Holidays in Kampodia

 

Kapitel VIII – Teil 1 WAHRHEITEN

 

Andromeda klopfte heftig an die Tür des Verwalterhäuschens.

Es war am Tag nach dem Sommerball, und es war früh am Morgen.

Andromeda weinte, während sie immer noch fassungslos auf den Kater Alfonso blickte.

Alfonsos wunderbar getigerter Körper hing weich und schlaff von ihren Armen herab, die Leichenstarre war schon vorbei, und man konnte fast denken, er schliefe. Der kleine Kater hatte keine äußeren Verletzungen, aber sein Gesicht sah so entsetzlich tot aus...

Als Max nach kurzer Zeit die Tür öffnete und die weinende Andromeda mit dem toten Kater auf dem Arm sah, musste er schlucken. Er hatte den kleinen unverschämten Kerl gern gehabt. Er war zwar meistens im unpassenden Augenblick erschienen und hatte sich zwischen Max und Andromeda oder auf Max und Andromeda gesetzt – denn sie hatten doch alle den kleinen Alfonso lieb – aber Max mochte den Kater trotz seines einnehmenden Wesens.

„Ach Gott, Andy“, sagte er hilflos zu dem weinenden Mädchen.

„Warum Alfonso? Er hat doch niemanden was getan!“, Andromeda lehnte sich hilfesuchend an Max.

„Wo und wann hast du ihn gefunden?“

„Ich wollte gerade zum Bäcker“, schluchzte Andy, „und da lag er, kurz vor der Hauptstraße.“

„Er ist wahrscheinlich überfahren worden“, sagte Max, und das Bild eines roten Mercedes-Cabriolets schob sich vor seine Augen, er hatte Zirza mit ihrem Auto wegfahren sehen, ganz spät in der Nacht, fast schon im Morgengrauen. Es konnte natürlich auch jemand anders den Kater überfahren haben. Aber das glaubte Max nicht.

„Er hat nicht gelitten, nicht wahr Max?“

„Nein, das hat er bestimmt nicht. Er sieht so friedlich aus, er war bestimmt sofort tot.“ Max schob Andromeda mitsamt dem toten Kater sachte von sich. „Wir müssen ihn begraben.“

Er ging ins Haus und holte eine leere Weinkiste mit einem flachen Holzdeckel. Sie legten den Kater hinein, Andromeda jammerte, dass es viel zu hart für Alfonso wäre, und Max spendierte daraufhin ein Kissen, damit Alfonso es auch in der Ewigkeit weich hatte.

Andromeda ließ es sich nicht nehmen, den kleinen Katzensarg selber zu tragen. Max holte aus dem Stall einen Spaten, und dann gingen sie gemeinsam in den Gutspark, wo sich in einer versteckten Ecke diverse kleine Gräber von Tieren befanden. Jedes dieser Gräber trug entweder ein Holzkreuz oder war mit einem Stein bedeckt.

Sie begruben den armen Alfonso, der tot in seinem Sarg lag, und Andromeda kamen wieder die Tränen.

Sie stand weinend da und dachte an den Nachmittag, als sie mit dem kleinen Kater bei Daniel und Morgaine gewesen war. Daniel hatte eine CD aufgelegt, und sie hatten alle getanzt, Daniel mit Morgaine auf dem Arm, und Andy tanzte mit Alfonso, der versuchte, auf seinen Hinterbeinen zu balancieren, und das schaffte er überraschend gut. Jedenfalls sah er aus wie der gestiefelte Kater, nur ohne Stiefel. Und alle mussten über ihn lachen, vor allem Morgaine, die ‚Fonso‘ zärtlich liebte und manchmal mit ihm durch die Büsche des Gutshofes kroch und Katze war, wie sie es nannte. Dann hatte Andy versucht, ihn auf den Arm zu nehmen, aber das mochte er nicht, jedenfalls nicht lange, denn er war ein sehr ehrenwerter stolzer Kater, und sie ließ ihn eilig wieder hinunter, um ihn weiter auf seinen Hinterbeinen herumhopsen zu sehen. Er war ja so süß!

Und jetzt war er tot...

 

Max sah auf Andromeda hinunter, sie hatte aufgehört zu weinen und lag mit geschlossenen Augen bewegungslos auf seinem Sofa.

Er machte sich Sorgen um sie. Nicht weil Alfonso tot war – das würde sie überwinden – sondern weil er glaubte, dass Andy selber in Gefahr war.

Er riss sich schließlich von ihrem Anblick los und ging hinaus auf den Hof zu den Parkbuchten.

Er untersuchte Zirzas Wagen systematisch und entdeckte unterhalb des rechten Scheinwerfers eine Beule, die möglicherweise durch den Aufprall eines kleineren Tieres entstanden war. Als er genauer hinsah, konnte er einen Blutfleck und ein paar in sich gesprenkelte graue Haare erkennen.

Sie hatte ihn mit Sicherheit absichtlich überfahren.

Alfonso, der vorsichtige kleine Kater hatte die Hauptstraße immer gemieden. Andromeda hatte ihn kurz vor der Hauptstraße gefunden. Also hatte Zirza richtig Gas gegeben, um ihn zu erwischen, dieses kranke Weib!

Es war an der Zeit, etwas gegen sie zu tun. Max stand eine Weile regungslos vor Zirzas Auto, bis er dann langsam und in Gedanken versunken auf das Verwalterhäuschen zuging. Es war so schwer, das zu tun. Aber er war es Andromeda schuldig, und vermutlich war er es auch Rebekka, Daniel und Morgaine schuldig.

Andromeda lag immer noch auf seinem Sofa. Sie schien zu schlafen. Max streichelte ihr zärtlich übers Haar und breitete eine Decke über sie, denn es war merklich kühler geworden.

Dann holte er aus einem Fach seines Schreibtischs einen größeren Umschlag und einen Brief heraus, warf noch einmal einen Blick auf Andromeda, einen so liebevollen Blick, dass wenn Andromeda diesen Blick gesehen hätte, sie förmlich zerschmolzen wäre – und verließ nach kurzem Zögern das Häuschen.

 

Zirza fühlte sich mächtig und stark. Alles hatte exzellent geklappt. Am frühen Morgen hatte sie das Halsband vor ihrer Türe gefunden, die kleine Rebekka wollte es wohl nicht mehr haben...

Daniel und Rebekka würden sich nun wie Hund und Katz verhalten, oder besser gesagt wie Katz und Katz, und diese Abneigung würde lange vorhalten, zumindest bei Rebekka. Daniel hatte das GS17 ja nur eingeatmet, und das war bei weitem nicht so wirkungsvoll wie das Spritzen direkt in die Blutbahn...

Das GS17 besaß eine Halbwertszeit von etwa vier Jahren, erst danach würde es sich deutlich abschwächen. Unter gewissen Umständen konnte der Stoff allerdings vorher schon seine Wirkung verlieren, aber wer sollte schon drauf kommen – und außerdem war es gefährlich... Zirza kicherte vor sich hin.

Und sie war endlich diesen dämlichen Kater losgeworden. Dauernd lief ihr das blöde Vieh vor den Füßen herum, und sie fühlte sich tatsächlich von dem Tier ausspioniert. Aber heute Morgen, da hatte sie ihn endlich erwischt, kurz bevor sie ihren Siegesrausch bei einer rasanten Autofahrt austoben wollte. Es hatte geknallt, und der Kater war nur so durch die Luft ge...

„Du hast es getan, nicht wahr“, sagte eine dunkle männliche Stimme hinter ihr.

Zirza wandte sich langsam um und sah doch tatsächlich ihren Cousin Max an der Tür stehen.

„Oh, du?“ Ihre Stimme klang verächtlich. „Hallo Farmerboy, was führt dich zu mir? Sind dir etwa deine geliebten Misthaufen ausgegangen?“ Zirza musste wieder lachen, sie fühlte sich dermaßen großartig, dass sie ihre Witze natürlich auch großartig fand.

„Ich will eigentlich nur, dass du dir diese Unterlagen anschaust.“ Mit diesen Worten warf Max ihr den großen Briefumschlag zu, er wollte es nämlich vermeiden, näher an sie heranzugehen, und er hatte seine Gründe dafür.

Zirza fing den Umschlag geschickt auf.

„Na los, mach’ ihn schon auf. Es ist eine Überraschung.“

„Ich liebe Überraschungen nicht besonders“, sagte Zirza unwillig. Sie nestelte aber trotzdem an dem Umschlag herum, legt den Inhalt auf das Tischchen neben ihr, griff sich das erste Stück Papier, entfaltete es und überflog es flüchtig.

„Was zum Teufel...“ Ihre Stimme klang leicht verunsichert, aber man hörte es kaum heraus.

„Lies es durch. Am besten lies alles durch“, sagte Max und lächelte sarkastisch. Allerdings fühlte er sich bei weitem nicht so sicher, wie er vorgab zu sein.

„Du glaubst doch wohl nicht, dass diese alte Schachtel Mansell mir irgendwas in die Schuhe schieben kann. Dafür ist sie doch viel zu beknackt!“ Zirzas Stimme war etwas lauter geworden.

„Die alte Schachtel Mansell, wie du sie nennst, vielleicht nicht, aber vielleicht dein Exverlobter, den ich in Berlin besucht habe. Er hat mir ziemlich interessante Sachen über dich erzählt...“

„So ein Blödsinn!“ Sie fügte giftig hinzu: „Der Mann ist doch nur eifersüchtig auf Archie!“

„Wie auch immer. Tatsache ist, du hast Mansell ein gewisses Mittel gegeben. Sie hatte damals furchtbare Alpträume – sie träumte, dass ihre Schwägerin bei der Geburt von Andromeda sterben würde. Und das Mittel sollte die Geburt erleichtern.“

„Was willst du von mir?“ Zirzas leicht überkippende Stimme hörte sich nach gespielter Empörung an. „Ich habe ihr ein harmloses Mittelchen gegeben, und diese geistesgestörte Nuss hat mich falsch verstanden und ihrer geliebten Kassiopeia zuviel davon gegeben. Was kann ICH dafür?“

„Das stimmt so nicht ganz! Es war mit Sicherheit kein Mittelchen, und es war mit Sicherheit auch nicht harmlos.“ Max schaute sie eisig an. „Es war ein Stoff, der die Blutgerinnung stark herabsetzt. Und bei einer Geburt können dann sowohl die Mutter als auch das Kind an der kleinsten Wunde sterben.“

„Das ist doch absoluter Schwachsinn!“ In Zirzas Stimme schien ein wenig Angst aufzuglühen, aber dennoch hatte sie sich immer noch meisterhaft unter Kontrolle.

„Das zweite Dokument. Lies es!“

Zirza lachte grell auf und griff nach dem zweiten Dokument, aber im Gegensatz zum ersten las sie dieses peinlich genau durch.

„Du hast eine blühende Fantasie“, sagte sie unruhig, nachdem sie sich auch dieses Schriftstück zu Gemüte geführt hatte.

„Mag sein, Cousine, aber dein Exverlobter hat es mir schwarz auf weiß gegeben, dass er dir damals diese Stoffe zur Verfügung gestellt hat, ohne zu wissen, was du damit machen würdest. Du hast ihm natürlich irgendeinen Dreck erzählt...“

„Na und? Keiner würde so etwas glauben“, meinte Zirza nach außen hin vollkommen ruhig, aber in ihren Augen stand Panik.

„Wer weiß.... Das Unfassbare an der ganzen Sache ist, dass Tante Bernadette lange gedacht hat, sie selber wäre schuld am Tode ihrer Tochter und ihres Enkelkindes.“

„Das kannst du mir nicht in die Schuhe schieben! Es gibt keinerlei Beweise!“

Max lachte. „Du hast deinem Exverlobten erzählt, nichts würde so gut wirken wie richtiges Pilzgift. Er fühlte sich in seiner Ehre gekitzelt und hat tatsächlich etwas ‚Besseres’ hergestellt. Ein Gift, das sogar die Muttermilch vergiftet. Er wusste nicht, dass du versuchen würdest, Andromeda damit zu töten. Bei ihr hast du es nicht geschafft, bei dem anderen Kind schon...“ Max musste tief Luft holen, bevor er fortfuhr: „Bernadette brachte das Pilzgericht selber zu ihrer Tochter, das war der Gipfel deiner Infamie! Aber sie hatte dich kurz vorher in der Küche gesehen...“

Zirza schaute ihn mit ihren schwarzen Alienaugen ausdruckslos an. „Also was willst du von mir?“, sagte sie schließlich.

„Ich will, dass du weggehst von hier und niemals wiederkommst! Ich will, dass du die Scheidung von Archie einreichst! Er hat so etwas wie dich nicht verdient. Und lass’ am besten auch Morgaine in Ruhe. Und Rebekka und Daniel auch“, Max dachte dabei an die Entführung von Morgaine. Eventuell hatte Zirza etwas damit zu tun und wenn nicht, war es egal.

„Ach ja?“ Zirza ging auf seine letzten Worte nicht ein. „Und wieso sollte ich mich darauf einlassen?“

„Lies das nächste Dokument. Es ist eine Erklärung an Eides statt, unterschrieben von Tante Bernadette und deinem Exverlobten. Der Junge hat bestimmt ein schlechtes Gewissen, weil du mit seinen Sachen so böse Dinge angestellt hast... Ach ja, diese Erklärung an Eides statt liegt bei mehreren Anwälten in Brunswick und in Berlin.“

Zirza blickte ihn hasserfüllt an.

Max machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr: „Falls du auf die Idee kommen solltest, diese Anwälte zu eliminieren, gib es auf, es sind zu viele, also gib es auf und verschwinde endlich!“

Wieso hast du meine Mutter getötet?“

Max und Zirza wandten sich der Stimme zu, in der die Tränen über den getöteten Kater noch mitschwangen.

Zirza starrte eine Weile mit ihren schwarzen Augen in Andromedas Gesicht, bevor sie schließlich sagte: „Warum wohl? Kassiopeia hat die Götter beleidigt!“

„Wieso?“ Andys Stimme klang hart und unerbittlich. „Werde ein bisschen deutlicher!“

„Deine Mutter hat mir Archibald weggenommen. Er war fast schon dabei, mir einen Antrag zu machen. Aber nein, er musste sich ja in diese...“, Zirza spuckte die Worte förmlich aus, „ach so gute Frau verlieben. Und das habe ich ihr nicht verziehen.“

„Das ist krank“, Andromeda Stimme zitterte.

„Nein, mein Kind, krank ist das, was dein Perseus dir angetan hat!“ Nun klang Zirzas Stimme triumphierend. Sie hatte zwar verloren, aber die Rache war ihr sicher.

„Wieso Perseus? Was meinst du?“

„Nun, er war es doch, der dich entführt hat. Er war der Jäger, der Schneewittchen töten sollte. Und er war auch das Ungeheuer, das Andromeda umbringen sollte...“

„Nein“, sagte Andromeda leise.

„Oh doch. Frag’ ihn!“

„Nein“, sagte Andromeda angstvoll - und schien nicht fähig zu sein, dorthin zu blicken, wo Max stand.

„Warum, glaubst du, hat er dich gefunden? Warum wohl? Natürlich nur, weil er wusste, wo du warst. Ist doch sonnenklar! Ist es nicht herrlich, dass Max, dein Farmerboy und Geliebter, gleichzeitig Perseus und das Ungeheuer ist. Ich hätte das seinem eher schlichten und stereotypen Charakter gar nicht zugetraut...“

„Das ist nicht wahr“, sagte Andy mit tonloser Stimme. Sie wandte sich langsam Max zu und sah ihm in die Augen. In diese grauen Augen, die sie so liebte.

„Sag’ mir, dass es nicht wahr ist!“

Max’ Gesicht war bleich geworden, er bekam kein Wort heraus, schüttelte hilflos den Kopf – und taumelte aus dem Zimmer.

Andromeda schaute ihm fassungslos hinterher. Dann krümmte sie sich wie unter einem heftigen Schlag. Ihr ganzes Leben war in diesem kurzen Augenblick in Stücke zertrümmert worden.

Nichts war wahr, was sie für wahr gehalten hatte. Max war ihr Retter und ihr Verderber zugleich. Max hatte ein Kind im Wald ausgesetzt und es fast sterben lassen. Und sie war das Kind gewesen.

Aber es konnte nicht wahr sein. Der Max, den sie kannte, hätte das niemals getan.

Und dennoch... Warum war er aus dem Zimmer geflohen? Warum hatte er es nicht abgestritten? Warum, warum, warum...

Was hatte er mit Zirza zu tun. Warum wusste Zirza es?

Es war alles so ekelhaft. So fürchterlich. Sie wollte nicht daran denken, weil sie nicht glauben wollte. Sie wollte nicht daran denken, weil es so wehtat.

Sie sank in sich zusammen, und ihr Körper schaltete sich wie von alleine aus, er schaltete für fast zwei Tage ihr Denken aus, um sie vor der brutalen Wahrheit zu schützen, und während dieser Zeit lag sie von Fieberkrämpfen geschüttelt in ihrem Bett.

Keiner konnte sie in diesem Zustand erreichen.

 

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Kapitel VIII – Teil 2 MAX

 

Sein Körper fühlte sich vollkommen empfindungslos an, so musste es sein, wenn man tot war. Und er war tot.

Er hatte diesen Tag erwartet, seit langer Zeit.

Er hatte ihn immer wieder aufgeschoben, verdrängt, gefürchtet. Denn bis vor ein paar Tagen hatte er zwar geahnt, aber nicht richtig gewusst, was damals mit ihm passiert war.

Der Besuch bei Zirzas Exverlobten brachte etwas Licht in die Sache. Er hatte dort keine Entschuldigung für sich gesucht. Er wollte es nur verstehen. Jetzt konnte er es zwar verstehen, aber dadurch änderte sich nichts. Normalerweise wäre Andromeda durch ihn gestorben, nur ihre unglaubliche Zähigkeit hatte sie die ‚Entführung’ überleben lassen. Wenn er sie nur ein paar Minuten später gefunden hätte, dann wäre sie trotz dieser Zähigkeit gestorben. Er hatte Glück gehabt, sie hatte auch Glück gehabt. Es war nicht sein Verdienst, dass sie am Leben blieb, sondern es war purer Zufall.

Warum hatte er keinem etwas gesagt und sie alleine gesucht? Die Frage quälte ihn immer noch. Es war unverantwortlich gewesen. Warum nur hatte er nichts gesagt? Aus Angst vielleicht, oder aus Scham? Er wusste es nicht. Es schien eine große geistige Entfernung zwischen dem Jungen Max und dem Mann Max zu liegen. Dem Mann Max war alles unverständlich, was der Junge Max damals gedacht und getan hatte. Hatte der Junge überhaupt gedacht? Wohl kaum.

Allmählich ließ seine Empfindungslosigkeit nach. Sie machte einem dumpf pochenden Schmerz Platz. Es war Schmerz gepaart mit einer tiefen Traurigkeit. Aber trotz seiner Traurigkeit war Max froh, dass er die Medusa am Ende doch besiegt und vertrieben hatte. Sie würde Kampodia verlassen und sich nie wieder dort blicken lassen.

Alles war vorbei. Nein, nicht alles. Der Schmerz würde Max von nun an treu begleiten und ihn nie mehr verlassen.

Doch vorher musste er noch etwas erledigen...

 

Max suchte Archie und fand ihn schließlich in den Ställen.

Er überreichte seinem Arbeitgeber und Gönner den Brief, das letzte Dokument, das noch übrig war und wartete – nach außen hin ruhig, im Innersten aber aufgewühlt – bis Archie es gelesen hatte.

„Du kannst mich und sie auch anzeigen, wenn du möchtest“, sagte er zu dem fassungslosen Archie. „Es ist mir egal. Die Tanten möchten aber nicht, dass etwas von dieser widerlichen Sache nach außen dringt. Bei Zirza bin ich mir nicht sicher, ob die Beweislage ausreicht, um sie zu verurteilen. Aber Kassiopeia war deine Frau, Andromeda ist deine Tochter, und du musst wissen, was du tust...“

„Verdammt noch mal, Max, du musst nicht von hier fort“, erwiderte Archie nach einer Weile, in der er schwer nachgegrübelt hatte. Der Junge tat ihm leid. Und alles war doch gut ausgegangen.

„Ich muss gehen“, Max senkte den Kopf. „Du hast ihren Blick nicht gesehen. Sie wird es mir nie verzeihen.“

„Ach was! Meine Tochter wird sich schon wieder einkriegen“, sagte Archie aufmunternd und hoffnungsvoll, denn er verlor gerade seinen Ziehsohn, seinen Wunschschwiegersohn und den besten Verwalter, den er je gehabt hatte.

„Nein, das kann sie nicht. Sie ist so gut, und ich bin so...“ Max drehte Archie den Rücken zu, weil er nicht wollte, dass sein Gönner und Ziehvater sah, wie ihm die Augen feucht wurden.

„Was sind das für Namen auf dieser Liste?“ Archie wechselte das Thema, um Max die Möglichkeit zu geben, sich wieder zu fangen.

„Es ist eine Liste von Kandidaten, die vielleicht in Frage kommen, das Gut weiterzuführen. Sie sind im Augenblick alle frei.“

Max sagte nicht, dass auf der Liste auch eine ehemalige Freundin von ihm stand, mit der er immerhin drei Monate zusammen gewesen war, aber natürlich war nichts draus geworden. Er wusste, dass Andy sich dadurch gedemütigt fühlen würde, aber dann konnte sie ihn vielleicht hassen. Und Hass war bestimmt leichter zu ertragen als die fehlgeleitete Liebe zu einem Unwürdigen...

„Du hast alles schon lange geplant“, sagte Archie endlich zu ihm.

„Es hing wie dieses Schwert des Damokles über mir. All die Jahre. Ich hoffe, du verzeihst mir irgendwann.“

„Ich habe dir eigentlich schon verziehen. Das warst nicht du, Max“, Archie wollte versuchen, Max zu halten. Aber er fühlte, dass es zwecklos war.

Und sein Gefühl täuschte ihn nicht, Max war gerade dabei, alle Brücken in Kampodia abzubrechen.

 

>>> Max, keine fünfzehn Jahre alt und schwer mit den Hormonen der Pubertät voll gepumpt. Seine erste sexuelle Erfahrung macht er auf dem Heuboden über den Ställen – bevor ein Reiterstübchen daraus wird...

Max, der diesen Akt so enttäuschend findet, als ob er sein Ding in ein Waschbecken mit lauwarmem Wasser gehalten hat...

Max, der anfängt, nach etwas zu suchen, das besser ist als der lauwarme Akt auf dem Heuboden über den Stallungen...

Max’ ältere Cousine Zirza – frisch mit dem Witwer Archibald von Kampe verheiratet – wird auf das Hormonbündel aufmerksam und beschließt, es für ihre eigenen bösartigen Zwecke zu benutzen. Die Mittel dazu hat sie: Gewisse Chemikalien, die ihr Exverlobter ihr verschafft, obwohl sie ihn wegen Archie fallen ließ. Und dass sie das Leben des Jungen zerstört, ist ihr sowieso egal...

Sie will das Kind der Kassiopeia loswerden. Andromeda wird Archies Vermögen erben, und ihr eigenes Kind wird mit ihr teilen müssen. Also weg mit dem lästigen Balg! Aber wie? Sie kommt auf eine geniale Idee...

Warum soll sie nicht ihren beknackten halbwüchsigen Cousin durch Pheromone bezirzen, ihn sich gefügig zu machen, ihm dann ein paar Mittelchen einflößen – natürlich in Kombination mit einer kleinen Gehirnwäsche – und ihm schließlich den Rest geben mit der Substanz ‚Lysergsäuredimethylamid’. Im Volksmund wird es als LSD bezeichnet, ist ein bisschen aus der Mode gekommen, verdrängt durch fesche Designerdrogen, aber es wirkt immer noch sehr gut und effektiv, vor allem in bestimmten psychischen Bereichen...

Zirza tut es. Zirza hat keine Skrupel.

Max, der nach etwas sucht und es schließlich in Zirza findet, die er für die schönste Frau der Welt hält...

Erst ein paar Pheromone, die sie unwiderstehlich begehrenswert machen, ein paar Halluzigene aus dem Privatlabor ihres Exverlobten, ein paar suggestive Gehirnwäschen mit massiven Andeutungen über den Feind, der die Menschheit vernichten wird... Über das absolut böse Wesen, das unerkannt im Herrenhaus lebt und das unbedingt getötet werden muss...

 

Laute Musik ertönt von unten aus dem Park. Zirza gibt an diesem Abend ein rauschendes Fest, sie mag Feste, sie mag es, die Hausherrin zu sein, und es ist außerdem ein gutes Alibi, falls jemand auf die Idee kommen sollte, sie mit der Entführung ihrer Stieftochter in Verbindung zu bringen. Alle sind mit Tanzen und Essen und Feiern beschäftigt, und niemand wird sich um einen Schatten kümmern...

Max steht im Schutze der Dunkelheit auf der Galerie. Er muss nach unten auf die Backsteinmauer, er hat keine Angst abzustürzen, so vollgepumpt ist er mit Drogen, Giften und Halluzigenen.

Nein, er ist nur davon besessen, dieses Wesen zu töten. Um die Menschheit zu retten. Und um sich selber zu retten, wie es ihm eine innere Stimme befiehlt.

Mit einem Arm hält er das widerliche Ding weit weg von sich, denn es versucht, sich mit hässlichen Greifzangen an ihn zu klammern. Mit dem anderen Arm hält er sich am Regenrohr fest und rutscht an ihm hinab, während er angeekelt nach Luft ringt, denn das Ding verströmt einen teuflischen Gestank. Mühelos gelangt er auf die Mauer, die den Park des Herrenhauses umschließt, er springt auf der anderen Seite hinunter, läuft ungesehen an der Kirche vorbei und verschwindet schließlich in Richtung Wald.

 

Das Ding ist wirklich entsetzlich. Es hat schleimige Tentakel, die mit Widerhaken besetzt sind, und es versucht Max mit diesen Tentakeln zu umfangen und zu ersticken. Es hat keinen richtigen Mund, sondern nur eine runde rote Öffnung. Diese grässliche Öffnung sondert Geifer ab, und Max hält das Wesen so weit wie es geht von seinem Körper entfernt. Dieses widerliche monströse Ding!

Er muss es töten. Die Stimme in seinem Kopf sagt: TÖTE ES!

Er rennt ziellos durch den Wald – immer noch mit diesem Bündel auf dem Arm, vor dem er sich ekelt und das er töten muss – bis er er eine geeignete Stelle findet, um es hinzurichten.

Er legt das Entsetzen einflößende, widerwärtige Bündel Unrat auf den Waldboden und holt das Messer aus seinem Gürtel.

Die Schneide des Messers leuchtet im Mondlicht auf. Max will schon zustechen, um das Leben dieses Wesens beenden, aber in diesem Augenblick gibt das Ding ein Geräusch von sich.

Es klingt irgendwie verzweifelt.

Es klingt irgendwie hilfeheischend.

Max ist mit einem Mal verunsichert. Eigentlich hat das Ding ihm nichts getan. Und bei näherer Betrachtung sieht es gar nicht mehr so böse und schreckeinflößend aus.

Na gut, diese Tentakel sind widerwärtig, aber es gibt auch viele Tiere, die dem Menschen widerwärtig vorkommen, es aber objektiv gar nicht sind. Und die Halskrause, die sich ab und zu aufbläht, sieht auch nicht schlimmer aus als die Halskrause einer Echse von den Galapagos-Inseln.

Max hält inne. Das Ding hat grüne Augen, schleimige Augen, die böse funkeln, aber Max kann es nicht tun. Er kann es nicht töten.

Stattdessen schleudert er es weg von sich und stolpert davon.

Sollen die wilden Tiere es doch töten!

Er findet schließlich den Weg nach Hause, wo er achtzehn Stunden lang wie bewusstlos im Bett liegt. Als würde er einen gewaltigen Rausch ausschlafen, und etwas Ähnliches ist es ja auch.

Als er erwacht, ist sein erster Gedanke: Grüne Augen... Durch Max’ kräftige Konstitution sind die Gifte und Rauschmittel, die Zirza ihm verpasst hat, schon zum größten Teil wirkungslos geworden. Max glaubt, einen richtig schlimmen Alptraum gehabt zu haben. Aber die Erinnerung daran hat einem seltsam beängstigenden Beigeschmack, weil dieser Alptraum so echt gewirkt hat.

Grüne Augen...

Verdammt! Da stimmt doch etwas nicht. Aber was? Er hat nicht den blassesten Schimmer.

 

Im Laufe des späten Nachmittags, während Max sich wie meistens in den Ställen des Gutshofes herumtreibt, erfährt er, dass die kleine Andromeda entführt worden ist. Das vermutet man jedenfalls. Aber das geht ihn nichts an. Davon weiß er nichts. Wieder muss er an grüne Augen denken.

Sein Gehirn arbeitet aber immer noch nicht richtig, und er sieht alles wie durch eine dünne Nebelschicht hindurch.

Mehrere Stunden später, als er plötzlich schweißgebadet aufwacht, trifft es ihn dann wie ein Dolchstoß. Grüne Augen! Hat das Baby Andromeda nicht grüne Augen gehabt? Kann da ein Zusammenhang bestehen? Nein, nein... Um Himmels Willen nein!

Am Morgen schließlich, nach einer entsetzlichen durchwachten Nacht, kommt Max zu der Erkenntnis: Das Ding, das er fast getötet und im Wald ausgesetzt hat – wie der Jäger im Märchen – dieses in seiner Erinnerung ekelhafte Ding kann vielleicht die kleine Andy gewesen sein. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Oder doch? Dann war dieser schlimme Alptraum vielleicht gar kein Traum, sondern Wirklichkeit? Nein, ganz bestimmt nicht, denn das wäre ja…

Aber diese grünen Augen...

Max macht sich nach dem Aufstehen auf die Suche nach dem Ding, das vielleicht Andromeda gewesen ist. Er tut es, obwohl er sich nicht sicher ist, es ist nur eine Vermutung, und er hat mittlerweile nur noch eine schemenhafte Erinnerung an den Traum.

Blöderweise hat er nicht die geringste Ahnung, wo er mit dem Ding oder mit der kleinen Andromeda gewesen ist. Es gibt so viele Plätze, und er muss jeden einzeln absuchen. Der Wald ist riesengroß...

 

Max, mittlerweile von Panik befallen, weil das Baby Andromeda immer noch nicht aufgetaucht ist, gönnt sich kaum eine Minute Ruhe bei der Suche, die er teilweise systematisch und teilweise chaotisch ungezielt betreibt. Aber er muss in der Dunkelheit zwangsläufig Pause machen. Es ist Ende September, also Tag- und Nachtgleiche, und er hat immer nur circa zwölf Stunden Zeit, um nach Andromeda zu suchen.

Am Ende des dritten Tages, als die Abenddämmerung schon anbricht und er immer noch verzweifelt durch den Wald irrt, hört er auf einmal ein leises Wimmern.

Er entdeckt sie im Unterholz, wohin sie sich verkrochen hat. Und wie gut, dass sie gewimmert hat, sonst hätte er sie niemals gefunden.

Sie lebt noch! Dem Himmel sei Dank! Der Junge Max beschließt in diesem Augenblick, sein Leben in den Griff zu kriegen. <<<

 

Ab hier ist die Geschichte bekannt. Fast jeder weiß etwas darüber zu berichten, nur der ‚Retter’ selbst wollte nie richtig darüber reden. Er fühlte eine tiefe Scham wegen dieser unseligen Sache: Er hatte ein Kind erst fast umgebracht und dann durch seine Blödheit und Angst die Rettung dieses Kindes verzögert.

Andromeda hatte nur Glück gehabt. Es war nicht sein Verdienst, sie ‚gerettet’ zu haben.

Seit diesem Zeitpunkt hielt Max sich fern von seiner Cousine Zirza. Er fürchtete und verabscheute sie, obwohl er nicht genau wusste, was sie mit ihm angestellt hatte.

Seit diesem Zeitpunkt war Andromeda das Wichtigste in Max’ Leben. Er hatte sie fast getötet, und nun fühlte er sich für sie verantwortlich. Erst für das Kind und dann für die heranwachsende Andromeda.

Und so war es auch kein Wunder, dass er anfing, sie zu lieben, nicht wie ein Kind, sondern wie eine Frau, als sie älter wurde, denn alle seine Gedanken hatten sich seit Jahren nur mit ihr beschäftigt.

Andromeda war seine Seele und sein Grund zum Weiterleben.

Aber es war besser für sie, wenn er nicht mehr da war.

 

Als Andromeda fast zwei Tage später wieder zu sich kam, fand sie ihren Vater an ihrem Bett sitzend vor. Archie sah sehr besorgt aus.

Als sie von ihm verlangte, Max zu holen – denn sie fühlte sich nun bereit, mit ihm zu sprechen – sagte ihr Archie, dass Max weg wäre.

Max hatte Kampodia verlassen.

 

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Kapitel VIII – Teil 3 HOLIDAY IN CAMBODIA

 

Es war ein trübseliger Haufen, der in dem Volvo die Heimreise antrat. Im Gegensatz zur ursprünglichen Besatzung waren außer Sabine auch Sammy und Biggi nicht mehr dabei. Sie waren vor zwei Tagen schon abgereist, und zwar mit einem Ehepaar, das im Rheinland lebte.

Daniel, der am Steuer saß, machte einen etwas verwirrten Eindruck. Er fühlte, dass er das Opfer einer üblen Manipulation geworden war. Diese Manipulation war ihm durchaus echt erschienen, aber dennoch, das konnte nicht stimmen! Rebekka war zwar äußerst begehrenswert und verführerisch, aber sie trieb es nicht mit anderen Männern. Und vor allem war sie nicht käuflich!

Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass sie ihn verabscheute. War ja auch kein Wunder, nachdem er so etwas Blödes gesagt hatte. Aber vorher hatte sie ja auch nie zu erkennen gegeben, dass sie ihn mochte. Okay, sie mochte ihn vielleicht im Bett – aber sonst? Dabei wünschte er es sich so sehr, dass sie ihn lieben könnte, nicht nur körperlich, sondern aus ganzem Herzen. Mist, er wurde schon wieder romantisch, und Romantik hatte ihm bisher nicht viel gebracht...

Seine Frauen hatte er immer aus bestimmten Gründen ausgesucht und dann angestrengt um sie geworben? Warum eigentlich? Daniel dachte krampfhaft darüber nach. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben. Automatisch kam ihm seine Mutter in den Sinn. Eine zierliche Person, sehr weiblich und sehr unselbstständig. Sie litt an einer heimtückischen Krankheit, an der sie letztendlich starb. Sie hielt alle fest im Griff, den Vater natürlich und vor allem den kleinen Daniel. Die Mutter trichterte ihm sinngemäß ein, dass nur sexuell unaktive Frauen gute Frauen waren und dass Frauen vor allem verwöhnt und verhätschelt werden wollten. Er hatte ihr wohl geglaubt und dementsprechend seine Frauen ausgesucht und um sie geworben. Zuerst um Susanne, die kindliche Unberührte. Sie war immer noch kindlich und vollkommen unberührt von Leidenschaft, als er die Nase voll von ihr und ihren Ansprüchen hatte. Danach kamen zwei oder drei Frauen, mit denen er sich gut amüsiert hatte, die ihn aber nicht weiter ansprachen.

Und dann war da Marissa, die schöne verlassene Marissa, die den Ritter auf dem weißen Pferd zwar dauernd besang, aber nicht mehr wirklich auf ihn wartete. Und die dann, als er sie endlich rumgekriegt hatte, immer öfter abgezogen war in kostenlose Urlaubsgefilde. Und wenn er mit ihr schlafen wollte, hatte sie ihn fast immer ausgebremst mit dem Argument: Ich kann jetzt nicht, weil ich die Pille nicht nehme. Daniel war sich damals zu jung vorgekommen, um sich sterilisieren zu lassen, nur weil Marissa die Pille nicht nahm. Und ein Kind mit ihr zu haben, das konnte er sich einfach nicht vorstellen. Also ließ er es sich gefallen, nicht oft mit ihr schlafen zu können. Und irgendwann fing er an, sich von anderen Frauen anmachen zu lassen, wenn Marissa mal wieder auf Mallorca war. Sabine war eine von ihnen. Diese Geschichten gingen spurlos an ihm vorüber – und er hatte noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen deswegen.

Aber dann auf einmal tauchte Rebekka auf, und irgendetwas in ihm hatte auf sie gewartet. Er kannte sie ja, hatte schon Bücher mit ihr getauscht, aber sie schien ihm so unnahbar zu sein, so unerreichbar, dass er noch nicht einmal davon träumte, irgendwann mit ihr... Dafür war sie viel zu cool und zu abweisend. Im nachhinein musste Daniel trotz seiner jetzigen Misere lächeln – da hatte er sich wohl getäuscht, denn sie wollte ihn, wenn auch nur körperlich.

Rebekka war so geil, so köstlich und so anschmiegsam wie eine rollige Katze. Rebekka war bestimmt nicht das unschuldige und nette Mädel, das seine Mutter sich für ihn vorstellt hatte. Aber das kümmerte ihn nicht mehr, seine Mutter war tot, und er war eben anders, als sie es sich gewünscht hatte. Und er hatte zum ersten Mal in seinem Leben gespürt, was er wirklich wollte. Er wollte Rebekka, er wollte, dass sie sich an ihn klammerte, während er in ihr war, bis sie dann stöhnend abdriftete und er ihr nachfolgte...

Aber Rebekka war nicht verfügbar, sie hatte ihm klargemacht, dass er ein untreues Schwein war und dass sie beide nicht richtig gehandelt hatten. Und sie hatte Recht damit. Er fasste den Entschluss, sich auf jeden Fall von Marissa zu trennen, auch wenn er Rebekka nie wieder sehen würde.

Als Marissa aus dem Urlaub zurückkam, merkte sie wohl, dass etwas mit ihm passiert war. Und die Verhältnisse verkehrten sich. SIE wollte nun mit ihm schlafen, aber er wollte es nicht mehr. Er hatte die Nase voll von den lauwarmen Berührungen, von den gespielten Orgasmen, von dem falschen Gestöhne. Er hatte alles satt! Diese Beziehung war gar keine. Marissa hatte ihn bestimmt nur genommen, weil ihr Leben durch ihn bequemer und billiger wurde. Sie liebte ihn nicht und er sie auch nicht, das war ihm mittlerweile sonnenklar.

Er hatte sein Paradies in Rebekka gefunden – und es sofort wieder verloren.

Er versuchte, Rebekka anzurufen, aber jedes Mal ging ein Kerl ans Telefon, und Daniel legte dann auf. Sie hatte sich wohl schnell getröstet. Quatsch, sie brauchte keinen Trost, weil er nur ein One-Night-Stand für sie war. Er versuchte die Gedaken an sie zu verdrängen, Gedanken, die sich hauptsächlich damit befassten, wie sie mit einem anderen Mann schlief und die ihn wütend (frustriert) machten.

Marissa hatte sich mit mit seinem Freund Lukas zusammengetan, und später hatten die beiden geheiratet. Lukas war natürlich in finanzieller Hinsicht sehr viel ergiebiger als Daniel, der damalige Kneipenwirt. Daniel musste fast lachen. Wenn Marissa gewusst hätte, dass der dumme arme Daniel einmal Erbe seines Onkels sein würde, dann hätte sie sich bestimmt mehr Mühe um ihn gegeben. Vergeblich natürlich...

Daniel befand sich zu dieser Zeit schon nicht mehr in Deutschland. Sein Onkel hatte ihm einen Job in Brasilien angeboten, den er sofort annahm. Was sollte er noch hier?

Und er hatte hier und dort zwar alles versucht, um die Nacht mit Rebekka zu vergessen, aber die sexuellen Ausschweifungen, in denen er Ablenkung und Vergessen suchte, waren schal und unbefriedigend gewesen. Sie fehlte ihm. Er dachte jeden Tag und jede Nacht an sie, er dachte an sie, wenn er mit anderen Frauen schlief, und manchmal träumte er so real von ihr, als würde er einen Film sehen. Mittlerweile wusste er auch, wie das geschehen konnte. Morgaine...

In Kampodia, wohin ihn wohl auch Morgaine geführt hatte, erlebte er Rebekka neu. Sie hatte sich nicht viel verändert, sah immer noch aus wie höchstens vierundzwanzig, aber sie hatte ein Kind. Sein Kind! Und vielleicht konnte daraus etwas entstehen, etwas wie Liebe vielleicht... Na ja, so wie es jetzt aussah, gab es keine Liebe. Sie sprach nicht mit ihm, sie wich seinem Blick aus, und wenn er wirklich einmal in ihre Augen schauen konnte, dann sah sie ihn mit solch einem Abscheu an, dass es ihn förmlich erschütterte.

Was hatte sie? Was war geschehen?

Sie war tatsächlich bei ihm gewesen in dieser Nacht. Er dachte kurz an das Collier, und wieder überkam ihn ein leichter Ärger. Aber er schüttelte den Ärger ab. Rebekka war nicht käuflich! Niemals! Aber wieso konnte er sich nicht bewegen? Hatte man ihm eine Droge verpasst, damit er sich wie ein wehrloses Opfer vorkam, das ihr ausgeliefert war? Er dachte an ihre Süße und an ihre Hingabe. Und auch an seine Reaktion darauf, und das rief wieder eine Reaktion bei ihm hervor, die ihm sehr peinlich war. Aber es schaute ihn ja keiner an, das war gut...

Und trotzdem verletzte er sie mit diesen Worten, die ihm anscheinend jemand in den Mund gelegt hatte. Er empfand zwar in diesem Moment eine enorm große Lust, sie zu verletzen, aber doch nicht so! Nicht durch so etwas Grausames.

Sie war abgerauscht, ohne ein Wort zu sagen. Er wollte ihr hinterher laufen, aber er konnte sich immer noch nicht bewegen, und als er sich endlich bewegen konnte, war die Tür zu ihrem Zimmer von innen abgeschlossen Sie hatte seitdem nicht mehr direkt mit ihm geredet. Nur durch die Fee oder durch Andy.

Das mit Andromeda war ja wohl auch der Hammer. Das hätte er Max gar nicht zugetraut. Max und ein Kidnapper? Das passte nicht zu ihm.

Seine Gedanken wanderten wieder zurück zu Rebekka. Was hatte sie so getroffen? Sie musste abgrundtief verletzt sein. Und seine blöden Worte konnten doch nicht der Grund dafür sein.

Was zum Teufel war da passiert?

Shit! Auf jeden Fall SHIT!

 

Auch Rebekka zermarterte sich das Gehirn.

Wieso tat er so unschuldig? Er hatte sie betrogen, das stand ja wohl fest, denn er hatte es selber zugegeben. Er war ein Dreckskerl, der sie in Sicherheit gewiegt hatte, um erst ihr Vertrauen zu gewinnen – und sie dann umso härter verhöhnen zu können.

Er hatte mit einer anderen Frau geschlafen. Hatte Rebekka kalt und erbarmungslos erwischt in einer Phase, in der sie ihr letztes Hemd für ihn gegeben hätte. Und in einer Phase, in der sie keinerlei Zweifel an seiner Treue hegte. Sie hatte ihm tatsächlich vertraut… Vertrauen, was für ein seltsames Wort im Zusammenhang mit ihm. Er hatte sie mit Zirza betrogen – wieder erschien dieses schreckliche Bild vor ihren Augen, und sie musste sich fast übergeben.

Er hatte sie so gemein und unauffällig betrogen, nie hätte sie das vermutet, sie war ja so ein Schaf! Er hatte es geschickt getarnt, genial davon abgelenkt! Zum Beispiel dieser angebliche Ekel, den er vor Zirzas Geruch hatte. Das klang so überzeugend, dass allein die Idee, er könnte etwas mit Zirza haben, ihr nie im Leben gekommen wäre. Wie hatte sie sich nur so täuschen können!

Vertrauen... Konnte sie überhaupt jemanden vertrauen? Vielleicht Sabine, aber sonst gab es da niemanden. Doch, Claudia. Der konnte sie auch vertrauen, vielleicht noch mehr als Sabine. Doch wenn sie an ihre Kindheit dachte, musste sie erkennen, dass nie einer da gewesen war, dem sie vertrauen konnte. Ihre Mutter nicht, ihr Vater nicht...

Sie fand es kalt im Auto und schmiegte sich in ihre Jacke. Sie fühlte in der Jackentasche ein paar zerknüllte Fetzen Papier. Sie holte sie heraus, glättete sie und schaute sie zerstreut an.

Ihr Kopf war voll von diffusen Gedanken, die sie schon öfter gedacht hatte. Sie ließen sie immer verwirrt zurück, und nie kam sie zu einem echten Ergebnis. Sie konnte nicht zur Wahrheit durchdringen, denn alles lag hinter einem dichtem Schleier verborgen. Wieso wusste man so wenig von sich selber?

Sie starrte immer noch auf die Papierfetzen, bis sie erkannte, dass es sich um die Zettel vom Erbsenpflücken handelte. Sie hatte sie nicht eingelöst. War das symptomatisch für ihr Leben? Hatte sie etwas gegeben, es aber nicht eingelöst bekommen? Nein, dachte sie, das war es nicht. Das Gegenteil war der Fall. Ihren Liebhabern hatte sie nie viel Liebe geben können, sie hatte sich ihnen entzogen, körperlich und auch vom Gefühl her. Warum war sie so gefühllos? Was stimmte nicht mit ihr? Warum mussten ihre Beziehungen immer scheitern? Im Fall Michael wusste sie, dass sie ihre nicht vorhandene Liebe durch eine übersteigerte hausfrauliche Fürsorglichkeit kompensiert hatte. Um damit natürlich zu scheitern. Männer wollen möglicherweise eine saubere Wohnung, klar doch. Aber guten Sex wollen sie noch mehr, und sie wollen bestimmt auch geliebt werden. Doch gerade das fehlte bei ihr. Sie war anscheinend unfähig zur Liebe. Aber wieso?

Konnte der Vater ausschlaggebend sein für das Verhältnis, das man ein Leben lang zu Männern hatte? Sie hatte einen schlechten Vater, der geil und untreu war. Vielleicht war das ihr Problem. Hielt sie alle Männer deswegen für geil und untreu? Oder war es wegen dieser anderen Sache? Danke Vater, was hast du mir da angetan! Du hast dich an deinem eigenen Kind vergangen! Hast du überhaupt eine Ahnung, was das bedeutet? Nein, das hast du nicht. Und du Mutter, du hast die Augen geschlossen. Du blödes Weibchen! Hattest wohl Angst, dein grandioser Ehemann würde dich verlassen. Untreu und schlecht war er und ist er wahrscheinlich immer noch, er hat sich an deinem eigenen Kind vergangen, und du schließt die Augen? Warum hast du mich nicht beschützt? Du bist ein Feigling! Wenn jemand das Morgaine antun würde, würde ich ihn umbringen, auch wenn ich ihn lieben würde. Aber ich kann ja nicht lieben...

Rebekka schüttelte unmerklich den Kopf. Eigentlich hatte sie die Nase voll von den Zweifeln an sich selber, eigentlich hatte sie endlich in Frieden leben wollen. Und warum nicht mit Daniel? Aber Daniel, der ihr, wie sie letztens noch gedacht hatte, am nahesten stand, hatte sie hintergangen und verhöhnt.

Sie hätte die Mauer der Gefühllosigkeit durchbrechen können. Durch ihn. Breaking the wall, dachte sie sarkastisch. Er hatte in ihr unbekannte Gefühle und Sehnsüchte erweckt. Aber gerade er entpuppte sich als der mieseste Typ von allen. Das Schlimme an der Sache war aber, dass sie sich immer noch zu ihm hingezogen fühlte. Nur sexuell natürlich. Und nicht etwa, weil sie ihn... Nein das Wort ‚Liebe’ wollte sie nicht einmal denken, weil es so abartig war im Zusammenhang mit ihm. Und sie verachtete sich für ihr sexuelles Begehren, weil es ihr so pervers und masochistisch erschien.

Warum war sie zu ihm gegangen nach dem Ball? Sie würde es so gerne ungeschehen machen, aber das ging ja nicht. Sie hatte es wieder gespürt, das Gefühl, das er in ihr weckte. Das Begehren und die Erfüllung, die Auflösung ihres Ichs, wenn er in ihr war, die dunkle samtige Woge voller Süße und Ekstase, die ihren Körper bis in die tiefsten Fasern ausfüllte und alles andere auslöschte. Das Glück... Automatisch stiegen ihr Tränen in die Augen.

Auf jeden Fall war es hoffnungslos. SHIT! Auf jeden Fall SHIT! Nein, nicht wieder dieses Bild! Unwillkürlich bedeckte Rebekka ihre Augen mit den Händen, aber damit konnte sie nicht verhindern, dass sie wieder das Bild sah, und sie stöhnte unwillkürlich auf.

„Was ist denn, Rebekka?“ Daniels Stimme holte sie aus ihren Qualen, nur um ihr noch größere Qualen zu verschaffen. Wollte er sie wieder verhöhnen? Seine Stimme klang so sanft und so lieb. Mit Sicherheit wollte er sie verhöhnen.

„Lass mich in Ruhe!“ sagte sie heftig.

Daniel, der daraufhin noch mehr verunsichert war, legte eine CD auf, eine CD von den Dead Kennedys, sie stammte aus den 80er Jahren.

Und durch Zufall kam ausgerechnet dieses Stück als erstes:

It's a holiday in Cambodia

It's tough kid, but it's life

It's a holiday in Cambodia

Don't forget to pack a wife

 

„Jello Biafra ist schon irre.” Daniel machte einen lahmen Versuch, das allgemeine Schweigen zu brechen. „Gegen den ist Johnny Rotten fast zahm.“ Er hatte Lust, den Refrain mitzusingen, tat es aber nicht, denn dieser Text würde bestimmt nicht gut ankommen...

Keiner im Volvo interessierte sich für Daniels Meinung.

„Andererseits hat Johnny immer so herrlich ins Publikum gerotzt...“ sagte Daniel in der Hoffnung, irgendeine wie auch immer geartete Reaktion provozieren zu können.

Aber immer noch interessierte sich keiner im Volvo für seine Meinung. Rebekka kannte zwar den Song, fand aber weder Jello noch Johnny besonders sympathisch, hielt Jello für einen grauslichen ‚Sänger’ und Johnny für ein ekelhaftes Schwein und fand sowieso, dass ‚Holiday in Cambodia’ ein besonders grässlicher Punksong war. Vor allem die Stelle mit dem ‚Don't forget to pack a wife’ war ekelhaft. Aber Daniel mit seinem seltsamen Geschmack schien es wirklich zu mögen, dieses hirnerweichende Gegröle . Aber Daniel war eben auch ein Schwein.

Und außerdem würde sie ihm gegenüber niemals zugeben, dass sie in sein Zimmer gekommen war. Niemals!

 

Morgaine, die in ihrem Kindersitz saß, war traurig und verwirrt. Sie hatte gespürt, dass Fonso nicht mehr ‚da‘ war, und dass er nie mehr ‚da‘ sein würde. Keiner konnte oder wollte ihr genau erklären, warum das so war, anscheinend waren sie alle nur mit sich selber beschäftigt. Sie vermisste Fonso. Sie hatte ihn lieb gehabt, und jetzt war er weg. Sie hatte es vorher schon gesehen, wie er still an der Straße lag, als es noch gar nicht passiert war. Sie hatte gewusst, dass es nicht gut war, so still an der Straße zu liegen.

Und Mammi schien auch daneben zu sein. Ihre Mutter hatte nur ein einziges Bild vor Augen und zwar ein Bild, das ihren Papa mit dieser Zirza zeigte. Mit dieser Zirza, deren Kopf innen so schwarz war. Mammi wurde anscheinend dieses Bild nicht los. Aber das Bild war falsch, es stimmte nicht. Es war nie passiert.

Morgaine wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie spürte nur, dass ihre Mammi verletzt war und dass ihr Papa irgend etwas damit zu tun hatte, es aber anscheinend gar nicht wusste. Mammi tat ihr leid. Diese Zirza, die wollte Morgaine auch nicht zusammen mit Papa sehen, was auch immer die da machten... Eigentlich sollten Mammi und Papa es machen, vor allem weil Mammi sooo oft daran gedacht hatte, dass Morgaine sich dabei furchtbar gelangweilt hatte und immer schnell abschaltete.

Bei Papa sah sie auch etwas, aber es war undeutlich und verblasste immer mehr. Es waren Bilder von Mammi mit Onkel Archie. Auch das war falsch, auch das war nie passiert. Die zwei hatten sich verkohlen lassen. Aber richtig! Und jetzt mochten sie sich nicht mehr. Nein das stimmte nicht, Papa mochte Mammi immer noch, aber Mammi war schwer daneben.

Aber das würde sich irgendwann wieder ändern, daran glaubte sie fest. Sie hatte es geträumt... Morgaine wusste mittlerweile, dass es verschiedene Möglichkeiten gab, wenn sie etwas träumte. Es war, als ob man vor mehreren Wegen stand, aber nur einer davon war richtig. Man spürte diesem einen nach, und kam am Ende zum richtigen Ziel. Bei Fonso gab es nur den einen Weg. Armer Fonso!

Es wird schwer werden, sagte die tote Morgan gerade. Morgaine war nicht überrascht darüber, denn manchmal unterhielt sie sich mit der toten Morgan. Einfach nur so.

Es ist eine gefährliche Sache, sagte die tote Morgan. Und deine Mutter könnte dabei sterben.

So wie Fonso, fragte Morgaine entsetzt.

So ähnlich, lautete die Antwort. Und Morgaine bekam fürchterliche Angst. Mammi sollte nicht sterben!

Du wirst deine Fähigkeiten irgendwann besser beherrschen, sagte die tote Morgan. Ich werde dir dabei helfen. Aber jetzt solltest du deinem Vater ein Bild von dem schicken, was deine Mutter über ihn denkt.

Gut, ich mache es. Ich will nicht, dass sie stirbt! Und Morgaine konzentriert sich auf den Kopf ihrer Mammi.

 

Daniel spürte urplötzlich, dass sein Töchterchen ihm etwas schickte. Und er war so geschockt über diese Botschaft, dass er heftig bremste, weswegen alle im Wagen außer Andy ihn vorwurfsvoll anschauten. Zur Sicherheit blieb er erst einmal mit dem Volvo am Straßenrand stehen, um das Bild verarbeiten zu können.

Er sah sich selber mit Zirza und konnte es kaum glauben. War es das, was Rebekka bewegte und sie so verletzt hatte? Das wäre entsetzlich! Aber wie kam sie auf so etwas? Das war krank. Das konnte sie ihm doch nicht zutrauen! Morgy sollte aufhören, ihm so etwas zu schicken. Empört drehte er sich zu seiner Tochter um und schickte ihr ein Bild, ein in der Tat bildliches Bild, das ein großes durchgestrichenes Kreuz auf ihrem Bild zeigte. Es war wie ein geistiges Verkehrsschild, und es bedeutete: VERBOTEN! Morgaine richtete sich meistens danach, wenn ihr Vater dieses Verkehrsschild anwandte. Meistens...

Morgaine grinste ihn um Verzeihung bittend an, sie wusste, es war unhöflich, in die Köpfe anderer Leute zu sehen. Aber in diesem Fall war es wichtig. Er sollte wissen, was mit Mammi los war. Und sie hätte es ihm auf jeden Fall gezeigt, egal ob die tote Morgan das nun gut fand oder nicht. Sie war nämlich genauso stur wie ihre Mammi...

In Daniels ohnehin schon verwirrtem Kopf tauchte plötzlich noch ein anderes Bild auf. Er kannte es. Es war dieses Dunkelblau-Hellblau-Ding, dieses statische Ding, dieses Ding mit den zwei Kreisen. Es sah aus wie eine grafische Zeichnung, die Kälte ausströmte. Und in der letzten Nacht hatte er auch schon davon geträumt.

Er drehte sich wieder um und blickte Morgaine streng an. Aber seine Tochter fühlte sich wohl nicht angesprochen, sondern guckte aus dem Fenster und sah sich die Landschaft an.

Was war das nun wieder, fragte sich Daniel ratlos und schüttelte den Kopf. Er wartete noch ein Weilchen, bis er keine fremden Bilder mehr sah – denn es war recht gefährlich, Auto zu fahren, wenn man irgend etwas sah, das nicht auf die Straße gehörte – dann startete er den Motor und fuhr achselzuckend weiter.

 

Andromeda saß blass auf dem Rücksitz und sagte kein einziges Wort, womit sie nicht aus dem Rahmen fiel, denn die anderen waren fast genauso schweigsam. Andromeda hatte es in Kampodia nicht mehr aushalten können. Kampodia war unerträglich ohne ihn. Kampodia war leer und seelenlos ohne ihn.

Niemand wusste, wo er war. Die Garage, in der er immer an seinem Lister-Jaguar herumschraubte, stand offen und war leer. Andromeda besuchte daraufhin seine Mutter, die mit ihrem Mann im Oberen Dorf wohnte und mit der sie sich immer gut verstanden hatte. Aber seine Mutter konnte oder wollte ihr nichts über seinen Aufenthalt sagen. Den Lister-Jaguar hatte er übrigens bei seinem Stiefvater in der Garage untergestellt. Den hatte er also auch verlassen, genauso wie er sie verlassen hatte...

Aber das Schlimmste war: Die Frau, die ihr Vater als Ersatz für ihn und als vorläufige Verwalterin eingestellt hatte, war anscheinend eine Exfreundin von ihm. Das erschien Andy als der größte Hohn, den er ihr antun konnte. Wollte er, dass sie ihn hasste? Wenn ja, dann war er auf einem guten Weg dahin... Aber richtig hassen konnte sie ihn eigentlich nicht. Die Wunde war noch zu frisch, die unbeantworteten Fragen noch zu quälend, und ihr Leben erschien ihr im Augenblick zu leer und sinnlos, um überhaupt hassen zu können.

Sie hatte ihren Vater bestürmt, sie mit Daniel und Rebekka fahren zu lassen. Sie würde bei denen im Ruhrgebiet zur Schule gehen und sie würde ‚brav’ sein.

Sie hatte Daniel und Rebekka, die beide zuerst ziemlich bestürzt über Andromedas Absichten waren, die Sache schmackhaft gemacht durch das Versprechen, auf Morgaine aufzupassen.

Andromeda hatte sich die beiden schlauerweise einzeln vorgeknöpft, da sie ja nicht miteinander sprechen und auch nicht nebeneinander stehen oder sitzen wollten, es herrschte absolute Funkstille zwischen ihnen. Aber sie hatten beide unabhängig voneinander beschlossen, Andromeda mitzunehmen.

Auch Archie hatte schließlich widerwillig zugestimmt und alles von Kampodia aus in die Wege geleitet, Daniel und Rebekka sollten keine Umstände wegen Andy haben.

Sie hatte ihr Ziel erreicht, sie musste nicht mehr in Kampodia sein. Und alles andere war ihr egal.

back home back home back home back home

back home back home back home back home

back home back home back home back home

back home back home back home back home

 

Trotz Jello Biafras bissiger Stimme fielen Rebekka die Augen zu. Sie war todmüde, kein Wunder, sie hatte in den letzten zwei Nächten ja kaum geschlafen vor lauter Grübeln. Sie rollte sich auf ihrem Sitz zusammen, aber das war zu unbequem. Sie legte ihre Füße auf das Armaturenbrett und fühlte, wie Daniel sie ansah. Das ist mein Auto, dachte sie trotzig, und ich kann darin machen, was ich will. Oh Gott, wo werden wir eigentlich wohnen, bei mir geht es nicht, nicht mit ihm, nicht mit ihm, nicht mit ihm...

Erschöpft drehte sie ihr Gesicht zum Fenster und fiel tatsächlich in einen leichten Schlummer.

 

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Kapitel VIII – Teil 4 BACK HOME

 

Er fuhr in Richtung Süden. Dorthin, wo sich die Stadtteile mit den teuren Wohnungen und Häusern befanden. Rebekka lebte zwar nicht gerade in einem Elendsviertel, aber die Mieten in ihrem Stadtbezirk waren erheblich niedriger als die in den besseren Lagen der Stadt. Natürlich war es hier schöner als in den eng aneinander gedrängten Straßenzügen ihres Viertels. Die Bauweise der Häuser war ziemlich aufgelockert, die Abstände zwischen ihnen waren groß, es handelte sich auch nicht um riesige Mietskasernen, sondern um höchstens Zwei- bis Dreifamilienhäuser, und es mischten sich immer mehr prächtige Villen darunter.

Was mache ich hier, dachte Rebekka. Wir müssen ja fast am See sein. Der See war in den dreißiger Jahren entstanden – es handelte sich um eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – und er hatte sich mit seiner herrlichen Umgebung zu einem wunderbaren Naherholungsgebiet entwickelt. Dadurch waren natürlich auch die Grundstückspreise immens gestiegen, und nur die reichsten Leute konnten sich ein Grundstück nahe beim See leisten. Daniel konnte nicht so reich sein!

Er hielt schließlich vor einem verhältnismäßig kleinen Grundstück – natürlich nur im Vergleich zu den Nachbargrundstücken – auf dem ein hässlicher Kasten von einem Haus stand. Es war eingeschossig und auf beiden Seiten flankiert von je einer Garage. Außerdem besaß es ein hässliches Flachdach mit zwei Schornsteinen, und es verkörperte perfekt den fantasielosen Betonstil der 60er Jahre. Es war fast schon wieder klassisch, so bauhausmäßig, fiel Rebekka ein.

„Ist nicht besonders schön“, sagte Daniel. „Aber groß...“

„Wie kommst du an so etwas?“ fragte Rebekka neugierig. Sie wusste ja gar nichts von ihm. Außer, dass er sich als Schweinehund entpuppt hatte... Und wenn er begütert war, dann war es noch schlimmer, sie fühlte sich so fehl am Platze, so überflüssig, so...

„Mein Onkel hat’s mir vererbt“, erklärte Daniel gerade. „Ich nenne es den Bunker...“

Bunker? Na ja, Bunker war vielleicht die passende Bezeichnung.

Er parkte vor dem Haus, wandte sich ihr zu und sagte mit energischer Stimme: „Also Rebekka, pack’ ein bisschen zusammen... Und dann solltest du dir überlegen“, bei diesen Worten schaute er sie voll an, „was du mitnehmen willst. Bei mir im Bunker ist zwar ziemlich viel Platz, aber wir müssen ja nicht alles doppelt haben. Mach’ dir am besten eine Liste.“

Rebekka nickte, als ob sie unter Betäubung stünde.

„Und dann komme ich morgen früh bei euch vorbei.“ Wieder schaute er ihr voll in die Augen, bevor er fortfuhr: „Ich hab’ leider nicht genug Betten, sonst könntet ihr heute Nacht schon hier schlafen.“

„Das ist kein Problem“, sagte Rebekka steif. „Ich werde aufschreiben, was ich brauche und...“ Sie brach ab, es war ja sowieso alles schon entschieden, und sie hatte keine Möglichkeit mehr, es zu ändern.

„Wo willst du schlafen, Andy? Bei Rebekka oder hier?“ fragte Daniel nun Andromeda. Der schien es egal zu sein, wo sie schlafen würde, aber sie erhob sich vom Hintersitz des Volvos, stieg langsam aus und blieb dann grübelnd vor dem Haus stehen.

Auch Rebekka stieg aus, sie streckte sich und ging langsam um den Volvo herum, um sich ans Steuer zu setzen. Dabei sah sie zufällig, dass Daniel nicht nur seine und Andromedas Reisetaschen aus dem Kofferraum geholt und auf den Bürgersteig gestellt hatte, sondern auch ihr Gepäck und natürlich auch das von Morgaine.

„Die nehme ich gleich mit ins Haus, dann müsst ihr sie nicht mehr tragen.“ Daniel hatte ihren Blick gesehen.

Rebekka schaute ihn fassungslos an. Jetzt nahm er ihr schon die Wäsche weg, und sie fühlte sich entsetzlich. Als hätte sie nirgendwo mehr einen Halt, als wäre mit diesen Reisetaschen alles in seinen Besitz übergegangen. Sie hatte jetzt gar nichts mehr! Sei nicht so dramatisch, dachte sie und versuchte, den Schock zu verdauen. Aber sie konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken.

Bei mir im Bunker ist ziemlich viel Platz, äffte sie ihn im Geiste nach. Bei mir ist ziemlich viel Platz... Bei mir! Bei mir! Bei mir! Was hatte sie getan? Och, nicht viel, sie war jetzt nur verheiratet, und mit ihrer Freiheit war es wohl vorbei, Daniel kehrte schon den Herrn heraus und wollte alles bestimmen. Was hatte sie da getan? Aber es war gut für Morgaine, alles andere zählte nicht, und das waren die Fakten.

Sie startete den Motor erst, als Daniel und Andromeda schon im Haus verschwunden waren – und nachdem sie ihre Brille aufgesetzt hatte. Daniel musste die nicht unbedingt sehen...

 

Trotz ihres Ärgers begutachtete sie ihre Wohnung genau. Und sie entschied schnell, was sie behalten wollte:

Ihr gemütliches Sofa, auf dem ein großer hellfarbener Quilt lag, sie hatte ihn selbst genäht, und sie war sehr stolz auf ihn.

Den Schreibtisch, der gar kein richtiger Schreibtisch war, sondern ein alter dunkel gebeizter Küchentisch mit Schubladen.

Ihren Computer natürlich. Und auf jeden Fall das gut bestückte Bücherregal. Die Zimmerpflanzen, zumindest die, die nett aussahen. Das Bett von Morgaine, obwohl es fast schon zu klein war. Den Fernseher – er war zu schade zum Wegwerfen, obwohl sie lieber las als fernzusehen. Aber sie hatte ja auch kein Kabel-TV. Zu teuer!

Auf die klapprigen Kleiderschränke konnte sie verzichten, sie würde neue bei IKEA kaufen, das wäre sowieso fällig gewesen. Die Küche würde wohl hier bleiben müssen. Aber vielleicht konnte sie etwas von ihrem Geschirr mitnehmen, natürlich nur, wenn dafür Platz in des Bunkers Küche war. Was für ein blöder Gedanke, Rebekka musste lächeln. Das hörte sich fast an wie ‚in des Teufels Küche’...

„Und was brauchst du so alles?“ sagte sie zu Morgaine, die daraufhin fast ihr ganzes Spielzeug auf einen Haufen packte, drum herumtanzte und dabei sang: „Wir ziehen jetzt zu Papa, wir ziehen jetzt zu Papa...“ Rebekka drehte sich zur Seite und verzog das Gesicht. Das war das erste Mal, dass Morgaine Daniel Papa nannte, oder zumindest das erste Mal, dass sie es hörte. Auch das war schlimm. Morgaine war nicht mehr alleine ihr Kind, es gab einen Vater, der zwar noch nicht offiziell war, es aber bald sein würde. Rebekka hatte beschlossen, den Eintrag „Vater unbekannt“ in Morgaines Geburtsurkunde löschen und stattdessen Daniels Namen eintragen zu lassen. Es war sicherer und ging schneller, als ein Adoptionsverfahren in die Wege zu leiten. Das hatte Daniel ihr erklärt, kurz nachdem sie geheiratet hatten.

Rebekka fühlte sich elend. Anscheinend war ihr Leben aus den Fugen geraten. Verheiratet mit einem Mann, der sie betrog, mit einem, der ihr das Kind streitig machte – und mit einem, der ihr von nun an in alles hineinreden würde.

Sie entschloss sich spontan, ihre Wohnung nicht sofort zu kündigen. Sie brauchte einen Ort, der ihr allein gehörte und den sie aufsuchen konnte, wenn es zu schlimm wurde. Und für alle Fälle würde sie ihr Bett hier lassen. Sie würde in Daniels Haus auf ihrem Sofa schlafen, es war bequem genug und ließ sich gut ausziehen.

Sie machte sich daran, ein paar Kleidungsstücke in eine große Tasche zu packen, und Morgaine tanzte immer noch in der Wohnung herum. Sie schien nicht allzu traurig zu sein, woanders hinziehen zu müssen. Rebekka seufzte auf und begutachtete noch einmal ihre Wohnung, die sie lieb gewonnen hatte.

Die winzige Küche war nichts besonderes. Das Wohnzimmer war recht groß, aber vielleicht wirkte es nur so, weil wenig Möbel drin standen. Nur das Sofa, der Schreibtisch und das Bücherregal, darin die alten Bücher, die sie fast alle auf dem Flohmarkt gekauft hatte – und die vielen Taschenbücher, die sich dort angesammelt hatten. Ansonsten besuchte Rebekka immer noch die Stadtteil-Büchereien, um sich dort massenhaft Lesestoff zu besorgen, denn sie musste auf jeden Pfennig achten. Jedenfalls hatte Morgaine in diesem Raum viel Platz für ihr Spielzeug, und jeden Abend räumte sie alles in diese herrlich großen Pappkartons, damit das Zimmer ein wenig ordentlicher aussah.

Das Schlafzimmer war klein und funktionell, dort gab es ein paar Schränke und den nach beiden Seiten hin offenen Raumteiler, der ihr Bett von dem der Tochter trennte.

Ich hätte sowieso bald umziehen müssen, dachte sie. In eine größere Wohnung. In eine wahrscheinlich teurere Wohnung. Aber ich hätte es geschafft. Ich bin flexibel, ich kann mich einschränken, habe Ideen. Irgendwas geht immer. Und zur Not hätte ich das Auto abgeschafft.

Dann fiel ihr wieder siedendheiß ein: Jetzt bin ich gefangen. Jetzt bin ich verheiratet! Und ihre Gedanken flatterten umher wie Vögel, die an die Gitter eines Käfigs stießen...

 

Daniel erschien früh am nächsten Morgen. Er war anscheinend sehr verlässlich, zumindest in dieser Beziehung. Er brachte noch einen Typen mit, der jede Menge Umzugskartons hochgeschleppt hatte und Rebekka neugierig anschaute.

Sie sagte Daniel, was sie mitnehmen wollte und was vorerst hier bleiben konnte, und er nickte nur.

„Dann wollen wir mal!“ sagte er, schnappte sich Rebekkas Taschen und Tüten, lud ein paar flauschige Teddybären dazu und machte sich auf in Richtung Ausgang. Sein Töchterchen Morgaine hüpfte ihm aufgeregt hinterher. Und Rebekka, die noch in Gedanken versunken war, ging schließlich auch nach unten – mit einem Arm voller Jacken und Sweatshirts – nicht ohne vorher einen sehnsüchtigen Blick in ihre Wohnung geworfen zu haben. Sie kam ihr sehr leer vor. Und dabei stand doch noch alles drin!

Sie verfrachtete die Sachen in ihr Auto und ging sofort wieder nach oben in die Wohnung, um sich neu zu beladen. Sie sah, dass der Typ schon fleißig irgendwelche Sachen in Umzugskartons packte, und sie war froh, dass sie ihre Wäsche selber eingepackt hatte.

Auch Morgaine wuselte in der Wohnung herum, suchte ihr Spielzeug zusammen und brachte es hinunter. Es lief alles zügig ab. Irgendwann bemerkte Rebekka, dass ihr Sofa schon weg war. Es befand sich auf Daniels Lieferwagen, und der war tatsächlich schon voll.

„Ich glaube, wir können“, sagte Daniel. Morgaine rannte ihm hinterher und wollte unbedingt mit ihm fahren. Rebekka war skeptisch. Aber dann stellte sie fest, das es schon einen Kindersitz in diesem Wagen gab, und das beruhigte sie ungemein. Sie fragte sich, wie jemand, der so bestimmend war – und vor allem so untreu – gleichzeitig auch so kinderlieb und vorausschauend sein konnte. Es passte einfach nicht zusammen. Aber Männer waren ja seltsame Wesen und hatten auch seltsame Macken. Obwohl, Macken war in diesem Zusammenhang ein viel zu nettes Wort...

 

Das Haus entpuppte sich von innen als nicht so kalt und nüchtern, wie es von außen aussah. Andromeda kauerte trübsinnig auf dem dunklen Ledersofa in dem riesigen länglichen Wohnraum mit der Terrassentür, die in den Garten führte. Rebekka schaute kurz hinaus. Der Garten war einfach nur eine Rasenfläche mit ein paar Bäumen am Rand, aber er hatte Mauern an allen drei Seiten, und das weckte ein Gefühl der Sicherheit in ihr.

„Man könnte was draus machen“, Daniel war hinter ihr aufgetaucht. „Ich hatte leider noch nicht die Zeit dazu...“

„Hmmm“, sagte Rebekka nachdenklich. Sie hatte sich immer einen Garten gewünscht, aber nicht unter diesen Umständen. Dieser Garten gehörte ihr nicht, und wieso sollte sie ihr Herz an ihn hängen. Aber für Morgaine wäre er ideal, und sie verlor sich in Gedanken an eine Schaukel, die sie für Morgaine kaufen würde.

„Ich zeige euch das Haus!“ Daniel ließ die Sachen, die er getragen hatte, einfach fallen, und sie mussten ihm wohl oder übel folgen. Er fing tatsächlich schon an, sie herumzukommandieren, dachte Rebekka grantelig, dieser miese Betrüger. Wieder tauchte vor ihren Augen das Bild auf, wie er mit Zirza... Sie folgte ihm aber trotzdem, denn er hatte Morgaine an die Hand genommen, und die schien gespannt auf ihr neues Zuhause zu sein.

„Hier im Erdgeschoss ist also der Wohnraum mit der Küche. Ich will versuchen, hauptsächlich mit dem Kamin zu heizen“, erklärte Daniel und wies auf einen großen Kachelofen, der dunkelblau gefliest war. „Holz ist noch genug im Garten, ein riesiger Baum ist etwas gestutzt worden. Und zur Not kann man Holz bestellen. Außerdem ist hier noch ein Gäste-WC mit Dusche. Und dann ist da dieser Raum.“ Er öffnete die Tür zu einem kleinen spartanisch eingerichteten Zimmer, in dem nur ein breites Bett und eine Kommode standen. „Hier schlafe ich“, sagte er locker. „Und wie gesagt, ich habe noch nicht viel gemacht...“ Es klang entschuldigend.

Das Wohnzimmer war wirklich sehr groß, nicht nur für unverwöhnte Mieter von billigen Zweiraumwohnungen. Es war mindestens vierzig Quadratmeter groß und somit fast so groß wie Rebekkas preiswerte Zweiraumwohnung, dazu war es länglich angelegt und versprach die schönsten Gestaltungsmöglichkeiten. Aber Rebekka verbot es sich sofort, überhaupt daran zu denken.

Von diesem riesigen Wohnzimmer aus ging es nach rechts in die Küche, die auch nicht gerade klein war. Und sie war ausgestattet mit einem, ach du gute Güte, einem dieser Herde, die sich selber durch Hitze reinigten. Nicht schlecht, erkannte Rebekka widerwillig an. Sie hasste es nämlich, Backöfen sauber zumachen. Die Küche war ein Teil des Wohnraums, nur ein wenig abgeteilt von ihm durch eine Theke, an der auf beiden Seiten dunkle hohe Barhocker standen. Eigentlich sitze ich lieber an einem richtigen Tisch, dachte Rebekka, und dieses Wohnzimmer wäre groß genug für einen richtigen Esstisch, aber es ist ja nicht mein Haus...

Daniel führte sie in das Untergeschoss. Er war über eine relativ breite Treppe von der Diele aus zu erreichen, und am Ende der Treppe war eine Gas-Therme zu sehen. Für die Heizung? Rebekka hatte gar keine Heizkörper bemerkt, handelte es sich eine Fußbodenheizung? Auch nicht schlecht… Unten gab es allerdings nur normale Heizkörper.

Dieses Untergeschoss hatte man von der Straße aus gar nicht sehen können, weil die Fenster durch Büsche verdeckt waren. Und dieses Untergeschoss war wirklich nicht übel und zumindest nicht so ‚down under’, dass man sich wie ein Maulwurf fühlen würde. Alle Fenster schlossen an der Unterkante mit dem Erdboden ab. Und sie ließen viel Licht herein. Es gab da unten vier Zimmer, alle ungefähr nur fünfzehn Quadratmeter groß, aber sie besaßen alle eine ausgebaute Nische, in der man Kleidungsstücke unterbringen konnte. Irgendwie war das amerikanische Art...

„Er war Perfektionist, mein Onkel“, sagte Daniel zu Rebekka. „Wir werden kaum Kleiderschränke brauchen. Die sind sowieso hässlich und engen nur ein...“

Obwohl Rebekka sich in seiner Nähe unbehaglich fühlte, musste sie ihm zustimmen. Die traditionelle deutsche Raumgestaltung war unmöglich: Die Diele, die vielen Türen, die relativ kleinen Zimmer...

Das Badezimmer, der fünfte Raum im Untergeschoss, war eigentlich wunderschön, bis auf die hässlichen Fliesen und die abartig rostrote Sanitärkeramik. Es war circa zwei Meter breit und fünf Meter lang, also ganz schön groß für ein Badezimmer. In einer Nische standen eine Waschmaschine und ein Trockner, und mehrere Wäscheständer lehnten unbenutzt an der Wand. Wäscht er seine Sachen eigentlich selber? Das ging Rebekka durch den Sinn. Wenn ja, dann konnte er es ruhig weiter so halten...

Jedenfalls erfüllte dieses große Badezimmer alle Wünsche, egal ob man jetzt Kalt- oder Warmduscher war, oder ob man eine gemütliche Badewanne bevorzugte. Rebekka sehnte sich übrigens gerade nach einem konventionellen heißen Wannenbad. Es war zwar erst Ende August, aber trotzdem fühlte sie sich irgendwie unterkühlt.

Sie schauten sich noch einmal alle Räume an.

„Wenn du nichts dagegen hast“, sagte sie schließlich zu Daniel, „dann nehme ich dieses Zimmer, ich glaube, es geht nach Osten.“ Rebekka als Frühaufsteherin hatte es im Blut, wo die Sonne aufging.

„Du kannst haben, was immer du auch willst.“ Daniel schaute sie an, und seine Stimme klang irgendwie zärtlich – aber das war sicherlich nur Einbildung von ihr.

Klar doch, dachte sie zynisch. Gib mir Untreue, die liebe ich heiß und innig, und gib mir Betrug, auch darauf stehe ich!

Andromeda hatte ihr Zimmer anscheinend schon gewählt, es war das einzige Zimmer mit einem Bett. Sie lag bestimmt immer noch oben im Wohnraum auf dem dunklen Ledersofa und grübelte vor sich hin. Arme Andy! So belogen zu werden...

„Und du Fee?“ fragte Daniel „Wo willst du schlafen?“

„Weiß nicht“, sagte Morgaine unbestimmt, und sie schaute dabei von einem zum anderen. „Bei Mammi und Papa?“

Rebekka fühlte sich vollends eiskalt werden. Allein der Gedanke, nein, nein, nein, und wieder sah sie das Bild, das Daniel und Zirza zeigte, wie sie zusammen...

Morgaine schüttelte den Kopf, als ob sie etwas vertreiben wollte. Sie überlegte ein Weilchen, und schließlich nahm sie Daniel bei der Hand und führte ihn in das Zimmer, das zwischen dem ihrer Mutter und Andys Zimmer lag. „Das!“ sagte sie. „Ich hab’ aber kein Bett...“

„Das kriegen wir schon hin, Fee“, meinte Daniel liebevoll und lächelte seine Tochter aufmunternd an. „Ich fahre gleich los und hole es...“

Wie lieb er zu Morgaine war, und Morgaine hatte anscheinend vollstes Vertrauen zu ihm. Aber wusste Morgaine wirklich, ob Daniel gut für sie war? Rebekka beschloss, ihrer Tochter zu vertrauen. Seltsam, sie selber vertraute Daniel auch in dieser Beziehung. Er war nicht so wie ihr Vater, er würde Morgaine nie etwas zuleide tun. Was auch immer er ihr, Rebekka, angetan hatte, es hatte nichts mit seiner Liebe für Morgaine zu tun.

Ein Zimmer war noch frei, es schien ein wenig größer zu sein als die anderen, und es besaß auch eine interessantere Aufteilung. Rebekka hätte es sofort für sich ausgewählt, aber sie hatte nicht unverschämt sein wollen.

„Das ist zur freien Verfügung“, sagte Daniel. „Mal schauen, was wir draus machen... Aber jetzt müssen wir erst mal diesen Umzug über die Bühne bringen. Falls ich den Karl finde…“ Er schaute sich suchend um, aber der Helfer namens Karl wuselte eine Etage höher herum. „Macht’s euch in der Zwischenzeit gemütlich!“

Von wegen gemütlich, dachte Rebekka. Sie würde alles sofort in die Wandschränke räumen. Damit würde sie eine Weile beschäftigt sein und vielleicht nicht zum Denken kommen.

Aber gut, dass sie wenigstens keine Kleiderschränke kaufen musste!

 

© Ingrid Grote 2008/2010

 

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