TOPP, die Wette – Wie es
weiterging...1
EINLADUNG
„HIMMELLL!
Ich bin ja schon daaaaa!“
Irma
kommt gerade schwer bepackt vom Einkaufen, sie hat das Telefon schon von weitem
gehört, was für ein hartnäckiger Anrufer! Und wer zum Geier könnte das sein?
Jessi und Ralf sind immer noch verreist, und sonst fällt ihr auf Anhieb keiner
ein.
„Hallo
Irma“, sagt eine spöttische Männerstimme, und Irma stutzt, weil sie diese
Stimme kennt. Könnte es wirklich sein? Und woher hat er ihre Telefonnummer?
Natürlich steht sie im Telefonbuch, aber immer noch mit Exfreund Oliver
zusammen, obwohl sie mittlerweile den Anschluss auf ihren eigenen Namen
angemeldet hat.
„Wer ist
denn da?“ fragt sie vorsichtig, während sie nach Luft ringt, denn sie hat sich
ganz schön beeilen müssen, um ans Telefon zu kommen.
„Na, du
kennst mich doch!“ Wieder diese spöttische, aber dennoch wohlklingende Stimme.
Sie hat ihn natürlich sofort erkannt, aber das würde sie ihm gegenüber nie zugeben. Es ist tatsächlich Chris. Oh Überraschung! Oh Surprise!
„Oh, der
Urlauber“, sagt sie ganz gelassen, obwohl ihr Herz immer noch wie wild klopft,
aber das kommt wahrscheinlich vom Laufen. „Und wie war’s so?“
„Gefiel
mir richtig gut“, Chris räuspert sich. „Diese Insel hat recht nette Ecken.“
„Obwohl
sie rund ist?“ Irma kann sich diesen blöden Spruch nicht verkneifen, obwohl sie
immer noch total verblüfft über seinen Anruf ist. Mittlerweile ist es ja drei
Wochen her, seit sie mit ihm... Hat sich ganz schön Zeit gelassen, der
Blödmann, wollte sie bestimmt ein wenig quälen. Aber sie hat zum Glück kaum an
ihn gedacht...
„Ääähh
was? Ach so, hahaha...“, wieder räuspert er sich, bevor er sie übergangslos
fragt: „Du bist doch wohl nicht schwanger?“
WER?
WAS? ICH? Die heiße Sonne von Ibiza hat ihm wohl das Gehirn versengt. Jetzt ist
Irma richtig verblüfft, und sie muss überlegen.
Hmmm,
andererseits hat er sie auch nicht gefragt, ob sie irgendwie verhütet. Macht er
das immer so? Wie unvorsichtig! Das könnte schwer in die Hose gehen, falls er
mal an die Richtige, beziehungsweise Falsche kommt, Irma muss grinsen. Aber
nicht bei ihr, sie nimmt zwar nicht die Pille, aber sie lässt sich alle paar
Jahre eine Spirale einbauen, weil sie die Pille nicht verträgt und Depressionen
davon kriegt. Die blöde Spirale verschafft ihr zwar immer heftige Blutungen und
auch furchtbare Krämpfe während ihrer Periode, aber da muss man halt mit leben,
und bis jetzt hat es ja auch geklappt. Und dann kommt der auf einmal an und
fragt so einen Blödsinn. Als ob sie bekloppt wäre, oder es drauf angelegt
hätte!
„Nicht
dass ich wüsste!“ Sie bemüht sich, ihre Stimme locker und vor allem nicht sauer
klingen zu lassen. „Und wenn, dann wäre es ja wohl MEIN Problem!“ Oh, das war
vielleicht schon zu emotional, er soll nicht denken, dass er sie mit so einem
Mist auf die Palme bringen kann. Aber sie ist auf der Palme! Gütiger Himmel,
wenn sie schwanger wäre, dann würde der sich so schnell verdrücken wie ’ne
Ratte in die Kanalisation. Wäre ja auch nicht schwer, weil sie weder seinen
Nachnamen, geschweige denn seine Telefonnummer weiß.
„Gut“,
meint er irgendwie nachdenklich, und seine Stimme hört sich fast bedauernd an.
Irma hat
keine Lust, noch was zu dem Thema zu sagen, denn das Gespräch erinnert sie an
die Nacht mit ihm, und auf die will er ja wohl anspielen. Da ist er wohl mächtig
stolz drauf, dass er sie ins Bett gekriegt hat, genauer gesagt IM Bett gekriegt
hat. Aber das hat überhaupt nichts zu bedeuten.
„Was
meinst du Irma, hast du Lust, bei mir vorbeizukommen? Ich bin gerade in der
Badewanne, und du könntest doch dazu steigen...“
„Hmmm...“
Wieder so eine Unverschämtheit vom ihm. Irma hält sich vorsichtshalber die Hand
vor den Mund, denn sie befürchtet, ihr könnte sonst eine Beleidigung
entwischen. Sie will sich aber nicht von ihm provozieren lassen, also überlegt
sie angestrengt.
Ist
eigentlich ein verlockender Gedanke.
„Aber
ich bin mit meiner Freundin verabredet.“ Freie Erfindung, aber er soll nicht
denken, sie hätte am Freitagabend keine Termine.
„Ich
wohne in der Ahornstraße Nummer sieben.“ Er wischt ihren Einwand total locker
weg. „Du schellst bei Maiwald, es ist die mittlere Schelle, oben wohnt noch ein
anderer Maiwald. Und du fährst am besten über die Stadtautobahn.“
„Ich
glaube, ich weiß, wo die...“
„Nimm
die Ausfahrt Frohnheim! Und dann fährst du direkt links in die Ahornstraße. Es
ist ein ziemliches altes Haus.“ Chris lässt sie gar nicht erst ausreden.
Mann,
ist der dominant!
„Gut,
ich komme.“ Irma weiß selber nicht, wie diese Worte ihren Mund verlassen
konnten, denn eigentlich will sie doch gar nicht. Oder etwa doch? Jedenfalls
muss sie verrückt sein, wenn sie sich auf diesen Typen einlässt. Aber er reizt
sie. Sie will wissen, ob er immer noch so attraktiv aussieht, wie sie ihn in
Erinnerung hat. Manchmal kann man sich ja täuschen, und das Objekt der Begierde
entpuppt sich beim zweiten Treffen als totaler Blindgänger. Obwohl es jetzt ja
schon das dritte Treffen wäre...
Er teilt
ihr seine Telefonnummer mit, und Irma schreibt sie in ihr kleines rotes
Adressbüchlein, wo alle ihre Liebhaber – na ja, so viele sind es nicht –
aufgeführt sind.
Und von
wegen Dazusteigen in seine göttliche Badewanne, das kann er sich abschminken.
Sie wird erst da sein, wenn das Wasser schon kalt ist. Sehr sehr kalt ist...
~~~~~~~~~~~
Keine
zwei Stunden später fährt sie in Richtung Frohnheim. Und während der Fahrt
grübelt sie darüber nach, wie es wohl ablaufen wird und worauf sie achten muss.
Sie darf
ihn um nichts bitten, das ist klar, sonst kriegt sie nämlich sofort wieder eine
Abfuhr. Sie hat sogar ein paar Zigaretten dabei für den Ernstfall – und zwei
Feuerzeuge. Das müsste reichen, sie raucht ja nicht viel, fast gar nichts, aber
es könnte ja mal passieren. Was zu trinken wird er ihr wohl anbieten, sie hat
nämlich keine Lust, ihren eigenen Wein auch noch mitzuschleppen. Und bei ihr hat
er sich ja auch durchgefressen und durchgesoffen.
Sie hat
genug Geld eingesteckt, und außerdem trägt sie nichts bei sich, was darauf
hindeuten könnte, sie wollte die Nacht bei ihm, beziehungsweise mit ihm
verbringen. In ihr winziges Handtäschchen passt gerade mal ein Taschentuch
hinein, und das müsste auch der Blödeste erkennen. Okay, Chris ist nicht blöde,
ganz im Gegenteil, und deswegen muss man ihn von vorneherein austricksen.
Irma lächelt
spöttisch vor sich hin, während sie auf die relativ leere Stadtautobahn
abbiegt.
Das
Verdeck ihres uralten Cabrios ist aufgeklappt, denn das schöne Wetter hält
immer noch an. Sie ist hübsch kaffeebraun geworden, sie trägt ein schwarzes
ärmelloses T-Shirt, das ihre Arme wunderbar zur Geltung bringt und dazu eine
naturfarbene Leinenhose. Ihre Fußnägel sind dezent hellrosa lackiert, ihre Füße
stecken in schlichten schwarzen Sandalen Und im Karmann liegt ein blaues
Jeanshemd, falls es abends kühler werden sollte.
Sie ist
froh darüber, dass sie dieses uralte Cabrio besitzt, es wird ihm zeigen, dass
sie kein armes Mädchen ist. Irma grübelt weiter: Viele Männer lieben ja arme
Mädchen. Es schmeichelt ihrem Ego, wenn sie die Kohle haben und bestimmen
können, wo’s langgeht. Aber nein, der ist zu geizig dafür! Aber es könnte ja
sein, dass er nur ihr gegenüber so geizig ist, und vielleicht schmeißt er sonst
das Geld massenhaft für Frauen raus. Aber eigentlich glaubt sie das nicht. Er
ist geizig! Oder eher sparsam? Na, wen juckt’s, sie ist kein armes Mädchen und
kann sich selber ein Bier und ein Auto leisten.
Chris’
Wegbeschreibung ist gut, und sie findet auf Anhieb die Straße, in der er wohnt.
Hahaha, the street where you live...
Es ist
eine ruhige Straße, obwohl sie fast schon in der Innenstadt liegt, es gibt
viele freie Parkplätze – die Anwohner sind bestimmt alle ins Grüne gefahren –
und sie kann in Ruhe nach der Hausnummer sieben Ausschau halten. Altes Haus,
hat er gesagt.
Es gibt
nur ein älteres Haus auf der ungeraden Seite, und das ist fast schon eine
Villa, bisschen heruntergekommen vielleicht, aber stattlich, wirklich
stattlich. Automatisch muss sie an Chris’ Körper denken, der absolut nicht dick
war, aber überaus stattlich! Und gut ausgestattet war er auch... Leider muss
sie auch an Felipes monströses Teil denken, und sie wird etwas rot. Wie konnte
sie sich nur auf so was einlassen.
Irma
kann direkt vor dem Haus parken, sie steigt aus und will ihr Verdeck schließen,
denn möglicherweise gibt es Perverse, die ihren alten CD-Player samt CDs klauen
könnten. Ist zwar unwahrscheinlich, aber könnte ja sein.
„Hey
Irma“, hört sie von oben eine Stimme, und sie blickt hoch.
Chris
steht auf einem verschnörkelten großen Balkon und zieht sich gerade ein Hemd
an. Er sieht toll aus, jedenfalls von weitem.
„Fahr’
in die Einfahrt, dann kannst du das Verdeck offen lassen.“ Chris deutet mit der
Hand nach rechts.
„Okay.“
Irma nickt, steigt wieder ein und fährt in die Einfahrt, die sehr lang ist. Er
hat Recht, hier ist es wohl sicherer. Und sie hat vergessen, wie saugut er
aussieht. Nein Quatsch, hat sie natürlich nicht, so was kann man nicht
vergessen, höchstens verdrängen.
Er steht
mittlerweile unten in der Haustür und gibt ihr wieder diesen obligatorischen
Kuss auf die Stirn, und sie nimmt den Kuss gleichgültig in Empfang, denn das
macht er bestimmt bei jeder Frau.
Schöner
Hausflur, alte Fliesen auf dem Boden, weiß gestrichenes geschnitztes
Treppengeländer, Jugendstil halt.
Seine
Wohnung liegt im ersten Stock. Anscheinend gibt es nur drei Wohnungen in diesem
Haus. Unten auf den Schellen haben nämlich nur drei Namen gestanden, unter
anderem Maibach und Christopher Maibach, das ist dann wohl Chris. Wer mag wohl
der andere Maibach sein? Ein Verwandter?
Es gibt
keine typische deutsche Diele in dieser Wohnung, sondern es geht wie in
amerikanischen Fernsehserien sofort in einen großen Raum. In diesem Raum steht
nicht viel drin außer einem Schreibtisch, der ziemlich antik aussieht, einem
großen braunen Ledersofa – Gott sei Dank ist das Leder nicht glatt, sondern
sieht angeraut und warm aus – einem kleinen Tisch davor und einem Fernseher. An
zwei Wänden des Raumes befinden sich alufarbene transparente Regale (IKEA?),
die vollgestopft sind mit Büchern, Aktenordnern und Zeitschriften, und auf der
freien Wand hängt ein Druck von Degas’ Balletttänzerin. Irma steht ja
eigentlich mehr auf die Expressionisten, aber Degas ist auch ganz nett. War er
überhaupt Impressionist? Dieses Licht deutet zwar drauf hin, aber sie meint
gelesen zu haben, dass er alles im Atelier gemalt hat und nicht draußen in der
Natur.
Und es
gibt zwei Türen in diesem Raum, die wohl irgendwohin führen. In die Küche
vielleicht. Oder ins Schlafzimmer...
Chris’
Anlage ist nicht so übertrieben wie die der meisten Männer, die sie kennt. Und
dabei muss sie besonders an Bernie denken, der hatte Boxen so groß wie
Wandschränke. Kann es sein, dass die Liebeskunst der Männer proportional mit
der Größe der Boxen im Zusammenhang steht? Je größer die Boxen, desto
schlechter ist ein Kerl im Bett? Könnte stimmen.
Ein
interessantes Cover liegt auf dem Boden vor dem CD-Regal. Eine ziemlich
expressionistische papageienbunte Frau ist darauf zu sehen. Irma nimmt das
Cover in die Hand und liest den Namen der Band.
Es
handelt sich zu ihrem großen Erstaunen um ‚the The’. Es ist das erste Mal, dass
sie das Originalcover sieht, denn sie hat die Musik ja nur als MP3, aufgenommen
von ihrem Freund Ralf.
„Du hast
dir ‚the The’ gekauft?“
„Klar
doch!“ meint Chris und lächelt.
Er hat
sich ‚the The’ gekauft! Irma ist schwer beeindruckt, denn er hat es bei ihr zum
ersten Mal gehört, dieses Album. Es stammt aus den 80er Jahren und war nie so
richtig bekannt.
Der
Fernseher läuft. Er hat wohl Leichtathletik geguckt, bestimmt die Olympiade.
Hat sie letztens auch geguckt, und zwar Turmspringen. Ihre Freundin Susanne war
da, und man amüsierte sich köstlich über die Profile der Turmspringer in ihren
Badehosen...
DIE SPIELE
Nun
denn, die Spiele sind eröffnet!
Irma setzt
sich auf das braune Sofa aus Büffelleder – zumindest hält sie es für
Büffelleder – und es fühlt sich gut an, nicht so ekelhaft rutschig wie der
Barhocker im Café Klack an diesem entsetzlichen Abend mit Felipe. Was hat sie
sich eigentlich dabei gedacht? Gar nix wahrscheinlich. Und sie fühlt sich
erleichtert, weil nichts passiert ist. Nichts passiert? Von wegen, es ist viel
zuviel passiert, und sie hat irgendwie ein schlechtes Gewissen, aber nur sich
selber gegenüber, mit Chris hat das nichts zu tun, der hat keinerlei Ansprüche
auf sie.
Chris
setzt sich in gebührendem Abstand neben sie. Auf dem Tisch stehen eine Flasche
Cola, eine Flasche Rotwein und Gläser. Rotwein wäre zwar gut, aber sie nimmt
sich von der Cola, es ist besser, nüchtern zu bleiben.
Im TV
ist gerade Hammerwerfen angesagt. Der eklig muskulöse ungarische Werfer
schleudert den Hammer mit einem Urschrei aus dem Käfig heraus und erzielt wohl
eine echt gute Weite, was den dämlichen Sportreporter dazu bewegt, mit
begeisterter Stimme und rollendem ‚RR’ von sich zu geben:
„DAS
WARR EIN IRRE WEITERR WURFF, ERR KÖNNTE DAMIT DIE FÜÜHRRUNG ÜBERRNEHMEN. DAS
IST TRRADITION! JA, UNGARRN WARR IMMERR SCHON EINE HAMMERRWERRFER-NATION!“
Irma
blickt Chris an. Und er blickt sie auch an. Sein Blick ist seltsam, er schaut
sie an, als wolle er sie prüfen. Aber das macht ihr gar nichts aus, sie hat ja
nichts zu verlieren.
„Was
meinst du, Chris? Geht man in Ungarn nach Feierabend immer in den Park und
wirft ein paar Hämmer? Oh, ist Hämmer eigentlich die Mehrzahl von Hammer?“
„Weißt
du was, Irma? Ich glaube, ich habe dich vermisst“, er grinst bei diesen Worten,
und natürlich ist es eine Lüge. Es ist sonnenklar eine Lüge.
„Meinst
du mich oder vielleicht Teile von mir?“ Irma hofft, dass er ihr jetzt keine
patzige Antwort gibt, so was in der Art von: Wie kommst du darauf, dass so
einer wie ich so etwas wie dich – und seien es auch nur Teile von dir – in
irgendeiner Art und Weise vermisst hat?
Sie muss mehr aufpassen, sonst legt er sie herein. Und vielleicht hat sie sich schon zu weit aus dem Fenster gelehnt.
„Genau
das habe ich vermisst.“ Er lächelt irgendwie heimtückisch.
Wie hat
er das gemeint? Ist das jetzt eine Finte, um sie in Sicherheit zu wiegen? Sie
stellt ihm jede Menge Fragen, und er beantwortet sie gar nicht richtig, der
Blödmann! Und was will er überhaupt von ihr?
Jedenfalls
macht er keinerlei Anstalten, sie irgendwie zu berühren und seien es auch nur
ihre primären sexuellen Zonen. Warum ist sie eigentlich hier? Ha, noch mehr
Fragen... Er will doch gar nichts von ihr.
Sie
gucken weiter Fernsehen, und die Entfernung zwischen ihnen verringert sich
nicht. Aber es ist lustig. Chris ist nicht so ein Ochse wie ihr Ex Oliver, der
ihre Witze nicht verstand, und sie muss nicht durch Alkohol auf Touren kommen,
um wie bei Olivers Freund Bernie überhaupt eine zweifelhafte Verständigung
herzustellen. Der erzählte ihr tatsächlich nach dem Beischlaf von
transzendentaler Meditation. Er hatte tatsächlich schon mal einen fliegen
sehen. So einen seltsamen Yogi, der sich ein paar Zentimeter in die Luft
erheben konnte. Na und wenn schon!
Irma
kann es nicht verhindern, dass sie auflacht, und Chris, nein er heißt ja
Christopher, blickt sie erstaunt an.
„Hast du
schon mal einen fliegen sehen?“ fragt sie ihn. Oh je, noch eine Frage. Chris
muss sie ja für unheimlich neugierig halten.
Er
schüttelt den Kopf und muss lachen, anscheinend weiß er, was sie meint. „Nein,
und das ist doch albern“, sagt er. „Wenn ich fliegen will, dann bevorzuge ich
ein Flugzeug…“
„Gott
sei Dank!“ Irma atmet erleichtert auf. Wenigstens hat er keine spirituellen
Neigungen, egal was man sonst über ihn denken mag.
Es ist
fast so witzig wie mit ihrer Freundin, nein es ist besser als mit ihrer
Freundin. Sex hängt in der Luft, Chris sieht so hinreißend aus, dass sie ihn
berühren will. Ihre Augen hängen unauffällig an seinem Mund, sein Mund sieht
wunderschön aus, so ausdrucksvoll und so sensibel... Kicher! Der und sensibel!
Der ist doch nur sensibel, wenn’s drum geht, eine Frau ins Bett zu kriegen. Er
trägt eine enge Jeans und dieses weiche tiefblaue Hemd darüber. Seine Haare
sind ein wenig ausgebleicht von der Sonne, sie sind leicht lockig und nicht
mehr so lang wie vor drei Wochen. Aber seine weiße Strähne sieht immer noch
genauso affig und sexy aus, und sie möchte ihm gerne übers Haar streicheln,
aber natürlich gibt sie diesem Verlangen nicht nach. Das wäre ein gefundenes
Fressen für ihn.
„Wie
kommst du eigentlich mit deinem guten Aussehen klar?“ Oh nein! Aber sie kann
sich die Frage nicht verkneifen. Und es ist ja nicht verkehrt, er weiß, dass er
gut aussieht, und er weiß, was für eine Wirkung er auf Frauen hat.
„Ganz
gut, denke ich“, sagt er amüsiert und schaut sie wieder so seltsam prüfend an.
„Warum
frage ich überhaupt?“ Irma muss lachen. Und was soll der ganze Scheiß
eigentlich? Berühren will er sie nicht, die Hoffung hat sie sich mittlerweile
abgeschminkt. Und sie selber wagt es nicht, ihn zu berühren, weil sie Angst vor
einer Abfuhr hat. Vielleicht macht er sich einen Spaß daraus, will sie zu
irgendwas provozieren. Aber darauf kann er lange warten.
Stattdessen
schlägt er vor, einen trinken zu gehen. In ein Lokal, das nicht weit und auch
ganz nett wäre.
Na
super! Was soll das? Will er sie nur demütigen, indem er ihr sein Nichtinteresse
so deutlich zeigt? Wäre ihm zuzutrauen.
~~~~~~~~~~~
Sie
hätte natürlich nach Hause fahren können. Aber nein, sie tut es nicht,
stattdessen geht sie mit, und sie schlendern langsam – selbstverständlich weit
auseinander – die Straße entlang in Richtung Innenstadt. Und wieder kommt er
ihr so unheimlich groß vor.
„Und wie
war’s sonst noch im Urlaub?“ fragt sie schließlich. Natürlich interessiert sie
das nicht wirklich, ist nur ’ne reine Höflichkeitsfrage. Sie will schließlich
nicht wissen, wie viele Frauen er angemacht und mit wie vielen er gepennt hat.
„Es war
okay. Die Unterwasserwelt dort ist ziemlich eindrucksvoll“, berichtet Chris
steif und gewissenhaft, und es hört sich tatsächlich an, als ob ein Lehrer
seinen Schülern einen Vortrag hält.
„Toll!
Und die Überwasserwelt?“ Irma muss ein Kichern unterdrücken.
„Na, die
war auch ganz nett, vor allem die Sonnenuntergänge“, sagt Chris nach einem
leichten Zögern. Und er sieht sie dabei an, als würde er ihr gleich an die
Gurgel gehen, sauer und aufgebracht irgendwie. Anscheinend will er nicht über
die Überwasserwelt sprechen. Und warum kann sie sich ihre blöden Fragen nicht
einfach verkneifen? Antwort: Weil es ihr Spaß macht, wahnsinnig viel Spaß
macht, und vor allem, wenn sie ihn so provozieren kann wie jetzt. Und irgendwas
muss mit der Überwasserwelt gewesen sein, aber was? Das wird sie wohl nie
erfahren. Schade... Sie schaut ihn verstohlen von der Seite her an, aber
anscheinend hat er sich wieder eingekriegt, und er sieht so gelassen und hochnäsig
aus wie immer.
Es dauert wirklich nur ein paar Minuten, bis sie da sind. Bei dem Laden handelt es sich um eine Art Irish Pub, und er heißt ‚Limerick’.
„An die
Theke?“ Chris’ Stimme ist anzumerken, dass er gerne an die Theke möchte und nur
aus Höflichkeit fragt.
„Ich liebe Theken!“ Gott sei Dank will er an die Theke! Das ist gut, denn an einem Tisch mit ihm zu sitzen, womöglich noch gegenüber, das hätte sie schwerlich ertragen können. Auge in Auge mit ihm, allein die Vorstellung... Nee danke! Das ist nur was für frisch verliebte Pärchen, die Theke ist besser, viel neutraler, und man hat mehr Abwechslung.
Es sind
nicht viele Leute da, und es scheint ein netter Laden zu sein. Er ähnelt sehr
Irmas Stammlokal, dem E-body. Die Theke ist lang, und auf den gepolsterten
Barhockern mit ihren hohen weichen Lehnen kann man bestimmt stundenlang
gemütlich sitzen.
Irma
bestellt sich einen Kaffee und studiert die Speisenkarte. Chris steht neben ihr
und bestellt sich ein Bier. Und natürlich hat Irma ihren eigenen Deckel, auf
dem alles aufgeschrieben wird.
Chris
unterhält sich mit dem Typen, der hinter der Theke steht. Und Irma studiert
immer noch die Speisenkarte, die ihr irgendwie bekannt vorkommt. Die sieht fast
aus wie die im E-body, ihrer Stammkneipe.
Irma
fühlt sich absolut nicht vernachlässigt, sie kennt sich aus mit dem
Kneipenleben, sie weiß, dass Männer sich in einer Kneipe anders benehmen als zu
Hause. Sie weiß das aus langjähriger Erfahrung. Und deswegen findet sie es auch
normal, dass Chris sie ein wenig ignoriert. Aber es hält sich in Grenzen, das
Ignorieren – ab und zu schaut er sie an, fragt ob sie Hunger hat, und empfiehlt
ihr schließlich die Spaghetti.
Okay,
sie wird ihm mal vertrauen, und sie bestellt die Spaghetti.
„Ja aber hallo! Wer ist denn das!“ Irma dreht sich erstaunt um und erblickt hinter sich Karel, den Wirt vom E-body. Was treibt der denn hier? Irma überlegt und kommt zu dem Schluss: Karel besucht öfter andere Kneipen, um sich die Konkurrenz anzuschauen.
„Irma
heiße ich...“ Sie muss lachen.
„Hallo
Irma“, sagt er und grinst sie an. „Was treibst du denn hier? Bist du zur
Konkurrenz übergelaufen?“
„Nöö,
nicht wirklich... Und du, mein Lieblingswirt? Solltest du nicht in deinem
eigenen Laden sein?“
„Ich
wollte meine Exfrau sprechen...“
„Wie
denn, was denn?“
Es
stellt sich heraus: Das Limerick gehört Karels Exfrau. Und Irma weiß jetzt,
warum ihr diese Kneipe so bekannt vorkommt, sie hat das gleiche gemütliche
Konzept und auch fast die gleiche Speisenkarte wie das E-body. Aber Karels
Exfrau scheint nicht da zu sein.
„Und du?
Hast du den Sack jetzt endgültig abgeschossen?“
Was
meint er damit? Oh je, er meint Exfreund Oliver. Diese Frage macht Irma ein
wenig verlegen, und hoffentlich hat Chris nichts davon mitgekriegt, aber der
hat es wahrscheinlich doch mitgekriegt, denn er steht nur einen halben Meter
neben ihr. Und sie spürt, wie er sie von der Seite her anschaut. Grinsend
wahrscheinlich...
Also
lächelt sie nichtssagend, wäre ja noch schöner, wenn sie ihr Privatleben hier
ausbreiten würde. Das geht keinen was an. „Wir haben uns gütlich geeinigt...“
Wow, das hört sich gut an. Gütlich klingt so wie gut, aber besser. Mehr so wie
Güte...
„Sie hat
meine ganze Speisenkarte übernommen, bis auf das Eibrot à la Bibi...“ Gott sei
Dank wird Karel durch die Speisenkarte abgelenkt. Natürlich meint er mit ‚sie’
seine Exfrau, und Irma atmet erleichtert auf, denn sie hat keine Lust, sich mit
Karel über ihren Ex zu unterhalten. Jedenfalls nicht, solange Chris in der Nähe
ist.
Zum
Glück werden die Spagetti gerade serviert, und sie kann sich damit
beschäftigen. Ging ja echt schnell, bestimmt werden die nur kurz aufgewärmt,
aber trotzdem schmecken sie gut, und hoffentlich schlürft sie die Nudeln nicht
zu auffällig...
Kaum ist
Karel weg – er ist so unstet, muss immer irgendwohin und kann nirgendwo Ruhe
finden – erscheint seine Exfrau. Irma kennt sie ein bisschen, aber natürlich
lange nicht so gut wie die blonde Schwedin Maja, Karels jetzige Frau. Maja ist
ein Engel, sie ist wunderschön und kommt Irma ein wenig vor wie eine
Erntegöttin mit ihrem üppigen blonden Zopf und ihrem ausgeglichenen Wesen.
Manchmal wünscht Irma sich, so ausgeglichen zu sein wie Maja, aber das wird
bestimmt noch ’ne Weile dauern. Falls sie es überhaupt jemals schafft.
Karels
Exfrau Regina ist ein Biest, einwandfrei! Aber Irma ist froh, dass sich
überhaupt jemand mit ihr unterhält. Mit Chris geht es ja nicht, denn der
knobelt mit ein paar Leuten. Man spielt Bahrenbeck, das ist ein ziemlich
langweiliges Würfelspiel, wie Irma findet. Schocken ist viel besser, das sollte
sie Chris mal beibringen. Natürlich nur, wenn sie ihn noch mal treffen wird,
aber so wie das jetzige Treffen läuft, besteht da wohl kaum Aussicht.
Jedenfalls
unterhält sie sich ganz gut mit der Wirtin Regina, also mit Karels Exfrau.
Zuerst über Karel. Ob er glücklich mit der neuen Frau ist, fragt die Wirtin.
Irma bejaht das, und Regina guckt ein wenig verärgert drein. Dann beugt sie
sich über die Theke und fragt Irma leise: „Bist du mit Chris hier?“
Irma
schaut sie erstaunt an und sagt dann genauso leise: „Ich weiß nicht so genau.
Aber ich war mit ihm verabredet. Irgendwie...“
„Wow,
das ist doch schon was!“ Karels Exfrau schaut sie bewundernd an. „Normalerweise
hat der nie ’ne Frau dabei, der ist immer solo...“
„Echt?“
Irma kann das gar nicht glauben.
„Die
Frauen schleppt er jedenfalls woanders ab...“ Ihre Unterhaltung spielt sich nun
im Flüsterton ab, weil Chris nichts davon mitkriegen soll.
„Abschleppen
kann er bestimmt gut“, sagt Irma leicht säuerlich. Das Gespräch nimmt einen
Verlauf, der ihr nicht gefällt.
„Und er
soll wahnsinnig gut im Bett sein...“
„Tatsächlich?“
Das wird ja immer peinlicher. Vor Irmas geistigem Auge erscheint eine endlose
Reihe von Frauen, die Chris schon beglückt hat und vielleicht immer noch
beglückt. Das ist kein schöner Anblick. Und außerdem geht das niemanden was an,
wie Chris im Bett ist. Außer natürlich alle, die schon im Bett mit ihm waren...
Shit aber auch!
„Ich
hörte davon, dass er nie eine mit zu sich nach Hause nimmt...“ Reginas Blick
nimmt etwas neugierig Lauerndes an.
„Ist
nicht wahr...“ sagt Irma und tut sehr erstaunt. Sie hält es für besser, nicht
zuzugeben, dass sie eben noch bei Chris zu Hause war. Und was redet die da
überhaupt? Warum sollte Chris nie eine Frau mit zu sich nach Hause nehmen, das
ist doch totaler Quatsch! Und dieses Gespräch behagt ihr sowieso nicht, es
ist... unangenehm. Sie mag diese Frau nicht. Vielleicht hat die ja selber schon
mit Chris gepennt, so schlau wie sie redet. Irma atmet erleichtert auf, als es
voller wird und die Wirtin sich auch um andere Gäste kümmern muss.
~~~~~~~~~~~
AB, AB AND AWAY...
Irgendein
Typ quatscht Irma von hinten an, sie reagiert zwar nett, aber unnahbar. Sie
will sich heute anständig benehmen, nämlich wie eine Dame, verdammt noch mal!
Wenig
später testet sie das Klo an. Heiliger Strohsack, was ist denn das für eine
Katakombe, da sollte man besser im Stehen pinkeln...
„Das
Damenklo ist unter aller Sau“, sagt sie zu Chris.
„Die
Männerklos stehen auch ständig unter Scheiße“, meint der.
„Ach
nee, die Männer haben mehrere Klos? Das ist ja echt ’ne Diskriminierung!“
Er lacht
und knobelt dann weiter.
Irma
gerät in eine gewisse Trance. Es ist schön, das Klacken der Knobelbecher auf der
Theke zu hören, es gehört zu der Männerwelt, die sie mag, zumindest ab und zu.
Und sie kann dabei so herrlich nachdenken, nur kommt sie im Moment zu keinem
Ergebnis. Aber es ist schön, einfach nur hier zu sitzen, in die Kaffeetasse zu
schauen und darüber zu rätseln, was sie überhaupt hier tut.
Ab und
zu unterhält sie sich mit Chris, es geschieht natürlich nur während der
Knobelpausen. Sie reden über die Schule, in der er unterrichtet und wie er mit
den Kids klarkommt. Er kommt gut damit klar, und das wundert Irma überhaupt
nicht. Er hat ja so eine angeborene Autorität und kann sich bestimmt Respekt
verschaffen.
Aber
allmählich wird es ihr zu langweilig, was soll das hier? Will er sie testen?
Aber warum, wozu? Am liebsten möchte sie gehen, sie tut es nur nicht, weil sie
Angst hat, im Dunkeln den Weg nicht mehr zurück zu finden. Kannst ja jemanden
fragen, meldet sich ihr Verstand. Ach nee, bist du schlau, zischt sie zurück.
„Komm,
wir gehen,“ sagt Chris just in diesem Augenblick zu ihr,
Na
endlich! Sie bezahlt schnell ihren Deckel, denn er soll nicht denken, er müsse
ihr was ausgeben.
Sie
schlendern zurück zu Chris’ Wohnung. Irma ist sehr schweigsam, sie fühlt sich
verarscht, und sie geht schnurstracks in die Einfahrt, in der ihr Auto steht.
„Na dann Tschüss“, sagt sie zu Chris.
„So
kommst du mir nicht davon!“ Chris Arm zieht sie weg von ihrem Auto und hin zum
Haus.
„HEY!“
protestiert sie.
Er zieht
sie trotz ihres Protestes die Treppe hoch, sie glaubt, ihr Protest ist auch
nicht ganz ernst gemeint, er schubst sie in das große Zimmer und meint
beiläufig zu ihr: „Ich hatte dir bei unserer ersten Begegnung doch was
versprochen…“
„Was
meinst du?“ Irma schaut ihn mit großen Augen an. Und dann fällt es ihr
schlagartig wieder ein. „Ich werde dich lecken, bis du mich anflehst…’
Aua!
Aber eigentlich eine verlockende Vorstellung.
Irgendwie
geht es durch eine Tür, und sie landet auf einem breiten Bett. Das ist bestimmt
seine Spielwiese.
Er zieht
sie unaufhaltsam aus, und sie glaubt, sie hilft ihm dabei, bis sie schließlich
nackt auf dem Bett liegt und vage überlegt, wie schnell das gegangen ist.
Auch er
ist nackt. Und wieder muss sie seinen Körper bewundern. Aber nicht lange, denn
seine Blicke machen sie überaus nervös, und sie starrt ihm atemlos ins Gesicht.
Und dann machen seine Hände sie nervös, sie sind auf ihren Brüsten, wie zart
und quälend, und dann sind es seine Lippen, die irgendwo... sind, und das
verschafft ihr einen ersten Vorgeschmack auf das, was vielleicht kommen mag.
Ab da
schaltet Irma geistig ab. Auch ihr ach so schlauer Verstand, der sonst bei
solchen Gelegenheiten immer lästig dazwischenfunkt, kann sie nicht erreichen.
Und das ist gut so!
Sie weiß nur noch, dass Chris sie hinhält, bis sie ihn anfleht, mehr als die Innenseite ihrer Schenkel zu küssen, und sie weiß auch, dass er nachfragt: Willst du das wirklich? Was sagt sie darauf? Irgendwas blödes, wie eigentlich will ich nach Hause, aber sie stöhnt dabei. Und er hält sie spielerisch von sich weg, was sie wieder zum Stöhnen bringt, bis sie verlangt, tu es, tu es doch endlich, du... Idiot!
Und dann
tut er es endlich. Und sie windet sich unter ihm. Oh Gott! Er hat es drauf!
Irma will näher an seinem Mund sein. Noch näher. Er soll sie verschlingen,
dieser wunderbare Mund.
Und
später liegt sie atemlos da und kann es nicht glauben. So schnell hat er das
geschafft? Ein Wildfremder? Das kann einfach nicht wahr sein! Und sie hat noch
nicht genug. Sie will mehr, will ihn spüren...
Willst
du immer noch nach Hause? Seine Stimme klingt wie gewohnt leicht spöttisch,
aber auch erregt. Nein ich will nicht nach Hause, ich will, ich will...
Oh Gott,
er ist so dominierend, und sie findet es herrlich. Also hält sie still, als
wäre sie ein Gefäß, das gefüllt wird, und gerade das verschafft ihr großes
Vergnügen. Seltsam. Warum? Keine Ahnung.
Und
wieder passiert es. Unaufhaltsam driftet sie ab, sie kann es nicht steuern, es
passiert einfach. Und sie will sich nicht wehren, nein, sie will es zulassen,
Also lässt sie es zu und klammert sich irgendwie irgendwo an ihm fest, während
es passiert...
Als sie
wieder zu sich kommt, macht sie sich ernsthafte Gedanken. Vor drei Wochen
meinte sie noch, sie wäre eigentlich schwer erregbar und mit den meisten
Männern würde bei ihr gar nichts gehen. Was für ein Irrtum! Aber vorgeschwebt
hat es ihr immer schon, die totale Ekstase ohne sentimentale Gefühle. Einfach
nur sich fallen lassen und bumsen. Mit Felipe ging es nicht, obwohl er doch
viel netter als Chris war, aber Chris scheint genau der Richtige für solche
Aktionen zu sein.
Und es
ist so herrlich, nicht denken zu müssen, nicht agieren zu müssen und ihm die
ganze Initiative zu überlassen. Bei Oliver musste sie immer alles alleine
machen in den letzten Jahren. Das war nicht sehr befriedigend und hat sie
ziemlich angekotzt, aber es war wohl Olivers Art, sie zu demütigen, und genau
deshalb findet sie Chris’ Dominanz so wunderbar. Zumindest im Augenblick.
Ob er
ihr irgendwann einmal die Kontrolle überlassen wird? Ob sie ihn noch einmal treffen
wird? Fragen über Fragen... Mit ihm würde es Spaß machen, obwohl sie ihn doch
gar nicht ausstehen kann.
Als er
kurz darauf kommt, ächzt er, er gibt auch ein paar hellere Töne von sich wie
ein kleiner Junge. Und sie kann ihm endlich dabei ins Gesicht schauen. Er sieht
verletzlich und hilflos aus. Aber während sie ihm ins Gesicht starrt, stellt
sie fest, dass er irgendwie auch besorgt aussieht, nein das ist untertrieben,
er sieht entsetzt aus. Was passiert da mit ihm? Egal, seine übliche Arroganz ist
weg, und in diesem Moment mag sie ihn. Das wird sich natürlich wieder ändern,
aber jetzt würde sie am liebsten zärtlich seinen Mund küssen und ihm die Locken
aus der Stirn streichen. Natürlich tut sie es nicht, sie ist ja schließlich
nicht irre. Allein die Vorstellung, wie er sie hämisch angrinsen würde... Nein
danke, nicht mit ihr!
Am
nächsten Morgen nach einer Nacht, in der Irma die letzten fünf Stunden
fantastisch erschöpft geschlafen hat, klettert sie unauffällig aus dem Bett.
Sie vermeidet es, Chris dabei zu berühren, sie sammelt ihre herumliegenden
Sachen ein und zieht sich leise in dem großen Raum an.
Sie
erinnert sich an eine andere Nacht bei einem anderen Kerl, dem Freund von ihrem
Ex, da war die Haustür abgeschlossen gewesen, peinlich peinlich, sie musste
noch mal zurückgehen und anschellen. Und deswegen stellt sie jetzt ein Kissen
zwischen Tür und Angel und geht erst einmal gucken, doch diese Haustür ist zum
Glück nicht abgeschlossen. Sie zieht oben leise die Wohnungstür zu, verlässt
das Haus und steigt in ihr Auto.
Es ist
kalt an diesem Morgen, und sie streift ihr blaues Jeanshemd über, weil sie
keine Lust hat, das Verdeck zuzumachen. Während sie den Motor startet, denkt
sie nach. Es war so gemütlich in seinem Bett. Warum ist sie eigentlich gegangen?
Antwort:
Sie wollte nicht neben ihm aufwachen. Sie wird keinem auf der Pelle hängen, und
ihm erst recht nicht. Miteinander schlafen ist okay, Kneipenbesuche auch, und
eine Nacht in der Woche sollte reichen. Falls er sich überhaupt noch mal bei ihr
meldet. Sie selber hat nämlich nicht vor, ihm nachzulaufen, das ist sie ihrer
Ehre schuldig. Ehre? Automatisch muss sie an Felipe denken. Sie schneidet eine
Grimasse, während ihre Haare im Fahrtwind flattern und ihre Ohren sich kalt
anfühlen. Ausgerechnet sie denkt an Ehre? Sie hat bestimmt genauso wenig Ehre
wie Christopher. Da passen sie ja gut zusammen!
Und auf
einmal weiß sie, dass er sich wieder bei ihr melden wird. Er ist scharf auf
sie, sie hat zwar keine Ahnung warum, aber er ist es. Und er weiß natürlich
auch, dass SIE scharf auf ihn ist. Das ist ihm bestimmt nicht verborgen
geblieben, Irma muss lächeln. Also unentschieden...
Trotzdem
ist es verlockend, an sein gemütliches Bett zu denken, es ist bestimmt viel
gemütlicher als das, was sie an diesem Samstag noch erwartet. Sie wird bestimmt
furchtbar öde und langweilig sein, die bescheuerte Grillparty von einer
bescheuerten Freundin an einem bescheuerten Fluss. Öchzzzz...
~~~~~~~~~~~
Chris wacht auf, und er fühlt sich
saumäßig gut, nämlich überaus befriedigt und doch noch nicht satt.
Er kann es noch! Er hat
tatsächlich seine Potenz wiedererlangt. Und WIE... Unwillkürlich grinst er in
sich hinein. Das im Urlaub ist nur ein Ausrutscher gewesen, kann ja mal
passieren, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.
Tatsächlich verspürt er schon
wieder gewisse Regungen in den unteren Bereichen seines Körpers. Er dreht sich
langsam zu Irma um – aber sie liegt nicht neben ihm.
So ein Mist! Gerade jetzt hätte er
sie gut brauchen können. Chris schwingt sich aus dem Bett. Er hat schon so eine
Vermutung. Er sieht, dass ihre Sachen nicht mehr da sind, und sie selber ist
wohl auch nicht mehr da.
Er schaut kurz vom Küchenfenster
aus auf die Garageneinfahrt hinunter, aber ihr nettes kleines Cabrio steht
nicht mehr dort. Das niedliche Vögelchen ist tatsächlich ausgeflogen, ohne sich
zu verabschieden. Was für eine Frechheit! Und wirklich schade um den
Morgenspaß...
Chris ist ziemlich sauer, nicht
nur, weil ihm der Morgenspaß entgangen ist. Er vermisst auch die Gespräche
danach. Er vermisst ihre kleinen taktischen Gefechte und das Reden über
belangloses Zeug, er vermisst ihre blöden Fragen, von wegen gutem Aussehen und
so – wieder muss er vor sich hingrinsen. Er vermisst außerdem ihre Brüste.
Ferner ihre Beine, und vor allem das, was dazwischen ist. Mein Gott, ist die
Frau geil! Sie treibt ihn zu Höchstleistungen – und sie weiß anscheinend gar
nicht, wie er es genießt, mit ihr zu schlafen. Wahrscheinlich denkt sie, er
würde mit jeder anderen genauso viel Spaß haben. Ist vielleicht besser, wenn
sie das denkt, sonst könnte sie sich noch was drauf einbilden. Oder – dieser
Gedanke kommt ihm plötzlich – es ist normal, dass die Männer, mit denen sie
geschlafen hat, genau so scharf auf sie waren wie er. Ein ärgerlicher Gedanke, sich
Irma mit einem anderen Mann vorzustellen. Ein Mann, der ihr ins Gesicht schaut,
wenn sie kommt und der es genauso wie er liebt, sie dabei zu beobachten.
Nein, der Gedanke daran ist
absurd, sie schläft nicht mit anderen Männern! Oder doch? Chris fühlt, wie sein
Blutdruck steigt. Und dieses Türschild mit dem Männernamen neben ihrem, das ist
auch so ein Reizthema. Hat sie jetzt noch was mit dem Kerl oder nicht?
Chris schüttelt ratlos den Kopf.
Diese Frau macht ihn zornig, und er weiß nicht warum. Normalerweise ist er doch
froh, wenn die Weiber ihn in Ruhe lassen, nachdem er seinen Spaß gehabt hat.
Und normalerweise treibt er es auch nicht in seiner Wohnung mit ihnen, Irma ist
echt die Ausnahme, bei ihr weiß er, dass sie ihm absolut nicht auf die Pelle
rücken wird. Aber so flüchtig, wie die sich verhält, ist es ein bisschen zuviel
des Guten! Sieht ja fast aus, als wollte sie nichts mit ihm zu tun haben, bis
auf das eine natürlich.
Und wieso macht er sich überhaupt
Gedanken darüber? Er kann sich doch glücklich schätzen, dass sie ihn in Ruhe
lässt. Aber dennoch würmelt es in ihm. Einfach so abzuhauen!
Sie macht ihn zornig, aber
eigentlich nur, wenn sie nicht da ist. Dann kommen diese Gedanken in ihm hoch,
von wegen Türschild und dem Eintrag im Telefonbuch, der ihn ziemlich sauer
machte. Aber wenn sie neben ihm sitzt – oder besser noch liegt – dann verfliegt
sein Zorn auf sie, zurück bleibt nur eine gewisse Unsicherheit. Und noch ein
anderes Gefühl, das er aber nicht benennen kann.
Der gestrige Abend war seltsam. Er
hat sich tatsächlich nicht an sie herangetraut. Warum nicht? Weil sie sich so
souverän und cool verhielt? Und dabei war sie so verlockend, sie trug ihre
unauffälligen Sachen mit einer lässigen Eleganz, auf die er voll abfuhr, ihr
Gesicht sah überaus reizvoll aus, und ihre Figur war absolut spitzenmäßig, aber
trotzdem traute er sich nicht an sie heran. Oder hatte er etwa Angst, sie könne
ihn zurückweisen? Nein, das war lachhaft, sie wollte ihn, was sonst.
Wahrscheinlich schwebte ihm immer noch die Pleite aus dem Urlaub vor. Also
schlug er vor, ins Limerick zu gehen, das war ein neutraler Ort, und man konnte
dort nicht bumsen. Herrgott, was war los mit ihm, normalerweise konnte er an
jedem Ort der Welt bumsen. Haha, von wegen an jedem Ort der Welt, nur nicht auf
Ibiza, so eine Scheiße, wahrscheinlich spürte er sein Versagen immer noch in
seinem... äääh in seinen Knochen, und das ließ ihn so seltsam zurückhaltend
handeln.
Eigentlich zeigte er sich nicht
gerne mit Frauen im Limerick, aber diesmal war es ihm egal, tatsächlich fand er
es schön, sie an seiner Seite zu haben. Sie ließ ihn in Ruhe knobeln und
quatschte ihn nicht zu. Und als sie es ein paar Stunden im Limerick ausgehalten
hatte, ohne zu meckern, kam er zu der Überzeugung, dass sie es nur seinetwegen
dort ausgehalten hatte, und er schnappte sich sie, als sie angeblich nach Hause
wollte. Und ab da waren seine Hemmungen auf einmal wie weggeblasen.
Nein, nicht wie weggeblasen, aber
das konnte ja noch kommen, demnächst vielleicht...
Chris muss an sein Bett denken,
ganz neue Perspektiven tun sich auf, und wieder grinst er vor sich hin. Es ist
natürlich ungewohnt für ihn, eine Frau in seinem Bett zu haben, aber Irma passt
dort hin. Er sieht wieder ihr Gesicht vor sich, er liebt es, sie so zu sehen,
liebt es, sie soweit zu bringen, und außerdem gibt es ihm die Illusion, sie
würde etwas für ihn empfinden. Dieses Gefühl verflüchtigt sich allerdings
sofort wieder, wenn sie danach nebeneinander liegen und jede Berührung
vermeiden.
Was soll er nun tun? Noch mal bei
ihr anrufen? Nein, besser nicht, er könnte sich eine Abfuhr einfangen. Er wird
sie direkt überfallen und in die Enge drängen. Er will endlich wissen, was mit
ihr los ist. Irgendwann muss sie sich doch eine Blöße geben, irgendwann wird
sie sich verraten und ihre Gefühle offenbaren. Und dann kann er wieder zur
Tagesordnung übergehen.
Allerdings liegen jetzt noch sechs
Tage vor ihm bis zum nächsten Wochenende. Das könnte verdammt lang werden! Und außerdem
ist heute Samstag, und er hat nichts vor. Hat blöderweise gedacht, Irma würde
noch ein bisschen bleiben, vielleicht den ganzen Tag und auch die Nacht, aber
sie ist ja munter abgeschwommen, und jetzt steht er da und hat nichts vor.
Grauenhaft!
Chris seufzt auf, dann fällt ihm
sein Kumpel Siggy ein. Der hat was von einem Ausflug aufs Land erzählt.
Normalerweise sind diese Wochenend-Trips ganz nett, man kann Weiber anmachen
und sie verarschen, man kann in die Natur gehen, und man kann draußen schlafen,
wenn man nicht bei einer Tussi übernachten will.
Aber im Moment reizt ihn das
überhaupt nicht, eigentlich reizt es ihn seit ein paar Wochen nicht mehr, er
findet es eher lästig und sinnlos – aber das hat nichts mit Irma zu tun, Herr
des Himmels! Immerhin könnte man sich besaufen... Oder soll er einfach zuhause
bleiben und irgendwelche Sachen erledigen? Chris legt das Telefon, das er schon
in der Hand gehalten hat, wieder zurück.
~~~~~~~~~~~
DIE SCHRECKEN NICHT NUR DER NACHT
Irma
könnte sich schwarz drüber ärgern, dass sie zu diesem blöden Grillfest muss.
Madames unerträgliche Gegenwart wird ihr mit Sicherheit den ganzen Abend
versauen.
Und für
so einen Mist ist sie topfit! Sie hat in letzter Zeit nicht besonders gut
geschlafen, aber seltsamerweise waren die paar Stunden Schlaf in Chris’ Bett
erquickend wie lange nicht mehr.
Um fünf
erscheint ihre zweitbeste Freundin, nämlich Susanne bei ihr, und sie brechen
auf, um Madame abzuholen.
Man
wartet schon vor der Tür. Susanne muss sich auf die winzige Rückbank von Irmas
Karmann quetschen, während Madame sich mit ihrer Rottweilerhündin Venus
natürlich bequem vorne niederlässt.
Sie
sitzen alle auf Decken, die Madame mitgebracht hat. Sie will nämlich ihren
Geburtstag am Fluss feiern, dort wo die Gäste so laut sein dürfen wie sie
wollen und wo man nicht viel Dreck hat.
Madames
Stecher fährt mit dem Fahrrad samt Grill zum Fluss, für den wäre sowieso kein
Platz mehr im Auto.
Vielleicht
kommen ja ein paar scharfe Männer auf die Party. Witz lass nach, Irma schaut
aus dem kleinen Fenster des Karmanns, um ihr Lachen zu verbergen. Madame und
scharfe Männer! Deren Typen würde sie nicht mal mit ’ner Kneifzange anfassen.
Diese und ähnlich unerfreuliche Gedanken bewegen Irma, während Madame gerade erzählt, wie sie letztens in einer Kneipe die riesige Schüssel mit Popcorn, die auf der Theke stand, ganz alleine aufgefuttert hat. Mindestens fünfmal erzählt sie das, und sie lacht sich darüber glucksend kaputt, während Irmas Heiterkeit sich in Grenzen hält. Ihr Verhältnis zu Madame ist sowieso gespalten. Einerseits hat sie Mitleid mit ihr, denn trotz ihres Selbstbewusstseins ist Madame psychisch ziemlich daneben, sie kann nicht alleine aus dem Haus gehen und braucht deswegen jemanden mit Auto, der sie überall herumkutschiert – und dieser jemand ist natürlich Irma, die mittlerweile ziemlich die Nase voll hat.
Denn es ist schrecklich, mit Madame in der Gegend herumfahren zu müssen, mit zu erleben, wie sie bei Banken um Kredite bettelt, wie sie in teuren Boutiquen schwelgerisch einkauft – und dabei einfach nicht nach Hause zu kommen, weil Madame sich an Irma klammert wie ein Klammeraffe, das geht auf Dauer an die Substanz. Irma bezeichnet sie nicht umsonst als ‚Madame Medusa’ nach der griechischen Göttin, deren Haare lebende Schlangen waren und deren Blick jeden zu Stein verwandeln konnte. Bei Madame ist es aber nicht der Blick, sondern ihr erbarmungsloses Gequatsche, wegen dem Irma spätestens nach einer Stunde zu Stein erstarrt, vielleicht sollte sie ja auch mal bei einem Psychologen vorstellig werden, aber nicht bei Madames Psychologen, der hat der blöden Nuss ja ganz tolle Tipps gegeben. Irma wird ein bisschen ärgerlich, wenn sie an diese Tipps denkt, aber gleichzeitig muss sie drüber kichern.
Hmmm, das sollte sie Chris erzählen, der findet so was bestimmt gut. Natürlich nur, wenn er sich noch mal meldet...
~~~~~~~~~~~
Fünf
bauchige Zweieinhalbliter-Flaschen spanischen Rotweins liegen schon seit zwei
Tagen auf dem Boden des Karmanns. Das Zeug ist sehr gehaltvoll und haut ganz
schön rein – Irma weiß das, denn sie hat ihn natürlich selber mit Madame
besorgt und auch angetestet.
Es ist
fürchterlich schwül.
Die
große Wiese am Fluss ist gerade frisch gemäht worden, und überall liegen
riesige Mengen Heu herum. Riecht gut!
Sie bauen
Sitzmöbel aus Heu, legen Madames Decken darauf, und diese Natursofas sehen
absolut bequem aus.
Grummel,
grummel... Irma hört auf einmal seltsame Geräusche. Wird doch wohl nicht ihr
Magen sein?
Sie
schaut vorsichtshalber zum Himmel empor. Auweia, der hat sich während ihrer
eifrigen Nestbauerei leicht grünlich verfärbt mit einem schwefelgelben
Beistich. Und wie auf Bestellung spuckt der Himmel wieder ein leichtes Räuspern
aus.
Das ist
mal wieder typisch. Plane ein Picknick oder eine Grillparty, dann fällt sie
garantiert ins Wasser. Das ist wie ein Regenzauber.
„Unter
die Brücke“, ruft Irma. „Aber avanti!“
In
Windeseile sammeln sie die Decken wieder ein, packen die Weinflaschen wieder
ins Auto, und Irma lenkt den Karmann über einen bestimmt nicht für Autos
geeigneten holprigen Feldweg in Richtung Schnellstraßenbrücke, die so breit
ist, dass man mit Sicherheit nicht darunter nass wird.
Der
Himmel hat sich mittlerweile in ein unvorteilhaftes dunkles Eitergelb mit einem
giftigen Hauch von Gallengrün gekleidet.
Kaum
haben sie die Brücke erreicht, geht es los! Ein Gleißen, ein Krachen, ein
Gedonner. Bläuliche Blitze schlagen im Flüsschen ein, tanzen kurz auf der
Oberfläche des Wassers hin und her, und das sieht sehr gefährlich aus.
Susanne
und Irma schauen fasziniert dem Wettertreiben zu und klatschen begeistert. Bis
es ihnen dann doch zu unheimlich wird und sie sich ins Auto setzen, in diesen
sicheren, wie hieß der noch, ach ja Faradeischen Käfig, der wie ein
Blitzableiter funktioniert. Trotzdem ist es unheimlich.
Und dann
fängt es an zu regnen. Was heißt regnen? Das Wasser kommt wie eine Wand
herunter, man sieht nichts anderes mehr als Wasser. Und Irma überlegt
krampfhaft, ob sie vergessen hat, das Schlafzimmerfenster zuzumachen.
Nach
einer halben Stunde ist das Unwetter einigermaßen vorbei.
Nach und
nach trudeln die Geburtstaggäste ein. Seltsame Gestalten sind das. Irma glaubt,
dass so an die dreizehn bis sechzehn Leute da sind. Leider kann sie das nicht
genau abschätzen, weil sie mit der Zählerei nie bis zum Ende kommt. Muss am
Wein liegen...
An
Männern ist wie erwartet absolut nix Gescheites da, sind alles dogmatische
Müslifresser, die machen alles rein ökologisch, viele sind mit dem Fahrrad
gekommen, und alle meckern über die Technik. Okay, manchmal ist Technik
Scheiße, aber jetzt sitzen sie alle unter dieser Autobahnbrücke herum, und das
ist schließlich auch ein Stück Technik, und vor allem hält es den Regen ab, der
immer noch sanft tröpfelt.
Irma
stöhnt leise vor sich hin, weil alles so langweilig ist. Nur die Musik ist gut,
kein Wunder, sie hört ihre eigenen MP3s.
Madame
sitzt auf ihrer Wolldecke und hält Hof wie eine Königin. Ein seltsam mickrig
asketisch aussehender Typ küsst ihr die Hand, die sie ihm gnädig
entgegenstreckt. Nein, er küsst ihr nicht nur die Hand, sondern schleckt ihr
den ganzen Arm ab. Igittigititt...
Georg,
das ist Madames Stecher, guckt ziemlich grimmig drein, sagt aber nichts.
Warum küsst mir eigentlich nie jemand die Hand, denkt Irma und fühlt sich ziemlich frustriert. Doch, da war einer, wie konnte sie ihn nur vergessen. Sie hat ihn sich quasi fünf Minuten nach der Trennung von Exfreund Oliver geangelt. Sie brauchte das damals. Er war sehr verliebt ihn sie, er wollte ein Kind mit ihr, ein Mädchen natürlich, das so aussah wie sie, er wollte alles mögliche... Irma stöhnt auf. Ein Kind, nein danke, nicht mit ihm! Aber er war gut im Bett, hatte eine nette Wohnung – allerdings eine kleinere als sie – hatte einen guten Job, und er liebte sie vielleicht. Aber es ging nicht, er machte sich selber klein, und er war ihr einfach zu passiv, sie mochte keine Männer, die geil drauf waren, sich für sie von anderen Männern in die Schnauze hauen zu lassen, ohne sich zu wehren. Nein, nein, es ging nicht, und nach vier Wochen fing sie an, sich von ihm zu trennen. Seltsam, sein Name ist ihr entfallen wie ein Stück flutschige Seife, Irma muss in sich hineinkichern. Wie hieß er noch gleich? Klaus-Peter? Hans-Peter? Sie schüttelt den Kopf. Schnee von gestern...
Madame
wundert sich darüber, dass so wenig Leute zu ihrer Party gekommen sind, obwohl
sie doch mindestens dreißig oder vierzig eingeladen hat. Übrigens ist auch eine
Siamkatze samt Frauchen erschienen. Irma wundert beides nicht, dass nicht viele
Leute da sind und das mit der Siamkatze.
Weil die
alle so dämlich sind – sogar die Katze ist dämlich – unterhält Irma sich
hauptsächlich mit ihrer Freundin Susanne, und Susanne spricht hauptsächlich
über die Liebe. Sie wartet immer noch auf ihren Traummann. Susanne probiert
wirklich alles mögliche, sie legt sich immer gleich hin, wenn sie einen kennen
lernt und wartet auf die großen Gefühle. Meistens kommen die dann nicht. Und
wenn sie kommen, dann fühlt der Typ die nicht. Von wegen Traummann!
Irma
bricht allein zu einem Spaziergang auf. Es ist schon fast dunkel, aber es gibt
ein wenig Licht von einer Straßenlaterne weit über ihr auf der
Schnellstraßenbrücke. Alles ist noch triefend nass, und von den Bäumen und
Büschen gluckst das Wasser herunter und tröpfelt ihr in den Nacken.
Auf den
Wiesen liegt herbstartiger Nebel, so richtig erlkönighaft. Und diese seltsamen
Pflanzen, die so unheimlich vor dem dämmrigen Hintergrund aussehen, die mag
Irma nicht. Vielleicht sollte sie Chris fragen, was das für ein Zeug ist. So
ein Quatsch, Chris… Jedenfalls sehen die fast aus wie riesige Sonnenblumen,
aber mit mickrigen farblosen Blüten und gefährlich gezackten Blättern, die halb
vergammelt aus den monströsen Stängeln ragen. Irma weicht diesen Pflanzen
instinktiv aus und versucht, sie nicht zu berühren.
Plötzlich
hat sie das Gefühl, jemand geht an ihrer Seite, es kommt ihr vor wie ein Mann,
ein sehr großer Mann, und sie schaut vorsichtig nach rechts. Oh nein, was will
der denn hier? Der hat ihr gerade noch gefehlt, muss am Wetter liegen, das
Gewitter hat sie wohl mürbe gemacht.
Oh, er
legt den Arm um sie, und Irma fühlt sich auf einmal irgendwie wunschlos
glücklich.
Er
schaut ihr tief in die Augen, und Irma blickt ihn gespannt an. Will er ihr
etwas sagen?
„Komm
lass uns hinter diesen Busch gehen und es dort treiben!“
Irma
erstarrt. Das ist ja ein toller Traum! Ein Wirklichkeitstraum! Sie reißt sich
von ihrer Vision los und schmeißt sie gnadenlos in die falschen Sonnenblumen.
Hoffentlich sind die ätzend und giftig. Und wenn nicht, soll sie doch da liegen
bleiben, diese blöde Vision, bis sie inklusive Chris verrottet!
Verdammt
noch mal, bleib mir ja aus meinen Träumen!
Irma
schlendert wieder zurück in Richtung Schnellstraßenbrücke. Unter starker
Rotweineinwirkung und unter Einfluss des Nebels, der auf den Wiesen liegt, kichert
sie blödsinnig vor sich hin: Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an,
Erlkönig hat mir ein Leids getan. Du blöder Erlkönig du!
Der
spätere Abend schleppt sich mühsam dahin. Oh Gott, sind diese Leute ätzend, mit
denen kann Irma nichts anfangen, na ja, immerhin finden sie ihre Musik gut. Und
am besten kommen ‚the The’ und ‚Deine Lakaien’ an. Die Lakaien müsste sie Chris
mal vorspielen, der wird bestimmt drauf stehen. Oh nein, nicht schon wieder
der...
Leider
hat sie schon den Punkt überschritten, wo sie noch Auto fahren könnte, und
jetzt ist sie hier gefangen und kann nicht weg. Das heißt, sie könnte ja zu Fuß
weggehen und sich irgendwo ein Taxi schnappen, aber dann steht ihr armes
Autochen hier alleine herum…
Später
in der Nacht sitzt Susanne ziemlich trübsinnig im Karmann und sieht recht
mitgenommen aus. Zuviel Rotwein getrunken, schätzt Irma.
„Leg’
dich nach hinten und versuch’ zu schlafen“. Irma küsst sie sanft auf die Stirn.
Was ist los mit ihr? Warum tut sie das? Weil Chris diese Unsitte praktiziert?
Der knutscht bestimmt jede Frau auf die Stirn, macht auf verständnisvoll und
will alle Geheimnisse wissen, die man als Frau so hat. Verspricht sich bestimmt
Macht davon – und noch mehr Erfolg bei Frauen. Aber an ihr wird er sich die
Zähne ausbeißen, dem wird sie gar nix erzählen. Was auch?
„Mir ist
schlecht“, murmelt Susanne, sie beugt sich leicht aus dem Auto und kotzt mit
einer anmutigen Gebärde den gesammelten Rotwein und als Zugabe ein
zerkleinertes Kotelett aus.
So was
von Kotzen hat Irma noch nie gesehen. Alles kommt auf einmal raus mit einem
RUMMSS!
Susannchen
kann keinen Alkohol vertragen, na ja man kann nicht alles, und sie hat ja schon
liebesmäßig einiges drauf. Irma denkt das teils mitleidig, teils bewundernd.
Aber oh
je, jetzt wird ihr selber leicht schlecht, und sie schlägt sich in die immer
noch nassen Büsche, um sich einen Finger in den Hals zu stecken... Es klappt,
und sie würgt einiges heraus...
Oh Gott,
ist das alles furchtbar! Und was tut sie überhaupt hier? Irgendwas muss geändert
werden in ihrem Leben, sie denkt an den furchtbaren Abend mit Felipe, und
wieder wird ihr schlecht. Sie steckt sich noch mal einen Finger in den Hals,
aber sie kann noch so viel würgen, es kommt nichts mehr heraus. Sie ist leer.
Ihr Magen ist leer, und ihr Geist ist auch leer. Ja wirklich, tolles Gefühl!
Als Irma
zurückkehrt, liegt Susanne zusammengekrümmt auf der winzigen Rückbank des
Karmanns, und die meisten Gäste brechen gerade auf. Sie schwingen sich auf ihre
Fahrräder, radeln davon oder verschwinden einfach in der Dunkelheit. Ist Irma
vollkommen egal, wohin die verschwinden. Hauptsache, sie verschwinden.
Als alle
Gäste weg sind, beratschlagt Irma mit Madame, wo sie schlafen sollen. Natürlich
würde Madame am liebsten nach Hause chauffiert werden, aber das ist jetzt dumm,
denn Irma hat viel zuviel getrunken.
Madame
entschließt sich natürlich, auf dem Beifahrersitz des Karmanns zu übernachten.
Na super! Irma hat gehofft, sie könnte sich vorne im Auto über beide Sitze
legen und sich dort unter einer Decke zusammenrollen. Aber nein...
Madames
Rottweilerhündin und ihr Stecher Georg dürfen auf dem harten Steinpflaster
unter der Schnellstraßenbrücke übernachten. Als Kopfkissen erhält Stecher Georg
Madames Reisetasche, und eine Decke – das glaubt Irma jedenfalls – schmeißt sie
ihm auch noch zu. Oder vielmehr nicht ihm, sondern ihrer Hündin Venus.
Mit Sicherheit hat Irma den schlechtesten Teil erwischt. Sie hat nämlich das Lenkrad zwischen ihren Beinen, das ist umso ärgerlicher, weil sie heute ganz früh am Tag schon ganz was anderes zwischen den Beinen hatte... Das war sehr viel besser und sogar irgendwie gemütlich, obwohl alles ohne Zärtlichkeit ablief. Natürlich konnte man es nicht vermeiden, sich während der Bumsereien zu berühren, aber danach trennte man sich immer unauffällig voneinander und unterließ jeden Körperkontakt, bis dann wieder...
Was der
jetzt wohl treibt? Liegt bestimmt mit einer Frau in seinem gemütlichen Bett.
Das bringt sie ein wenig auf, aber sie denkt einfach nicht weiter dran, ihr ist
ja sowieso schon schlecht. Und wen juckt das? Sie bestimmt nicht!
Zum
Glück ist es nicht kalt in dieser Nacht, und Irma duselt so vor sich hin. Bis
sie aufwacht. Irma hat einen sehr leichten Schlaf, und diese bescheuerte
Schlafposition macht ihn noch leichter.
Madame
will gerade aussteigen. Was will die draußen? Oh, es wird schon hell, und diese
Nacht wird bald vorbei sein. Endlich!
„Wo
willst du denn hin?“ fragt sie.
„Ich muss an meine Reisetasche!“ sagt Madame energisch.
Daraufhin döst Irma wieder ein, aber es ist nur für ein paar Minuten, denn plötzlich wird sie durch ein fürchterliches Gezeter geweckt.
„Du
Schwein! Du verdammtes Schwein!... Aaarrrggg!“
Fortsetzung: Ab hier wird der Mantel der Verschwiegenheit
über die Szenerie gebreitet. Aber im nächsten Kapitel werden wir vielleicht
einiges darüber erfahren. Oder besser nicht...
© Ingrid Grote 2009 Fortsetzung
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