in ihre Gedanken versunken. Könnte sie mit Ralf zusammensein, falls es zum Äußersten käme, zur totalen Trennung von Chris? Sie kann es immer noch nicht glauben, es ist so falsch, so unwirklich, aber es ist wahr. Er will sie nicht. Ihre Mundwinkel fangen an zu zucken, und sie spürt am Rande ihres Bewusstseins, dass Ralf sie wieder in die Arme nimmt, und automatisch lehnt sie sich an ihn, er scheint im Moment das einzig Unveränderliche in ihrem Leben zu sein, und das ist gut.

Aber sein Körper fühlt sich fremd an, und sein Geruch auch. Nicht dass er unangenehm wäre, aber er weckt nichts in ihr. Könnte sie jemals mit ihm... ins Bett gehen? Seltsame Vorstellung. Er zieht sie körperlich überhaupt nicht an, Okay, im Moment ist die Vorstellung absurd, aber wahrscheinlich wird es auch in Zukunft nicht gehen. Sie ist nicht die richtige Frau für ihn, er hat eine Bessere verdient, eine, die ihn wirklich liebt und nicht eine, die sich nach einem anderen Kerl verzehrt. Vielleicht sollte sie mal gezielt nach einer Frau für ihn Ausschau halten. Ja wo denn? In der Entbindungsstation? Und schon ist sie wieder voll in ihrem Elend.

Irma stöhnt auf und löst sich sachte aus seiner Umarmung. „Ach Ralf, ich weiß nicht, ich bin so kaputt im Augenblick. Ich will erst mal abwarten. Und du solltest mich jetzt besser alleine lassen, ich bin eine Zumutung für jedermann...“ Schön gesagt, schön abgelenkt, du willst ihn doch nur loswerden, du wartest doch nur darauf, dass Chris dich anruft und dich um Verzeihung bittet. Aber das wird er wohl nicht tun. Oder doch? Vielleicht sollte sie noch mal bei ihm vorbeigehen und versuchen, mit ihm zu reden... Nein, nein, ihm nachlaufen? Niemals!

Ralf gibt sich mit dieser Aussage zufrieden, und nach einer kurzen Weile geht er tatsächlich, nicht ohne sie vorher zart auf die Wange geküsst zu haben.

Wie bescheiden er doch ist! Das ist nicht richtig. Liebe sollte verlangen können, Liebe sollte Bedingungen stellen, Liebe sollte erobern, und Liebe sollte sich nicht mit Brosamen zufrieden geben. Gut, Irma, dann beherzige das doch selber! Chris will dich nicht, und du wirst ihn nicht anbetteln.

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DIE RIVALIN

Wieder einmal saß sie in ihrem Auto. Es war schon dunkel, und die Dunkelheit gab ihr die gewünschte Anonymität. Gewissenhaft und unerbittlich beobachtete sie das Haus und seine Bewohner. Und keiner von ihnen ahnte, dass er beobachtet wurde, keiner wusste, dass sie da war. Warum auch, niemand rechnete mit ihr, sie war raus aus dem Spiel, das dachten gewisse Leute. Aber sie irrten sich, sie war nicht raus aus dem Spiel, es fing gerade erst an.

Mittlerweile war es ein Zwang für sie geworden, ein Zwang, der teilweise schöne, aber auch wütende Gefühle in ihr erweckte. Es geschah fast immer an den Wochenenden, da hatte sie am meisten Zeit und musste niemanden Rechenschaft darüber abgeben, was sie trieb. Sie saß in ihrem Auto und spähte verstohlen zum ersten Stock hinauf. Leider konnte man nie viel erkennen, aber manchmal sah sie jemanden am Fenster vorbeigehen, und manchmal erkannte sie Chris, und ihr Herz fing wie wild an zu schlagen.

Manchmal sah sie auch schemenhaft eine Frau. Das musste sie sein. Es tat weh, sie zu sehen. Was fand er an ihr? Sie war doch nur ein dummes Kind, weder schön, noch bedeutungsvoll. Was konnte sie ihm geben? Nichts! Es handelte sich nur um ein Strohfeuer, Chris liebte das Mädchen nicht wirklich, er war nur geblendet von irgend etwas, das sie an sich hatte. Vielleicht war dieses Kind ja gut im Bett, das musste es sein. Ihre eigenen Gefühle in dieser Sache waren eher unterkühlt, sie hielt andere Dinge für wichtiger, und auch Chris würde bald aus seiner Verblendung aufwachen.

Denn nur SIE war seine wahre Liebe, sie war ihm ähnlich, sie war gebildet, er konnte sich mit ihr sehen lassen, sie vermochte es, interessante Gespräche mit jedem seiner Bekannten zu führen. Und sie war schön! Das sagte jeder, der sie traf. Sogar er hatte es am Anfang gesagt, hinterher nicht mehr. Aber es wurde noch schlimmer, er verbrachte immer weniger Zeit mit ihr, bis er schließlich kaum noch kam. Auf ihr vorsichtiges Nachfragen sagte er einfach: „Du wusstest doch von Anfang an, dass ich nicht für eine Beziehung geschaffen bin, ich habe es dir gesagt. Trotzdem war es sehr schön mit Kai und dir.“

Stundenlang hatte sie düster über diese Worte nachgegrübelt. Es konnte doch nicht aus sein, was war passiert?

Erst später kam ihr zu Bewusstsein, dass er Kai an die erste Stelle gesetzt hatte. Mit Kai und dir... Hatte das eine Bedeutung? Sie schob den Gedanken entschlossen von sich weg, das war purer Zufall, sie und Kai gehörten zusammen, sie waren seine Familie, und er war die große Liebe ihres Lebens, neben ihm verblassten alle anderen Männer. Sie wollte ihn! Er sah blendend aus, war intelligent, kam aus guter Familie, sein Vater war Professor... Sie würden wieder zusammenkommen, keine Frage! Aber wieso hatte er sie überhaupt verlassen? Langsam erhärtete sich ein Verdacht in ihr.

Irenes Verhalten hatte sich ihr gegenüber schon seit längerer Zeit stark abgekühlt. Und es passierte lange bevor Chris gegangen war. Hatte Irene sie etwa bei Chris schlechtgemacht? Sicherlich, aber damit würde sie nicht durchkommen!

Denn sie und Chris trafen sich trotzdem noch – ab und zu fragte er sie um Rat, denn sie unterrichtete auch, allerdings an einer anderen Schule, und manchmal besuchten sie Sportveranstaltungen mit Kai, denn er liebte Kai wie einen Sohn.

Doch dann auf einmal änderte sich wieder alles. Er kam nur noch selten vorbei, und wenn, dann grübelte er vor sich hin und schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein.

Und später erfuhr sie von Irene, dass er eine Freundin hatte. Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Es konnte nicht sein, sie weigerte sich, das zu akzeptieren. Also fing sie an, sich selber ein Bild zu machen, fing an, das Mädchen zu beobachten. Es sah zwar hübsch aus, war aber bei weitem nicht so schön wie sie. Karen war stolz auf ihre regelmäßigen Gesichtszüge, ihr dichtes blondes Haar und auf ihren perfekten Körper, keine andere Frau konnte da mithalten.

Es war kalt im Auto, sie fröstelte und zog ihren Mantel enger um sich. Oben in der Wohnung tat sich anscheinend nichts, niemand war zu sehen, und sie wollte schon frustriert den Motor starten und nach Hause fahren, als just in diesem Augenblick das Licht im Hausflur anging. Sie duckte sich unauffällig in ihren Sitz, behielt aber die Haustür gut im Blick.

Die Tür wurde von innen aufgerissen, und Chris stürmte aus dem Haus. Sie konnte erkennen, dass er wütend aussah. Er blieb kurz stehen, schüttelte den Kopf, murmelte etwas in sich hinein – und dann ging er mit großen Schritten in Richtung Innenstadt. Karen schwankte. Sollte sie ihm folgen? Der Gedanke war verführerisch, aber sie gab ihm nicht nach. Sie sollte besser noch ein Weilchen ausharren, vielleicht passierte ja etwas Entscheidendes. Und wenn es in ihrem Sinne war, dann würde sie einen Plan schmieden, um Chris zurückzugewinnen. Sie hatte ja noch die Schlüssel zu seiner Wohnung. Nein, er hatte ihr niemals diese Schlüssel gegeben. Wozu auch? Er hielt sich fast immer in IHRER Wohnung auf, bei ihr und Kai. Aber trotzdem hatte sie damals schon Vorsorge getroffen, sie ließ nämlich eine Kopie seiner Schlüssel anfertigen. Das geschah natürlich heimlich, er schlief noch in ihrem Bett, während sie bereits unterwegs war...

Der Schlüssel, er war der Schlüssel zu ihm. Karens Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das im Dunkel der Nacht aussah wie eine verzerrte Fratze, jedenfalls hätte es ein Beobachter so gesehen, aber es war weit und breit kein Beobachter in Sicht.

Karens hämisches Lächeln vertiefte sich, als sie noch jemanden aus dem Haus kommen sah. Es war eine junge dunkelhaarige Frau, fast ein Kind noch, in der rechten Hand hielt sie ein Laptop, das konnte man deutlich im Licht der Straßenlaterne erkennen – und mit der linken Hand wischte sie sich über die Augen. Sie wirkte verzweifelt, das analysierte Karen schnell. Die junge Frau lief hastig in die Einfahrt neben dem Haus, stieg dort in das kleine Auto, setzte mit Vollgas zurück und fuhr dann mit hoher Geschwindigkeit davon.

Na also, endlich war es so weit! Jetzt brauchte sie nur noch ein paar Informationen...

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WENN ER NICHT GEWESEN WÄRE...

Irma war eine überaus gewissenhafte Person, und als solche fühlte sie sich verantwortlich für ihre Versprechen. Der Proff hatte ihr die Adresse der kleinen Autowerkstatt beschafft, wo sie ihren Karmann günstig reparieren lassen konnte. Der Proff mochte das Autochen sehr, er schaute immer so versonnen drein, wenn er es sah. Vielleicht dachte er dabei an seine verstorbene Frau, an Chris’ und Irenes Mutter. Er musste sie sehr geliebt haben. Jedenfalls hatte Irma ihm versprochen, er könne ab und zu mit dem Karmann eine Spritztour machen.

Das würde ja nun flachfallen, denn sie wohnte nicht mehr bei Chris. Irma kamen fast wieder die Tränen, er hatte sich nicht gemeldet. Okay, sie hatte alles getan, um unerreichbar zu sein, aber wenn er es wirklich gewollt hätte, dann... Mistkerl! Und den Karmann konnte sie jetzt auch nicht mehr brauchen, kein Kinderwagen würde jemals in ihn hineinpassen, Chris’ Auto wäre viel besser geeignet...

Irma fühlte, wie ihr wirklich die Tränen kamen, aber sie schluckte sie tapfer hinunter. Es ist vorbei, dachte sie bitter. Es war nicht zu reparieren, obwohl etwas Sentimentales in ihr – oder etwas Masochistisches – sich immer noch nach ihm verzehrte... Nein, aus und vorbei!

Der Proff schien nicht überrascht zu sein, sie hier zu sehen. Er hatte anscheinend keine Ahnung, dass sie und Chris nicht mehr zusammen waren. Nicht mehr zusammen waren... Es tat ihr weh, obwohl sie sich doch mittlerweile dran gewöhnt haben müsste. Die letzten drei Tage hatte sie mit Ach und Krach überstanden, immer wartend auf irgend etwas, trotz abgestellter Türklingel und trotz abgestelltem Telefon. Von wegen dran gewöhnt...

„Ich wollte eigentlich nicht mehr hier vorbeikommen“, begann sie vorsichtig. „Aber du hast mir die Adresse dieser Werkstatt verschafft, und ich stehe in deiner Schuld.“

„Aber Irma, warum wolltest du nicht mehr vorbeikommen? Was ist denn los?“ Der Proff schaute sie ratlos an.

„Kann es sein, dass Chris keine Kinder mag?“ Was redete sie da? Verdammte Hormone! Sie konnte sich ja selber nicht mehr trauen.

Der Proff sah sie erstaunt an. „Nein, das glaube ich nicht“, sagte er schließlich. „Er ist Lehrer geworden, wahrscheinlich deshalb, weil er Kinder mag. Obwohl ich es ja lieber gesehen, wenn er Arzt geworden wäre...“

„Ich hab' ja auch gedacht, dass er Kinder mag. Bis...“ Irma sprach nicht weiter.

„Bis was?“, fragte der Proff. Als Irma daraufhin eine Weile vor sich hinschwieg, wurde er ungeduldig. „Sag’ es mir Irma! Was ist denn los?“

„Er will es nicht!“ platzte es aus ihr heraus, und sie ärgerte sich noch im gleichen Augenblick darüber. Er würde denken, sie suche Hilfe bei ihm. Und diesen Eindruck wollte sie auf keinen Fall erwecken.

Der Proff sah sie zuerst verwirrt an, aber dann dämmerte Verständnis in seinem Blick auf. Er kapierte schnell, er hatte eben sehr viel Ähnlichkeit mit Chris. Chris, immer wieder Chris! Irma stöhnte leise auf

„Das glaube ich nicht!“ Der Proff sah empört aus.

„Ich glaube es ja auch nicht.“

Der Proff schüttelte den Kopf und wollte etwas sagen, aber Irma kam ihm zuvor: „Aber ich will auch nicht, dass er leidet. Zum Beispiel, diese Träume, die er hat...“

„Was denn für Träume?“

„Er träumt anscheinend immer den gleichen Traum, er fängt an zu stöhnen, er bekommt keine Luft mehr, und er sagt immer einen bestimmten Satz. Das macht mir echt Sorgen.“ Irma verbesserte sich schnell. „Sollte mir Sorgen gemacht haben...“ Und wieder spürte sie, wie ihr die Tränen kamen, es war aus, sie hatte ihn verloren. Er hatte Unmögliches von ihr verlangt und sie gehen lassen.

„Wenn es so ist, wie du sagst, wenn mein Sohn das Kind wirklich nicht will, dann solltest du dir um ihn keine Sorgen machen. Du bist viel zu gut für ihn!“

„Nein, das bin ich nicht!“ sagte Irma trotzig. „Er muss einen Grund dafür haben, er liebt Kinder, das sagt Irene doch auch. Und ich war mir so sicher...“ Sie riss sich zusammen und richtete sich stolz auf. Der Proff sollte kein Mitleid mit ihr haben.

Der Proff schaute sie trotzdem mitleidig an und zögerte ein wenig, bevor er weitersprach: „Weißt du, dass ich meine Frau über alles geliebt habe? Nein, das kannst du ja nicht wissen. Seltsamerweise erinnerst du mich ein wenig an sie. Se war genauso geradeheraus wie du, und sie hat genauso bedingungslos geliebt wie du.“ Bei diesen Worten sah er grimmig aus, und Irma wunderte sich darüber. Was war passiert? Hatte seine Frau ihn etwa betrogen? War er nicht derjenige, den sie so bedingungslos geliebt hatte?

„Wie ist sie eigentlich gestorben?“ Irma hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Sie wollte schon sagen, dass es ihr leid täte, dass sie nicht berechtigt wäre, ihn das zu fragen, aber sie tat es dann doch nicht.

Der Proff schaute durch sie hindurch, als ob sie gar nicht da wäre, doch kaum einen Atemzug später sagte er heftig: „Sie ist bei Christophers Geburt gestorben!“

Irma sah ihn erstaunt an. „Aber warum…“

„Wenn er nicht gewesen wäre…“ Der Proff wandte sich unwirsch von ihr ab.

Wenn er nicht gewesen wäre… Da war doch etwas, wieso sagte er ausgerechnet diese Worte? Sie kamen Irma so vertraut vor. Wenn er nicht gewesen wäre… Und dann auf einmal fiel es ihr ein. Der Traum von Chris, das war es! Wenn er nicht gewesen wäre, dann würde sie jetzt noch leben.

Mit offenem Mund starrte sie den Proff an, während sie krampfhaft überlegte, was das wohl zu bedeuten hatte.

„Weiß Chris es?“ fiel ihr schließlich ein.

Der Proff schien um Worte verlegen zu sein. Er fing an, nervös im Zimmer hin und herzulaufen.

„Weiß Chris es?“ fragte Irma noch einmal, und ihre Stimme klang unerbittlich.

„Nein, er weiß es nicht, und Irene weiß es auch nicht. Ich wollte die beiden nicht damit belasten…“

„Ja bist du denn wahnsinnig?“ Irma war es mittlerweile egal, ob sie sich dem Proff gegenüber respektlos verhielt, sie hegte nämlich einen bestimmten Verdacht.

„Bin ich denn wahnsinnig...“ stammelte der Proff unsicher, er schaute Irma ratlos an, und seine Hände bewegten sich fahrig.

„Du hast Irene und vor allem Chris im Unklaren darüber gelassen, wie ihre Mutter gestorben ist!“

„Nicht wirklich, ich habe gesagt, sie hätte einen Unfall gehabt.“

„Aber sie hat keinen Unfall gehabt!“ hakte Irma erbarmungslos nach.

„Nein, das hat sie nicht, aber es schien mir die beste Lösung zu sein“, sagte der Proff unsicher.

„Und was ist wirklich passiert?“

„Sie war schon sehr krank, als sie wieder schwanger wurde“, der Proff sprach monoton vor sich hin, als wäre er alleine. „Sie war es eigentlich schon, als sie Irene bekam, aber wir wussten es damals noch nicht. Sie litt an einer schweren Herzkrankheit, obwohl sie noch so jung war Und sie hatte großes Glück, dass sie die Geburt überlebte. Aber das zweite Kind hätte sie nie empfangen dürfen.“ Seine Stimme stockte, bevor er zögernd weiter sprach: „Aber sie war so stur, sie wollte es, sie bestand darauf, koste es was es wolle. Auch wenn es ihr Leben war. Ich habe sie angefleht, die Schwangerschaft unterbrechen zu lassen, aber sie wollte es nicht, ich habe sie angefleht, ihre Medikamente zu nehmen, aber sie wollte es nicht...“

„Sie wollte ihr Kind schützen“, sagte Irma tonlos.

„Ja, das wollte sie, verdammt noch mal! Sie hat es abgelehnt, die Blutgerinnungshemmer zu nehmen, obwohl ich sie auf den Knien darum angefleht habe.“ Der Proff biss sich auf die Lippen, und in diesem Augenblick sah er Chris noch ähnlicher als sonst. „Und dann ist es passiert, Komplikationen bei der Geburt, verblutet bei der Geburt... Sie hat Chris gar nicht gesehen, aber sie war glücklich in ihren letzten Augenblicken, sie wusste, dass sie es geschafft hatte.“

„Das ist...“ Irma konnte nichts sagen. Der arme Chris. Seine arme Mutter, sein armer Vater. Und wieder kam ihr der Satz in den Sinn. „Wenn er nicht gewesen wäre, dann würde sie noch leben...“, sie murmelte ihn vor sich hin.

Der Proff schien nachzugrübeln. Anscheinend weckte dieser Satz in ihm Erinnerungen auf. Sein Gesicht sah verwirrt aus, und nach einer endlos scheinenden Weile schaute er sie fassungslos an.

„Was ist denn?“ fragte Irma.

„Ich weiß nicht genau, aber ich kenne diesen Satz. Kann sein, dass ich ihn selber einmal gesagt habe...“ Der Proff stand auf und lief nervös im Zimmer herum.

Er erinnerte Irma so sehr an Chris, dass sie den Blick von ihm abwandte. „Und in was für einem Zusammenhang?“

„Ich hatte früher oft Besuch von einem guten Freund, und wir sprachen manchmal nachts über... diese Dinge.“

Irma stand auf einmal ein Bild vor Augen. Sie sah Chris, damals war er noch ein kleiner Junge, der zufällig seinen Vater belauschte, als der sich nachts mit einem Freund unterhielt. Und ein paar Tage später fingen seine Träume an, und er hatte Angst. Ja, vielleicht war es so gewesen. Ein kleiner Junge, der sich schuldig fühlt und der unbewusst spürt, dass sein Vater ihn nicht liebt.

„Verdammt noch mal, ich verlange von dir, dass du das in Ordnung bringst! Er bildet sich bestimmt ein, er wäre am Tod seiner Muter schuld, und genau den Eindruck hast du ihm ja vermittelt.“

„Das wollte ich nicht...“

„Doch, genau das wolltest du!“ Irma funkelte ihn wütend an. „Du hast ihm die Schuld daran gegeben, dass seine Mutter starb. Und er hat sich den Schuh angezogen. Zum einen, weil du ihm bestimmt immer das Gefühl gegeben hast, dass du ihn nicht magst, denn er hat ja schließlich seine Mutter und deine Frau umgebracht. Und wer weiß, was er sich alles darunter vorgestellt hat...“ Sie verstummte, während der Proff wie gelähmt dastand und sie mit offenem Mund anschaute.

„Oh mein Gott!“ sagte sie nach einer Weile leise. „Was hast du nur getan?“

Der Proff war anscheinend nicht in der Lage, zu sprechen.

„Ich will, dass du mit ihm redest! Du musst ihm sagen, dass er nicht schuld am Tod seiner Mutter war.“ Irmas Stimme klang aufgebracht. „Aber vor allem musst du ihm sagen, dass DU ihn lieb hast!“

Der Proff starrte sie an und sagte schließlich: „Du musst ihn sehr lieben, so wie du dich um ihn sorgst.“

„Das ist jetzt egal,“ brachte Irma mühsam hervor, denn die Tränen schossen ihr wieder in die Augen. „Jetzt geht es um dich und um Chris. Wenn du deine Frau wirklich so geliebt hast, wie du sagst, dann musst du auch ihren Sohn lieben!“

„Ach Irma…“ Der Proff trat auf sie zu und nahm sie in die Arme. „Es wird alles in Ordnung kommen, ich werde dafür sorgen. Es geht ja schließlich auch um meinen Enkel.“ Dieser Gedanke war ihm wohl gerade erst gekommen, und er setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Ich werde Großvater! Unglaublich! Und du wirst meine Tochter...“

„Ja sicher“, schniefte Irma. „Träum’ nur weiter.“

„Es wird alles in Ordnung kommen!“

„Aber sag’ ihm nicht, dass ich hier war. Er soll sich nicht verpflichtet fühlen.“ Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, er war fast genauso groß wie Chris, und für eine kurze Weile hielten sie sich fest, bis Irma sich von ihm löste und anfing zu lächeln. Meine Güte, wie oft war das Wort ‚Liebe’ in den letzten Minuten vorgekommen? War ja fast wie in einem Kitschroman...

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HOFFNUNG

Das Erwachen war immer wie ein Schock. Doch auch der Schlaf fühlte sich furchtbar an, nie konnte sie sich richtig fallen lassen und einfach aufhören zu denken. Auch im Schlaf wusste sie, was passiert war, konnte es nicht vergessen, es geisterte durch ihre unruhigen Träume, es trat in seltsamen Bildern auf, es erschreckte sie und ließ sie aufstöhnen. Und dann hatte sie immer furchtbare Angst vor der Endgültigkeit des Erwachens.

Eine ganze Woche ging das nun schon so. Aber es musste ein Ende haben! Sie sollte sich entweder damit abfinden und es hinnehmen, oder sie sollte sich noch einmal vergewissern, sich noch einmal demütigen vor ihm. Aber das war ihr mittlerweile egal. Es musste ein Ende haben. So oder so.

Sie hatte das Telefon wieder eingeschaltet, aber es tat sich nichts. Es blieb stumm, während sie es beobachtete. War es vielleicht kaputt? Sie nahm den Hörer auf, und das Freizeichen ertönte. Es war nicht kaputt, es rief nur keiner an, auch jetzt am späten Freitag Abend nicht. Sie sollte nicht mehr darauf warten.

Gerade als sie den Hörer auflegte, klingelte das Ding urplötzlich. Irma zuckte zusammen, und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrer Magengegend aus. Dann riss sie sich zusammen, sie ließ sich Zeit, wollte nichts überstürzen, wollte ihm zeigen, dass sie nicht darauf angewiesen war...

„Wie geht es dir?“ Irenes Stimme klang überhaupt nicht besorgt, nein, sie klang unverblümt direkt. Klasse! Hatte eigentlich niemand Mitleid mit ihr? Und warum konnte eigentlich nicht derjenige anrufen, dem sie ihren desolaten Zustand verdankte? Träum nur weiter, du... blöde Nuss!

„Beschissen!“ Natürlich zeigte sie Irene ihre Enttäuschung nicht, sondern antwortete genauso unverblümt.

„Ich verstehe dich so gut, mein Irmaschatz! Aber ich denke, jetzt wo alles heraus ist, wird sich auch alles ändern.“

„Toll! Wirklich toll!“, sagte Irma sarkastisch. „Und wieso höre ich dann nichts von ihm?

„Er ist total fertig, denn er weiß jetzt, dass er furchtbar daneben war. Aber er muss sich erst daran gewöhnen, er traut sich ja selber nichts mehr zu...“

„Von mir aus kann er sich noch zehn Jahre lang dran gewöhnen, ist mir egal...“ Irmas Stimme klang trotzig, aber Irene hörte wohl die Verzweiflung heraus.

„Er steht noch unter Schock“, meinte sie beschwichtigend. „Seltsam, Chris ist doch so ein starker Typ. Und trotzdem hat er sich von diesem Gespräch, das er zufällig belauscht hat, so beeinflussen lassen. Ich kann das immer noch nicht verstehen…“

„Das war es wohl nicht allein“, sagte Irma muffig. „Der Proff hat ihm doch deutlich gezeigt, dass er ihn nicht so liebt, wie man ein Kind lieben sollte.“ Mist, wieso verteidigte sie Chris überhaupt?

„Da hast du Recht! Und diese beiden Sachen, die angebliche Schuld am Tod seiner Mutter und die fehlende Liebe des Vaters – das sagt der Psychologe jedenfalls – diese beiden Sachen haben ihn extrem beeinflusst, bis sie sich schließlich vereinigt haben...“ Chris’ Schwester machte eine lange nachdenkliche Pause, während der Irma immer ungeduldiger wurde.

„Zu was denn?“ fragte sie schließlich ungehalten.

„Zu der Angst, ein eigenes Kind zu haben. Denn das Kind könnte die Mutter töten und würde mit einem lieblosen Vater leben müssen“, sagte Irene bedeutungsvoll.

„Freud lässt grüßen... Interessant!“ Irma versuchte, ihre Stimme sarkastisch klingen zu lassen, aber es gelang ihr nicht so richtig. Doch dann auf einmal kamen ihr Irenes Worte voll zu Bewusstsein, und sie stutzte ungläubig.

„Psychologe? Chris war bei einem Seelenklempner? Das glaube ich dir nicht! Er hasst doch diese Typen und hat sich immer über sie lustig gemacht.“

„Früher auf jeden Fall! Aber jetzt probiert er es tatsächlich aus. Der Proff hat ihm ganz schnell einen Termin besorgt, kein Wunder bei seinen Beziehungen...“ Irene schwieg wieder, und Irma wartete wortlos und vor allem gespannt auf ihre weiteren Ausführungen.

„Ich denke, Chris hat das Gefühl, er könne sich nicht aus eigener Kraft aus dem Sumpf seiner blöden Psychosen herausziehen“, sagte Irene schließlich.

„Wäre es nicht besser für ihn, mich einfach mal anzurufen?“, schlug Irma zähneknirschend vor.

„Liebes, er will nichts falsch machen, er hat Angst...“

„Aber wovor denn? Jetzt müsste er doch wissen, dass er sich alles nur eingebildet hat!“

„Das weiß er auch. Nur möchte er keinen Fehler machen, und vor allem möchte er nicht wieder rückfällig werden. Er hat zu mir gesagt, er könne es nicht ertragen, dir noch einmal weh zu tun.“

„Ha! Er tut mir die ganze Zeit schon weh! Also was soll das?“

„Hab’ ein bisschen Geduld, er wird sich schon melden, es kann nicht mehr lange dauern.“ Mit diesen Worten legte Irene auf

Oh Chris! Sie hätte geduldiger mit ihm sein müssen, ihn fragen müssen, immer wieder fragen müssen. Aber nein, sie ist davon gestolpert wie ein ängstliches Kaninchen. Sie hat anscheinend immer noch nicht geglaubt, dass er sie liebt. Aber das tut er, ganz sicher tut er das. Mein Gott, ist sie bescheuert, sie muss zu ihm, er soll nicht so leiden, denn sie ist stärker als er. Warum? Weil sie eine Frau ist natürlich. Und er soll sich ruhig an ihr auslassen, sie kann das ertragen, aber sie muss ihm sagen, dass sie ihn liebt, egal was kommt. Denn vielleicht wird er Zeit brauchen, viel Zeit. Aber die gibt sie ihm. Sie will ihn jetzt einfach nur sehen. Es ist doch schon über eine Woche her, seit...

Irma stand grübelnd in der Küche, das Telefon hielt sie noch in der Hand. Aber dann auf einmal hatte sie es ziemlich eilig, sie lief ins Badezimmer, schaute sich aufmerksam im Spiegel an, zupfte ihre Haare zurecht und biss sich auf die Lippen, damit sie nicht so blass aussahen. Wie in ‚Vom Winde verweht’, dachte sie belustigt. Da hatte Scarlett sich auch auf die Lippen gebissen, um ihnen Farbe zu geben, wollte mit diesem einfachen Mittel Rhett Butler betören. Kein schlechter Vergleich... Rhett Butler war ja auch ein Mann mit viel Erfahrung, aber Scarlett war seine große Liebe, obwohl sie ziemlich dämlich war. Aber ich bin nicht dämlich, Irma kicherte in sich hinein, während sie ihr Spiegelbild musterte. Wie gut, dass ich weiß, dass ich ihn liebe – und wie gut, dass ich weiß, dass er mich liebt.

Und wie gut, dass sie noch die Wohnungsschlüssel hatte...

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IRRTÜMER

Chris wacht auf, er hat unruhig geträumt, und sogar in seinem Halbschlummer hat er Angst davor gehabt, der verdammte Traum könne ihn wieder überwältigen. Eigentlich sollte er ihn ja los sein mitsamt diesem ganzen Mist von Schuldbewusstsein und Ängsten. Der Psychologe hat gute Arbeit geleistet. Natürlich traut er dem Psychologen immer noch nicht. Die Heilung muss aus einem selber kommen, das ist seine Meinung dazu, und mittlerweile glaubt er, dass er geheilt ist. Fast geheilt ist, aber er will kein Risiko eingehen.

Erstaunt stellt er fest, dass es nicht der Traum ist, der ihn geweckt hat, sondern er spürt etwas neben sich, eine sanfte Berührung und den Hauch einer zarten Haut.

Erschreckt richtet er sich auf. Kann es wahr sein? Ist sie gekommen? Er hat es hinausgeschoben, sie zu sehen und sie um Verzeihung zu bitten, er hat Angst gehabt, sie würde es nicht verstehen – denn er versteht es ja selber nicht. Aber Irma ist eine außergewöhnliche Frau, vielleicht verzeiht sie ihm ja doch, und alles wird gut.

Sie ist wirklich da, er hat sich so nach ihr gesehnt! Langsam dreht er sich zu ihr um. Im Zimmer ist es tiefdunkel, auch die einsame Laterne links vor dem Haus kann die Dunkelheit nicht sonderlich erhellen. Aber das ist egal, er weiß, wie sie ausseht, es ist tief in ihm drin, er könnte mit geschlossenen Augen ihr Aussehen nachzeichnen und davon erzählen, er weiß alles über ihre bezaubernden Grübchen und über ihren wunderschönen Mund, über die samtweiche Haut unterhalb ihrer Brüste und ihre schlanken Beine, die ihn so oft lustvoll gefangen hielten, und er hätte weinen können vor Freude, aber er verkneift sich die Tränen, obwohl die Versuchung groß ist.

Sie ist da, endlich ist sie da... Chris atmet tief aus.

Sie liegt mit dem Rücken zu ihm, und ihre nackte Haut fühlt sich ein wenig kühl an. Friert sie etwa? Alle seine Beschützerinstinkte werden wach, es sind Gefühle, die nur Irma in ihm erwecken kann, und er legt zaghaft einen Arm um sie, um sie zu wärmen.

Und sofort spürt er, dass sie sich ihm entgegenbiegt, ihr Rücken, ihr entzückender Hintern, alles drängt sich zärtlich an ihn, und das macht ihn fast wahnsinnig. Doch er beherrscht sich, obwohl alles in ihm nach ihr verlangt. Es ist schwer, sich zu beherrschen. Sein Körper reagiert so heftig, als wolle er sich sofort in sie verströmen, sich in ihr verlieren, aber nein nicht, nicht jetzt sofort... Er muss sich beherrschen, es ist wichtig, denn er fühlt instinktiv, dass es noch nicht die Zeit dafür ist. Langsam versenkt er sein Gesicht in ihrem Haar, berührt es dann mit den Lippen. Es fühlt sich etwas anders als sonst, oder bildet er sich das nur ein? Wahrscheinlich.

Sie fängt an zu stöhnen und murmelt mit leiser Stimme: „Ich liebe dich so sehr...“, während sie sich an sein Glied drängt. Er ächzt auf vor Begehren und zieht sie noch enger an sich heran, berührt ihre Brüste, reibt sich wollüstig hilflos an ihrem Körper…

Aber dann stutzt er etwas. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas ist anders als sonst. Der Geruch, er ist nicht richtig, die Haut ist auch nicht richtig, und vor allem die Stimme... Verdammt noch mal, er ist schon so nahe daran, über die Klippe zu springen, ist bereit, sich bedingungslos hinzugeben, sich in sie fallen zu lassen, aber etwas hält ihn davor zurück, obwohl er fast platzt vor Verlangen. Es ist bestimmt nur Einbildung, aber er muss Gewissheit haben.

Mit letzter Kraft schiebt er sie von sich weg. Sie knurrt leicht erbost, und er kommt sich sagenhaft blöd vor, weil er nicht über sie herfällt, nicht in sie eindringt, nicht ihren Bund erneuert. Aber es wäre zu einfach, es wäre nicht richtig.

Stattdessen langt er mit dem Arm über sie. Er knipst die kleine Lampe an, die neben dem Bett steht und wendet sich dann langsam Irma zu. Denn er muss sie unbedingt sehen, und er muss unbedingt mit ihr reden, muss ihr sagen, was er für sie und das Kind empfindet. Muss sie um Verzeihung bitten.

~~~~~~~~~~~

Irma zögert ein Weilchen, bevor sie zaghaft den Schlüssel in das Türschloss steckt.

Es ist seltsam, heimlich hier einzudringen. Quatsch, natürlich dringt sie nicht heimlich hier ein, denn sie ist hier zuhause.

Also tut sie es, aber vorsichtig und vor allem leise.

Es ist nicht ganz dunkel in der Wohnung. Aber das ist normal, manchmal, wenn er noch wach ist, brennt eine kleine Lampe im Schlafzimmer. Ob er schon im Bett liegt? Wenn ja, wird sie sich einfach zu ihm legen, ganz still... Ob er sich wohl freuen wird?

Sie hofft es, sie hofft es von ganzem Herzen. Es hängt soviel davon ab. Aber vor allem will sie, dass es ihm gut geht, egal wie er sich entscheiden wird. Oder schon entschieden hat… Und erst jetzt erkennt sie, wie sehr sie sich nach ihm gesehnt hat, aber es ist ja bald soweit...

Schlafwandlerisch durchquert sie den großen dunklen Wohnraum und findet den Weg in das Schlafzimmer, die Tür ist offen wie immer und sie sieht, dass dort eine Lampe brennt. Also ist er noch wach. Schade, es wäre ihr lieber gewesen, wenn er schon geschlafen hätte. Doch eigentlich es ist egal, sie wird einfach hineingehen.

Aber dann bleibt sie wie angewurzelt auf der Türschwelle stehen. Der Anblick ist entsetzlich, und sie weiß nicht, ob sie ihn verkraften kann.

Sie sieht Chris, er liegt im Bett und beugt sich gerade über eine Frau, über DIESE Frau, die mit dem Sohn, und er schaut sie an. Mit einem seltsamen Gesichtsausdruck schaut er sie an, und Irma glaubt zu erkennen, dass es sich um Begehren handelt. Die Frau ist schön und blond, man sieht ihren Körper, denn sie hat die Bettdecke beiseite gestreift. Und Chris beugt sich wohl über sie, um ihre Schönheit zu bewundern.

Das ist zuviel! Irmas Mund entweicht, ohne dass sie es steuern kann ein klagender Laut, und die beiden Akteure, klar sind es Akteure, passiv sind die bestimmt nicht gewesen, schauen sie überrascht an. In Chris’ Blick steht Entsetzen. Oder auch nicht. Wahrscheinlich ist es nur Ärger darüber, dass sie sich hierhin traut und ihn beim Liebesspiel stört. Aber in den Augen der Frau steht einwandfrei etwas Triumphierendes, sie lächelt hämisch, und Irma schaut sie mit verletzten Augen an, aber nur kurz. Dann verwandelt sich ihr Blick und sie schaut auf Chris, der gerade aus dem Bett springt – nach seiner Hose greift und versucht, sie hastig anzuziehen. Dabei lässt er ihren Blick nicht los. Er wagt es tatsächlich, ihr in die Augen zu schauen!

Tatsächlich ist es passiert: Das, wovor sie von Anfang an schon Angst hatte. Er mit einer anderen Frau. Wie es scheint, ist es wohl das normalste auf der Welt.

Sie muss ihn anstarren, es geht nicht anders, sie hasst ihn, sie hasst die Frau neben ihm, und sie denkt in diesem Augenblick: Wenn Blicke töten könnten, dann wäre er jetzt tot. Das gleiche scheint er auch zu fühlen, denn er beißt sich auf die Lippen und verheddert sich beim Anziehen der Hose.

„Ich wollte dir nur die Schlüssel geben“, sagt etwas in den Raum hinein. Es hört sich komisch an. Ist es ihre eigene Stimme? Anscheinend. Jetzt sich nur keine Blöße geben, ist doch alles im Normbereich, was hat sie sich nur vorgestellt, Chris ist Chris, Chris hat Frauen, und sie ist ein Nichts, aber das Nichts wird sich nichts anmerken lassen. Soll er doch mit anderen Frauen rummachen. Viel Vergnügen!

Irma geht gemessenen Schrittes aus dem Schlafzimmer, während alles in ihr tobt und ihre Nerven fast zerreißen.

Hinter ihr ertönt ein Geräusch. Es hört sich an, als hätte Chris einen Stuhl umgeworfen und würde ihr jetzt hastig folgen. Er ruft irgendetwas, aber sie will es nicht verstehen. Wozu auch? Was will er noch von ihr? Ist doch sowieso alles nur gelogen! Er soll sie in Ruhe lassen! Sie dreht sich nicht um, sondern geht automatisch schneller durch den Raum, aber der nimmt einfach kein Ende.

In einer plötzlichen Anwandlung von Wut wirft sie die Schlüssel an die Wand. Das Geräusch, das sie beim Herunterfallen auf den Parkettboden machen, hallt verstärkt in ihren Ohren. Hoffentlich haben sie einen dicken Kratzer gemacht. Wo ist das Ende des Raumes, es kommt ihr vor, als versuche sie, im Wasser eines Schwimmbeckens vorwärts zu kommen, es geht unendlich langsam voran. Die Zeit scheint still zu stehen, und sie denkt an ihre erste Begegnung mit Chris, damals in der kleinen Disco, an diese Vertrautheit, dieses nicht nur körperliche Gefühl... Hätte sie sich doch nie mit ihm eingelassen! Endlich erreicht sie die Wohnungstür und zieht sie laut und entschlossen hinter sich zu.

Die Zeit läuft wieder normal, und im Treppenhaus beschleunigt sie ihre Schritte und poltert die Treppe hinunter, als ob sie den Teufel im Nacken hätte. Klar, der ist ja auch hinter ihr her! Sie hört wie Chris ruft, er ruft irgendwas wie warte Irma es ist doch alles nicht wahr, aber das was sie da hört, ist bestimmt auch nicht wahr. Und wenn’s wahr ist, dann ist es gelogen. Sie hat genug.

Zitternd hantiert sie mit dem Autoschlüssel herum, bis sie ihn schließlich durch Zufall ins Schloss bekommt. Sie startet den Karman und setzt ohne zu schauen zurück auf die Straße, just in diesem Augenblick öffnet sich die Haustür, und Chris erscheint, er ist immer noch halbnackt, nur mit seiner Hose bekleidet, und sie hört seine Stimme... „Irma bitte bleib’ doch hier, es ist alles ein Missverstän...“

Der Rest des Satzes verweht irgendwo im Wind, oh Gott, vom Winde verweht, Scarlett und Rhett Butler, es gibt keine Parallelen, sie hat sich alles nur eingebildet, sie will ihn auch gar nicht hören, ist doch sowieso alles gelogen. Sie gibt schnell Gas, sie schaut nicht zurück, sie will irgendwohin, wo er sie nicht erreichen kann, denn es ist aus.

Es fängt an zu regnen, und sie schaltet die Scheibenwischer ein.

Es ist aus, surren sie monoton hin und her. Es ist aus...

Sie fährt, als wäre der Teufel hinter ihr her, sie fährt bei Tiefgelb über die Ampeln, dem Himmel sei Dank passiert nichts, sie will so schnell wie möglich nach Hause und sich in ihrem Bett verkriechen.

Aber als sie dort ankommt, geht es ihr kein bisschen besser, und sie erkennt schlagartig: Es ist nicht mehr ihr zuhause, sie fühlt sich nicht mehr wohl dort, zu viele Gespenster bevölkern die Wohnung. Elende Gespenster, die von Liebe sprachen und die sie dann verraten haben. Nein, sie muss weg von hier, aber wohin? Jessi weiß noch gar nichts, sie hat keine Ahnung von der Schwangerschaft und natürlich auch nicht von Chris’ Reaktion darauf. Anna und Markus kommen überhaupt nicht in Frage, die haben schon das Scheitern ihrer Beziehung mit Exfreund Oliver erlebt, und sie sind so ein glückliches Pärchen, sie würden ihr Problem gar nicht verstehen, sondern bestimmt drüber faseln, dass alles gut wird oder so... Und Ralf ist so lieb, er ist viel zu lieb. Er würde ihr wieder Mut machen wollen, würde von einer gemeinsamen Zukunft reden – und das, nein nicht das, es wäre im Moment unerträglich.

Also gibt es nur eines. Irma packt hastig ein paar Sachen zusammen und verlässt dann fluchtartig die Wohnung.

~~~~~~~~~~~

DAS MONSTER

Irma saß wie gelähmt im Wohnzimmer und starrte aus dem großen Fenster hinaus nach draußen. Dem Himmel sei Dank war ihr Vater nicht da, er machte gerade eine Kur, und sie musste ihm nicht erklären, warum sie hier war. Aber irgendwann später dann wohl doch... Was würde er dazu sagen?

Der Anblick der Landschaft war ihr vertraut, schließlich war sie hier aufgewachsen. Sie liebte das Haus und den riesigen Garten, doch sie empfand nicht mehr das gleiche wie früher, etwas war in ihr kaputtgegangen, nein Quatsch, so leicht war sie nicht kaputt zu kriegen, da mussten schon schlimmere Dinge passieren. Ein untreuer Mann hatte doch gar nichts zu bedeuten, die gab es doch wie Sand am Meer, und diesen einen, diesen besonderen würde sie so schnell wie möglich vergessen, der war es doch gar nicht wert, dass sie sich deswegen grämte. Dennoch, Mist, Mist, Mist, sie verbarg das Gesicht in ihren Händen.

„Was ist denn los, mein Schatz?“ Ihre Mutter war hereingekommen und umarmte sie.

„Ach nichts! Ich glaube, ich habe Kopfschmerzen...“ Irma nahm schnell die Hände von ihrem Gesicht und gab sich den Anschein, als wäre alles normal. Und wieso hing sie eigentlich hier herum? Es gab doch bestimmt irgendetwas zu tun, vielleicht im Garten? Es war noch nicht richtig kalt, jedenfalls fror es nicht. Klar doch, kurz vor Weihnachten fror es nie, und da schneite es auch nie.

Weihnachten... Als sie mit Chris hier war, da hatte sie darüber nachgedacht, wie sie wohl Weihnachten verbringen würden. Wieder stöhnte sie auf.

Martina schaute sie forschend an, sie verstand sehr wohl, was in Irma vorging, ließ es sich aber nicht anmerken. Denn Irma hätte sofort alles abgestritten, was irgendwelche miesen Gefühle betraf. Sie war ja so stark, das behauptete sie immer wieder, und sie würde damit fertig werden. Martina hatte natürlich vor, ihre Tochter zu unterstützen und ihr in jeder Weise zu helfen. Sie fühlte eine ziemliche Wut auf den Kerl, der Irma erst geschwängert, dann sitzen gelassen – und schließlich auch noch betrogen hatte. Seltsam, ihr Gefühl hatte sie getäuscht. Sie hatte ihn am Anfang sehr gemocht, diesen Mann, sie ahnte unter seinem arroganten Wesen die Tiefe seiner Gefühle, und diese Gefühle waren bedingungslos auf Irma gerichtet. Konnte sie sich so getäuscht haben? Sie schüttelte ratlos den Kopf. Was war wirklich wahr – und vor allem, was sollte sie tun, um Irma von ihrem Kummer abzulenken?

„Wie wäre es, wenn wir einen Kuchen backen?“ Ihre Mutter gab einfach nicht auf. Sie sah besorgt aus, klar doch, eine schwangere Tochter ohne Mann, das brachte viel Kummer, und dennoch unterstützte sie Irma, hatte ihr angeboten, wieder hier einzuziehen – wenigstens für ein Jahr – und das Kind gemeinsam groß zu ziehen. Ein schönes Angebot, sie sollte es annehmen. Das Kind war nun das Wichtigste in ihrem Leben, und es musste die besten Bedingungen haben. In der Großstadt wäre sie alleine, in ihrem Bekanntenkreis gab es kaum Babys, das war hier im Dorf anders.... Ja, sie dachte darüber nach, und der Gedanke gefiel ihr. Und vor allem wäre sie dann weit weit weg von Chris und könnte ihm nicht zufällig über den Weg laufen, wenn er mit dieser Frau unterwegs war und mit ihrem Sohn. Oh Gott, sie rannte weg! Wollte sich vor ihm verstecken. Soweit war es gekommen!

Chris! Es tat weh, es tat so weh... Doch sie wollte nicht mehr an ihn denken, sie musste sich ablenken, musste sich beschäftigen. „Nein, ich mag keinen Kuchen backen. Aber vielleicht ist ja was im Garten zu tun. Dieser eklige alte Efeu, der sieht ja grauenhaft aus! Vielleicht könnte ich ihn ein wenig ausmisten...“

Martina dachte nach, es war zwar eine ungewöhnliche Zeit, um im Garten zu arbeiten, aber die Idee gefiel ihr, und es würde Irma ablenken. „Hmmm“, sagte sie nachdenklich. „Du hast Recht! Dieser Efeu untergräbt den ganzen Garten, und er sieht einfach scheußlich aus, unten hat er nur noch dicke Wurzeln, und oben wächst nicht mehr viel. Na gut, wenn du willst...“

Aber Irma hörte sie gar nicht mehr, denn sie war schon aufgesprungen. Sie griff sich eine warme Jacke und eilte nach draußen. In der Garage fand sie eine große Auswahl an Werkzeugen. Sie schnappte sich eine dicke Astschere, eine kleinere Zweigschere, einen Spaten, eine Harke – und nach kurzer Überlegung sogar eine Axt. So, sie war gerüstet!

Sie beäugte den ekelhaften Efeu. Er wuchs auf einer erhöhten steinigen Stelle zwischen der Gartenlaube und einem verwilderten Beet. Er sah wirklich widerlich aus, er klammerte sich eng um ein junges Bäumchen und erwürgte es fast mit seinen dicken haarigen Trieben, aus denen nur noch schwächliche krumme Zweiglein wuchsen. Er sah aus wie ein Monster, das sich diese Ecke des Gartens unterworfen hatte, und Irma hasste das Monster.

Ich hasse dich, ich hasse ich, dachte sie. Du kannst mir nichts antun, ich werde schon fertig mit dir!

Mit aller Wut, die in ihr war, rückte sie dem Monster zu Leibe. Mit einer Zweigschere fuhr sie rücksichtslos in das Gestrüpp hinein und zwackte es entzwei, bis sie Blasen an den Handflächen hatte. Mit der Astschere zerkleinerte sie die dicken Triebe, mit einem Spaten lockerte sie die Wurzeln, die sich tief im Boden festgekrallten und sich hartnäckig dagegen wehrten, hinausgezogen zu werden. Mit der Axt hackte sie auf besonders widerspenstigen Wurzeln herum. Ihre Mutter hatte Recht, er untergrub den ganzen Garten und breitete sich unterirdisch aus. Aber mit ihr konnte er das nicht machen! Irma stieß mit dem Spaten auf ihn ein, brach ihn mit der Astschere in Stücke, sie rang mit ihm und zog auch dicke Triebe aus dem Erdreich, sie wütete förmlich im Efeu, und allmählich türmte sich hinter ihr ein ekelhaft aussehender Haufen aus monströsen Wurzeln und haarigen Stängeln auf.

Irma schaute befriedigt darauf herab. Ihre Handflächen waren zwar mit Blasen bedeckt, der Rücken brach ihr fast entzwei, und sie war ziemlich außer Atem, aber sie hatte es geschafft: Das Monster war besiegt. Jetzt musste das eklige Zeug nur noch in den Komposter geschafft werden.

Sie griff sich triumphierend ein Bündel voll Efeu und sprang von den Steinen in den Garten hinunter.

Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Erde immer noch schmierignass vom letzten Regenguss war. Irma rutschte mit dem rechten Fuß weg, der linke hing in der Luft, und sie stürzte.

Sie stürzte entsetzlich langsam, so kam es ihr jedenfalls vor, und sie schaffte es noch, sich irgendwie zur Seite zu drehen, weil sie nicht mit dem Steißbein aufkommen wollte. Sie streckte beide Arme aus, um den Sturz mit den Händen aufzufangen. Das klappte.

Aber nicht genug – sie knallte mit der linken Hüfte hart auf den Boden, und es tat so weh, dass sie keine Luft mehr bekam, so musste ein Fisch sich auf dem Trockenen fühlen, ging es ihr durch den Kopf, während sie mühevoll nach Luft schnappte, es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, sie hatte Angst zu ersticken - bis sie dann endlich wieder normal atmen konnte.

Dann lag sie da, geschockt und verwirrt, wie konnte das passieren. Sie ächzte auf und versuchte langsam, sich zu erheben. Sie spürte, dass auch ihre rechte Hand furchtbar weh tat, aber sie musste doch aufstehen. Sie nahm die Ellenbogen zu Hilfe und stützte sich auf sie, sie sah bestimmt aus wie ein Maikäfer, der versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

Als sie es gerade geschafft hatte, sich mit der unverletzten Hand aufzustützen, durchfuhr sie plötzlich ein ziehender Schmerz. Sie krümmte sich stöhnend zusammen und ließ sich vorsichtig wieder zurückfallen. Irgendetwas stimmte da nicht. Oh Gott, hoffentlich nicht das! Irma wollte nach ihrer Mutter rufen, aber ihre Stimme war ihr abhanden gekommen, sie bekam nur ein heiseres Krächzen heraus, das bestimmt niemand hören konnte.

Sie lag ganz still da, und nach einer scheinbar endlosen Weile verblasste der Schmerz etwas, aber sie hatte Angst, furchtbare Angst. Denn das Monster war immer noch da, sie hatte es gar nicht besiegt. Sie selber war das Monster.

Martina fand sie ein paar Minuten später, sie wusste gar nicht, warum sie nach ihrer Tochter schauen wollte, es war so ein unbestimmtes Gefühl, sie machte sich Sorgen um sie.

Irma lag bewegungslos auf dem Rücken und starrte nach oben. Ihr Gesicht sah verängstigt und schmerzverzogen aus, und Martina, die ihre Besorgnis nicht zeigen wollte und sich mühsam die Tränen verkniff, rief einen Krankenwagen an.

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Chris trat nervös von einem Bein aufs andere. Er hoffte, sie hier zu finden, es war die letzte Möglichkeit. Er hatte sie überall gesucht, zuerst in ihrer Wohnung, dann bei Jessi, bei Anna und Markus und zuallerletzt bei Ralf, wo er sie am ehesten vermutete – aber auch dort war sie nicht. Bis ihm schließlich einfiel, sie könnte bei ihren Eltern sein, wie hieß das Kaff noch? Er musste Ralf anrufen und ihn danach fragen, und der sagte es ihm schließlich widerwillig. Ralf hasste ihn vermutlich, und er verstand das gut. Er war hassenswert, er war verrückt, doch er liebte Irma, und er würde sie nicht so ohne weiteres gehen lassen. Er versuchte, bei Irmas Eltern anzurufen. Und als auch nach Stunden niemand ans Telefon gegangen war, entschloss er sich, einfach hinzufahren.

Endlich machte jemand auf, und Irmas Mutter starrte ihn an. Ihr Blick war abweisend und vorwurfsvoll, und sie bat ihn nicht ins Haus hinein. Aber er musste mit ihr reden, sie davon überzeugen, dass er nicht so schlimm war, wie sie vielleicht dachte.

„Ich liebe sie“, sagte er. „Und ich will das Kind, das weiß ich jetzt. Ich war vollkommen durcheinander, hatte die Wahnvorstellung, das Kind würde sie töten. Aber jetzt bin ich einigermaßen klar im Kopf, und ich hoffe, dass sie mir verzeiht.“

Martina fühlte sich gerührt. Sie hatte sich nicht in ihm getäuscht. Doch da war noch das andere...

„Und die andere Frau?“, fragte sie ihn unverblümt.

Chris lachte bitter auf. „Sie hat mich fast hereingelegt. Sie besaß einen Schlüssel zu meiner Wohnung, ich weiß immer noch nicht, wie sie an ihn gekommen ist. Es hört sich bestimmt blöd an, aber es ist wahr. Es ist nichts passiert, ich habe es im letzten Moment gemerkt.“ Er starrte vor sich hin. „Natürlich muss es so ausgesehen haben, als ob ich... Aber das kann sie doch nicht glauben!“

„Sie will dich nicht mehr sehen. Sie will hier bleiben, sie könnte dich in der Stadt treffen, davor hat sie Angst. Sie könnte dich mit dieser Frau treffen und mit ihrem Sohn.“ Martina wunderte sich nicht darüber, dass sie ihn einfach duzte.

„Das ist doch Quatsch! Ich habe ihr verboten, jemals wieder auf Sichtweite an mich heranzukommen. Und falls doch...“

Martina konnte in seinen Augen die versteckte Drohung erkennen, und sie fühlte sich erleichtert. Er war absolut in Irma verliebt, und sie glaubte das, was er sagte. Aber ob Irma ihm auch glauben würde? Sie hoffte es so sehr.

„Aber jetzt will ich wissen, wie es ihr geht? Es geht ihr doch gut. Und dem Kind geht es auch gut? Sag’ es mir bitte!“ Chris’ Stimme zitterte. „Und wo ist sie? Ich möchte sie sehen...“

Martina erzählte ihm, was passiert war und auch wo Irma sich gerade befand. „Sie ist ziemlich durcheinander. Sie macht sich selber Vorwürfe, und sie hasst den Gedanken an dich. Aber du musst es natürlich versuchen...“

„Wenn ich Glück habe, werden wir beide bald richtig miteinander verwandt sein“, er lächelte, doch sein Lächeln wirkte schmerzlich. „Aber ich muss schon verdammt viel Glück haben...“

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DAS WEITE FELD...

Innerhalb von zwei Tagen ist es kalt geworden, teilweise liegt sogar Schnee auf den Feldern, und Irma friert ein bisschen. Sie steht auf dem gleichen Acker, auf dem sie schon als Kind spazieren gegangen ist. Langsam dreht sie sich um. Irgendetwas in ihr hat gewusst, dass er kommen wird. Sie hat es gefürchtet aber auch herbeigesehnt.

Er kommt zögernd näher, und sie hält es fast nicht aus, ihn zu sehen, obwohl es doch aus ist, all ihre Ängste haben sich bestätigt, er ist untreu, genauso wie sie es von Anfang an befürchtet hat. Sie beißt sich auf die Lippen und sieht zu Boden.

„Irma“, sagt er leise und schaut sie verzweifelt an.

Sie tritt etwas zurück, sie hat Angst vor seiner Berührung. Sie stehen sich gegenüber, und da ist... sein Gesicht, und sie fühlt immer noch das Verlangen, es zu streicheln. Warum nur?

Langsam geht sie weiter, er soll nicht merken, dass ihr rechter Fuß verstaucht ist, auch so ein Ergebnis ihrer Blödheit...

„Hier bin ich als Kind immer hergegangen, es war schön, so einsam und so still...“ Eigentlich spricht sie es einfach nur vor sich hin, während sie Chris neben sich spürt.

„Und dann habe ich mir immer vorgestellt, mein Geliebter würde neben mir gehen“, sie lächelt, aber ihr Lächeln wirkt trostlos. „Der, den ich mal haben würde vielleicht…“

„Ach Irma…“ Chris sieht sie hilflos an.

„Was sind das für Vögel da hinten? Raben vielleicht?“ Irma deutet auf ein paar schwarze Flecken am trüben Horizont.

Chris muss seine Augen nicht besonders anstrengen. „Es sind wahrscheinlich Saatkrähen“, sagt er. „Normalerweise leben die jetzt in der Stadt, da ist es einfacher...“

„Stimmt, du bist ja Biologe und hast vom Leben unheimlich viel Ahnung.“ Irma schaut unbewegt auf das endlose Feld mit den schneebedeckten Ackerfurchen.

„Irma, bitte verzeih’ mir!“ Chris’ Gesicht sieht blass aus.

„Was denn? Es ist doch alles zu spät“, murmelt sie.

„Nichts ist zu spät!“

„Doch“, Irma schüttelt den Kopf. „Ich hätte es fast verloren.“

„Irma, Liebes!“ Chris macht einen Schritt auf sie zu, aber sie weicht vor ihm zurück.

„Das hätte dir doch gefallen, oder?“

„Nein, Liebes, das wollte ich zu keiner Zeit!“

„Aber du hast es gesagt!“, Irma beharrt auf ihrer Meinung.

„Ja verdammt! Es stimmt, ich habe es gesagt, aber nur weil ich Angst um dich hatte. Es kam spontan aus mir heraus, und jetzt weiß ich auch wieso. Aber das ist natürlich keine Entschuldigung.“

Irma blickt an ihm vorbei.

Und allmählich fängt er an, ihre Teilnahmslosigkeit zu fürchten. Es kann doch nicht aus sein, nein, das geht nicht. Er wird sie nicht loslassen, wird ihr beweisen, wie wichtig sie ihm ist. Und das Kind natürlich auch. Aber was kann er tun, um sie aus dieser Lethargie zu reißen?

„Ich habe dich nicht betrogen“, sagt er schließlich.

Sie zuckt zusammen, und einen Augenblick lang blitzt es in ihren Augen auf, dann hat sie sich wieder unter Kontrolle und geht schweigend weiter.

Chris atmet tief aus. Sie empfindet vielleicht noch etwas für ihn, sie ist eifersüchtig. Und was muss sie gelitten haben. Er stellt sich vor, wenn sie und Ralf... Er würde den Kerl umbringen – und Irma vermutlich verzeihen.

„Sie hat mich irgendwie reingelegt“, beginnt er zögernd zu erklären.

„Wen interessiert das schon...“, Irmas Stimme klingt eisig.

Doch Chris lässt sich nicht davon irritieren. „Sie hat sich zu mir gelegt, und ich habe tatsächlich gedacht, du wärst es. Dachte du wärst zurückgekommen. Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, dass ich mich zuerst habe täuschen lassen.“

„Ja sicher…“ Irma wirft ihm einen wütenden Blick zu.

„Aber dann war da ihr Geruch, er kam mir seltsam vor. Und ich fand es auch nicht richtig, dass wir sofort...“ Chris verstummt und schüttelt ratlos den Kopf, während Irma ihn ausdruckslos anstarrt.

„Ist doch egal“, sagt sie schließlich.

„Nein, das ist es nicht! Ich wollte mit dir reden! Ich habe das Licht angemacht, um dein Gesicht zu sehen. Bitte Irma, glaub’ mir!“

„Ich glaube meinen Augen, die lügen mich nicht an!“

„Hast du mir eigentlich jemals vertraut?“

Wieder blickt sie ihn aufgebracht an. „Vermutlich nicht“, gibt sie nach einer Weile zu. „Und ich hatte Recht damit.“

„Verdammt! Es hat sich nichts geändert. Du hast von Anfang an nur Schlechtes von mir geglaubt!“

„Und ich hatte Recht damit!“, wiederholt Irma trotzig, doch im Grunde ihres Herzens wünscht sie sich, er würde ihr widersprechen.

Aber er schweigt – wie sie vorhin geschwiegen hat. Irgendwie hat sie mehr erwartet, irgendwas mit einem Kniefall oder so. Und natürlich hätte sie ihn ausgelacht. Hau’ bloß ab und lass’ dich nie wieder hier blicken, hätte sie zu ihm gesagt, genau wie in der Nacht, als sie ihn kennen lernte... Oh nein, jetzt sind die Erinnerungen wieder da. Es fing so gut an – und endete im Chaos. Typisch!

„Dabei könnten wir es doch so gut haben, und wir haben doch den Garten, mit ein bisschen Mühe müsste man ihn doch hinkriegen können. Für unser Kind…“

Irma fühlt, wie sie rot wird. Für unser Kind... Das hört sich seltsam an und ungewohnt, aber hat sie sich das nicht immer gewünscht?

„Aber du musst mir schon vertrauen, mir glauben, dass da nichts war, sonst hat das alles keinen Sinn.“

„Ich weiß nicht“, sagt Irma zaghaft und unsicher. Was zum Teufel ist los mit ihr? Wird sie wieder schwach in seiner Gegenwart? Das will sie nicht. Noch mal enttäuscht werden, das könnte sie nicht ertragen. Sie muss an die letzten Tage denken, an ihren Groll, an ihre Verzweiflung.

„Ich habe jetzt auch einen Traum...“, sie beginnt zögernd zu sprechen, während sie nebeneinander den hart gefrorenen Feldweg entlanggehen und sich ihr Atem in kleinen Wölkchen entlädt. „Ich träume davon, wie er in den Kindergarten kommt. Er ist hübsch, aber nicht zu hübsch. Er benimmt sich schon wie ein richtiger kleiner Mann, und er hat viel Ähnlichkeit mit dir. Und dann fragt er mich, wer sein Papa ist.“ Irma bleibt stehen, sie hält sich die Hände vors Gesicht und stöhnt auf, während Chris sie bestürzt ansieht.

„Und ich kann ihm nichts sagen... Was soll ich ihm sagen. Dass sein Vater ihn nicht wollte? Dass ich ihn selber nicht wollte? Warum träume ich das? Das ist ja, als ob er tot wäre. Als hätte ich ihn getötet... Das habe ich zwar nicht, aber ich war so nahe daran. Oh Gott, ich hatte Angst, ein Kind zu kriegen, schon bevor du... Und ich hätte mir nichts draus machen sollen, dass du fremdgegangen bist, aber nein, ich war ja wie erschlagen davon. Ich hätte nicht im Garten arbeiten sollen. Ich hätte diesen Drecksefeu nicht anfassen sollen. Ich hätte mehr aufpassen müssen!“ Irma fängt an zu weinen, seltsam, endlich kann sie weinen, bisher waren ihre Augen wie ausgetrocknet, der Schmerz saß dahinter, die Tränen wollten nicht fließen, aber jetzt auf einmal kommen sie. Und es ist so erleichternd, als ob ein Splitter im Auge fortgespült wird. Sie hat das Kind nicht verloren, mittlerweile gibt es Medikamente und Methoden, um das zu verhindern, sie hat es nicht verloren, sie hat Glück gehabt.

Chris sieht sie erschüttert an, und dann auf einmal kann er nicht anders, er zieht sie an sich, es ist ihm egal ob sie es will oder nicht, denn er braucht sie jetzt. Und vielleicht braucht sie ihn auch.

„Ach Irma, und ich habe dich im Stich gelassen... Ich schwöre dir, das wird nie wieder passieren. Du darfst dir keine Vorwürfe machen, schieb’ die Schuld auf mich, aber bitte komm’ mit mir! Ich habe immer noch große Angst um dich, und von nun an werde auf dich aufpassen. Immer...“ Seine Stimme hört sich seltsam gebrochen an.

Irma blickt zu ihm hoch, und sie sieht, dass seine Augen feucht sind. Oh nein, das will sie nicht. Chris ist doch so stolz, er soll nicht vor ihr weinen. „Nicht, nicht, Chris!“ Sie streichelt hilflos seine Wange, und sie spürt, dass ihre Gefühle für ihn immer noch da sind. Sie waren wohl nie wirklich weg, nur verschüttet unter ihrer Verzweiflung, nur gedämpft durch ihre Wut wegen seiner Untreue. Sie fühlt seine vertraute Nähe, die so beruhigend aber auch so aufwühlend ist, und ihr kommt zu Bewusstsein, dass sie immer, wenn sie von Wut bewegt wurde, in Gefahr stand, furchtbare Fehler zu machen. Der Abend mit Felipe... Oder als sie fast zu ihrem Ex gegangen war... Die Nacht mit Harald, oh Gott... Aber ihr Körper – oder ein ungewisses Gefühl – hat sie immer davor bewahrt, und das war gut so. Wem soll sie also jetzt glauben, ihrer Wut oder ihrem Gefühl für ihn. Und wenn sie sich täuscht? Was ist, wenn alles wieder von vorne anfängt?

„Du wirst mich nicht los, Irma“, unterbricht Chris ihre Gedanken. „Ich werde so lange hier bleiben, bis du mit mir kommst. Bis du mir glaubst. Denn ich kann so nicht leben.“

Irma fühlt ihre Beine schwach werden. Da hat er sie wieder, er hat es geschafft, Liebe sollte verlangen können, Liebe sollte Bedingungen stellen, Liebe sollte erobern, und Liebe sollte sich nicht mit Brosamen zufrieden geben.

Aber so einfach kann er sie nicht kriegen, sie wird jetzt ihren letzten Rest Würde zusammenkratzen. „Pa!“, sagt sie verächtlich. „Wenn ich zurückkomme, dann nur, weil ich das beste für mein Kind will. Es soll einen Vater haben. Alles andere ist mir egal!“

„Sag’ nicht so etwas, Irma“. Chris schaut sie eindringlich an, und irgendwie duckt sie sich unter seinem Blick. „Ich möchte, dass es so wird wie früher. Und ich will, dass du mir vertraust!“

Er WILL, dass sie ihm vertraut? „Ich denke überhaupt nicht dran!“ Vor einer Stunde hat sie noch an ein Leben ohne ihn gedacht, und jetzt soll sie ihm schon wieder vertrauen? „Warum sollte ich dir vertrauen? Und außerdem ist das MEIN Kind! Wenn du eins haben willst, dann geh’ doch zu diesem Flittchen und adoptier’ den Sohn!“

„Erzähl’ doch nicht so einen Mist, Irma! Die Frau hat mir nie viel bedeutet, und jetzt verabscheue ich sie!“

„Ha, und was hast du mit ihr gemacht, als ich weg war?“

„Ich hab’ sie rausgeschmissen. Sie wird uns nie wieder belästigen.“ Chris lächelt grimmig. „Sie wird woanders hinziehen, und ihr Sohn wird dadurch näher bei seinem Vater sein.“

Irma starrt ihn zweifelnd an. Sagt er die Wahrheit, soll sie ihm glauben? Sie weiß es nicht.

„Seit ich dich kenne, Irma“, seine Stimme klingt überzeugend, „habe ich mit keiner anderen Frau geschlafen. Ich konnte es einfach nicht, und das war lange bevor ich wusste, dass ich dich liebe. Lange bevor ich dich auf der Party wiedergetroffen habe. Und dann soll ich ausgerechnet in dieser beschissenen Situation damit anfangen?“

„Keine Ahnung...“, stammelt Irma kleinlaut.

„Weißt du noch, wie es früher war?“ Chris lächelt. „Wir waren immer nur eine Nacht in der Woche zusammen, doch nicht wirklich. Und die restliche Zeit war für mich total vergeudet, denn ich hab’ immer an dich denken müssen...“

„Ich hab’ überhaupt nicht an dich gedacht!“ Das war nicht einmal gelogen, sie hatte nie bewusst an ihn gedacht, doch er war immer da gewesen in ihrem Kopf, in ihrem Körper, der Bastard – und hatte sie erfüllt mit Verlangen, Verzweiflung und Lust...

„Außerdem bist du ja auch nicht die reine Unschuld!“

 Was sagt er da? Das ist wirklich eine Unverschämtheit! Sie ist ihm schließlich immer treu gewesen, okay, hart an der Grenze...

„Na Ralf, dein guter Freund!“ Chris schaut sie ärgerlich an. „Der war doch bestimmt froh über die ganze Sache. Was hat er getan? Dich gebeten, ihn zu heiraten?“

Der kommt vielleicht auf Ideen! Obwohl es ja ein bisschen stimmt... „Jetzt lenkst du aber ab! Ralf hat mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun. Und außerdem kann man das gar nicht vergleichen!“

Chris schweigt, und seine Augen sehen ärgerlich aus, Irma kennt diesen Blick und tritt einen Schritt von ihm zurück.

„Nein, das kann man nicht“, sagt er schließlich wütend, „denn er kennt dich ja so gut, ihr habt ja soviel miteinander erlebt. Ich fühle mich immer wie ein Idiot, wenn du dich mit ihm unterhältst!“ Er schnaubt verächtlich vor sich hin, und Irma sieht ihn entgeistert an. Er ist auf Ralf eifersüchtig?

„Wenn du ihn willst, dann nimm ihn doch!“ Chris bleibt ruckartig stehen. „Er wird bestimmt ein besserer Ehemann sein als ich. Ich bin ja schlecht!“

„Du willst heiraten! Na dann herzlichen Glückwunsch! Betrügst du deine Zukünftige auch schon vor der Ehe?“ Es rutscht einfach so aus ihr heraus, und im gleichen Augenblick verwünscht sie ihre freche Zunge, könnte sich glatt ohrfeigen.

Chris blickt sie an, und in seinen Augen steht alles geschrieben, was er für sie empfindet, sie sieht die Liebe in seinen Augen, sieht die Sorge, sieht seine Eifersucht, sieht alles, was er empfindet, und es haut sie um. Kann es wahr sein? er sieht so verwundbar aus, aber dann plötzlich verändert sich sein Blick und wird ausdruckslos.

Er schüttelt den Kopf, wendet sich von ihr ab, sieht starr auf den Boden... „Du hast nichts kapiert“, sagt er schließlich. Er dreht sich langsam wie in Zeitlupe um und geht einfach weg, während Irma ihm ungläubig nachsieht.

Der ist ja toll, erst verspricht er ihr das Blaue vom Himmel, von wegen: Ich werde so lange hier bleiben, bis du mit mir kommst... Und dann überlässt er sie einfach ihrem besten Freund? Der ist ja nicht ganz dicht!

Aber dieser Blick, oh Gott, was hat sie getan... Warum konnte sie nicht einfach die Klappe halten? Was soll sie tun? Ihm wieder hinterherlaufen wie nach der Wette? Das könnte ihm so passen. Aber wenn er wirklich geht? Irma befindet sich in einem furchtbaren Zwiespalt, ist hin und hergerissen, während Chris sich immer weiter von ihr entfernt. „Bleib’ doch, Chris“, will ihre Stimme rufen, aber ihre Stimme gehorcht ihr nicht, es kommt nur ein Krächzen heraus.

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Martina war hinausgegangen, um nach den beiden zu schauen.

Sie standen sich gegenüber auf dem kahlen schneebedeckten Feld. Hoffentlich hatten sie sich versöhnt! Doch dann wandte Chris sich ab, er ließ Irma stehen und ging einfach weg.

Nein, nicht das! Martina zweifelte an ihrer Sehkraft. Das konnte nicht wahr sein! Warum ging Chris weg? Und warum stand Irma wie gelähmt da? „Tu doch was, halte ihn zurück!“

Irma erwachte aus ihrer Erstarrung, als ob sie Martinas Worte gehört hätte, sie machte ein paar zögernde Schritte, aber nach zwei Metern knickte sie ein. Es musste der verstauchte Fuß sein. Auch das noch! Martina fühlte sich versucht, selber auf das Feld zu laufen und die beiden zu zwingen, miteinander zu reden, diese verdammten Sturköpfe!

Aber es war nicht nötig, Chris blieb stehen, er schien zu spüren, dass etwas nicht in Ordnung war. Er drehte sich um, sah Irma auf dem Boden liegen und eilte zurück. Er beugte sich über sie, sie schlang die Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihn. Er hob sie vorsichtig hoch, sie standen engumschlungen da, schauten sich endlos an. Und dann küssten sie sich.

 Oh Gott! Endlich! Martina atmete erleichtert aus. Er liebte sie nicht nur, nein, er wusste auch, wie er sie behandeln musste. Und das war gut so, denn der Ernst der Liebe fing für beide gerade erst an.

 

ENDE

 

© Ingrid Grote 2009

DANKE SCHÖN FÜRS LESEN!

 

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