KAPITEL
III – Teil 1 ANDROMEDA
Das
Baby..........
Man hatte ihr später so viel darüber erzählt, dass ihre eigenen
Erinnerungen bestimmt mit diesen Erzählungen vermischt waren. Seltsamerweise
sprach ausgerechnet Max nicht gerne darüber. Aber alle anderen Leute, egal ob
sie etwas wussten oder nicht, hatten immer bereitwillig ihren Senf dazu
gegeben.
Aber Andromeda erinnerte sich, und sie war davon überzeugt, es waren
ihre echten Erinnerungen...
Sie erinnerte sich schemenhaft an das Spitze, unter das sie gekrochen
war und an das Weiße, das waren die fürchterlichen Zähne des großen Tieres, das
sie angegriffen hatte und das nur von ihr abließ, weil sie sich nicht mehr
bewegte und auch keinen Ton von sich gab.
Und sie konnte sich an das Laute erinnern, das fürchterlich knallte
und vor dem sie fürchterliche Angst hatte. Und sie erinnerte sich an die
grellen Lichter, die nach dem Lauten kamen. Immer abwechselnd geschah das, ein
grelles Licht, so dass sie vor Angst die Augen zukniff und kurz darauf ein
gewaltiges Krachen, gegen das sie nichts machen konnte, denn sie konnte sich ja
nicht einmal die Ohren zuzuhalten. Sie war ja noch ein Baby, das zwar ein
bisschen laufen oder vielmehr stolpern konnte, aber dass man sich die Ohren
zuhalten konnte – was sind Ohren – davon wusste sie nichts. Irgendwann wurde
das Laute dann leiser, und das Grelle nicht mehr so grell, bis es schließlich
ganz aufhörte.
Aber dann kam das Nasse von oben und saugte sich in ihren Sachen fest,
und dann kam das Kalte, das sie zum Zittern brachte. Das Kalte und das Nasse
verdrängten ein wenig die Schmerzen in ihren Wunden, die von dem Tier herrührten
und von dem starren borstigen Unterholz, in das sie gekrochen war, um
instinktiv Schutz darin zu suchen. Sie hatte schließlich in einem Haufen Laub
Zuflucht gefunden, das Laub erinnerte sie wohl an die Decke, die sie zu Hause
in ihrem Babybett hatte, und sie grub sich instinktiv darin ein. Das hatte ihr
wohl erst einmal das Leben gerettet, aber sie war sehr schwach.
Es dauerte Ewigkeiten, das Kalte, das Nasse und die Schmerzen, bis sie
schließlich nur noch leise vor sich hinwimmerte. Und auf irgendetwas oder auf
irgendjemanden wartete, der sie von diesen Sachen erlösen würde.
Aber es kam niemand. Und sie dämmerte langsam hinüber in das Vorland
des Todes.
Dann auf einmal gab es eine Änderung.
Jemand fasste sie an, und wieder hatte sie Angst, es wäre das große
Tier, das ihr schon einmal Schmerzen zugefügt hatte.
Aber es war nicht das große Tier.
Jemand streifte ihr die nassen Babysachen ab, auch ihre Windel, denn
sie hatte seit drei Tagen in ihren Exkrementen gelegen, und ihr Po war rot und
entzündet.
Jemand legte ihr etwas Trockenes und Warmes um und hob sie dann hoch.
Sie fühlte, wie ihr jemand etwas an den Mund hielt und sie saugte
daran. Diese Erinnerung war wirklich echt, denn Max hatte ihr einen
Schokoriegel an den Mund gehalten, weil er nichts anderes hatte, mit dem er sie
füttern konnte.
Der Geschmack des Schokoriegels würde Andromeda ihr Leben lang
begleiten, denn diese Erinnerung war wirklich real und nicht das Echo von den
Erzählungen anderer Leute.
Max brachte sie schließlich nach Hause.
Alles war warm und gut.
Sie erholte sich sehr schnell von den Strapazen dieser Tage und
Nächte.
Das einzige Trauma, das sie von dieser üblen Sache behielt, war eine
panische Angst vor Gewittern, bei denen sie es vorzog, sich irgendwo im Keller
zu verkriechen, um die gleißenden Blitze nicht sehen und den krachenden Donner
nicht hören zu müssen.
Das
Kind..........
Ein Schlachtfest auf dem Gutshof ist immer ein spektakuläres Ereignis.
Vor allem für die Männer.
Viele Leute sind da, alle rennen geschäftig herum, und kein Mensch
kümmert sich um die sechsjährige Andromeda, die Tante Mansell ausgetrickst hat
und ihr weggelaufen ist.
Ein fettes quiekendes Schwein wird von zwei starken Männern auf den
Hof hinausgeführt, sie halten das Schwein mit zwei Stangen fest, der Kopf des
Schweins steckt in zwei Schlingen, und mit den Stangen kann man das Tier auf
Distanz halten.
Das Schwein wehrt sich und kreischt und quiekt mörderisch, aber das
hilft ihm nichts. Sie zerren es in den Hof hinaus.
Dort hat man einen flachen hölzernen Zuber aufgestellt. Er wird dazu
dienen, das Blut des Schweins aufzufangen. Nachdem sie es mit einem
Bolzenschuss getötet haben.
Das Schwein wehrt sich, es kreischt und quiekt mörderisch, aber das
hilft ihm nichts. Sie zerren es in den Hof hinaus.
Dort hat man einen flachen hölzernen Zuber aufgestellt. Er wird das
Blut des Schweins auffangen, nachdem sie es mit einem Bolzenschuss getötet
haben.
Früher hätte man dem Schwein einfach nur die Kehle aufgeschlitzt, um
es dann ausbluten zu lassen, nach einer Weile, ausgefüllt mit seinem immer
schwächer werdenden Kreischen, wäre sein Leben unaufhaltsam in den hölzernen
Zuber geflossen.
Jetzt ist man zivilisierter, trotzdem ahnt das Schwein, was ihm bevorsteht,
es kreischt womöglich noch lauter als vorher. Erst als der Schlachter das
Bolzenschussgerät an die Stirn des Schweins setzt und abdrückt, herrscht
tödliche Ruhe.
Andromeda gerät in Panik. Das Kreischen des Schweins, die
erwartungsvolle Unruhe unter den Männern – Frauen sind fast keine da, sie
scheuen das blutige Spektakel – der laute knallende Schuss, das auf die Seite
kippende Schwein, das hoffentlich sofort tot ist, obwohl sein Hinterbein noch
zuckt, all das schafft eine gewalttätige, nach Blut riechende Kulisse, und sie
hat Angst.
Ihren Daddy findet sie auch nicht. Der ist bestimmt da vorne bei dem
toten Schwein, Andromeda traut sich nicht dahin, denn der Tod riecht nach Blut
und nach Schrecken. Andromeda hält sich die Hände vors Gesicht, um das Schwein
nicht mehr sehen zu müssen. Sie hat es ja gekannt...
Aber schließlich schaut sie doch hin.
Das Schwein hängt mittlerweile ziemlich leer an der Wand und ist zur
Weiterverarbeitung bereit. Vor ein paar Minuten war es noch quicklebendig, doch
jetzt sieht es nicht mehr aus wie ein Lebewesen, jetzt ist es nur noch ein
Lebensmittel.
Andromeda schaut sich um, ob Max irgendwo ist. Er ist nicht mehr oft
da. Er muss viel lernen, dort wo er studiert. Er muss auch viel arbeiten, um
das Studieren bezahlen zu können, hat Daddy ihr erzählt, und deswegen kann er
nicht mehr so oft nach Kampodia kommen. Andromeda ist traurig, dass Max nicht
mehr so oft da ist wie früher.
Aber plötzlich sieht sie ihn unter den anderen Männern. Sofort läuft
sie zu ihm hin und schiebt vertrauensvoll ihre kleine Hand in seine große. Sie
geht ein paar Schritte mit ihm, blickt zu ihm auf und erkennt plötzlich, dass
sie sich vertan hat. Das ist gar nicht Max, sondern einer aus seiner
Verwandtschaft, der zwar einige Ähnlichkeit mit Max hat, aber bei näherem
Hingucken ganz anders aussieht.
Verlegen lässt Andromeda die Hand des Mannes los und rennt weg.
Die anderen Männer haben das kleine Zwischenspiel mitbekommen, sie
lachen gutmütig. „Bist wohl doch nicht Max!“ sagt einer von ihnen, ein großer
stämmiger Typ mit breiten slawischen Gesichtszügen.
Andromeda ist zornig über ihren Irrtum. Aber noch mehr zornig ist sie
darüber, dass Max nicht zum Schlachtfest gekommen ist.
Dann fällt ihr ein, Max mag gar keine Schlachtfeste, das hat er ihr
mal erzählt. Und sie ist nur noch traurig.
Das
Mädchen..........
Andromeda sitzt auf dem einzigen gut erreichbaren Ast des kleinen
Lindenbaums und drückt ihre entzückende Nase an das Fenster des Häuschens.
Tatsächlich sind die schweren Vorhänge nicht ganz zugezogen, so dass man gut in
das Innere des Raumes schauen kann, der sich im ersten Stock befindet.
Andromeda ist neugierig, sie sitzt dort in luftiger Höhe, um ein
bisschen zu spionieren.
Es ist spät am Abend. Andromeda hat sich heimlich aus dem Haus
geschlichen. Sie liebt es, am späten Abend unterwegs zu sein. Manchmal geht sie
in der Dämmerung noch in den Wald, genießt die schaurige Stille, die dort
herrscht, bekommt dann ein wenig Angst vor der schaurigen Stille und geht
gemessenen Schrittes wieder zurück, ohne sich umzudrehen, sie ignoriert die
Schrecken des Waldes einfach und hält sie dadurch in Schach.
Sie verspürt Sehnsüchte, die sie nicht benennen kann. Nicht genau
erklären kann. Sie denkt an einen bestimmten jungen Schulkameraden, den Stürmer
des Fußballteams, der sich für sie interessiert. Eigentlich ist sie nicht der
Typ für so einen. Für Mode hat sie nicht viel übrig, sie liest viel und gilt
als Streberin, natürlich ist sie keine Streberin, sie will nur viel wissen.
Aber weil sie hübsch ist mit ihrer blendenden Figur, ihrem langen braunen
gelockten Haar und ihren großen mandelförmigem grünen Augen, sieht man ihr
diese Verrücktheiten nach.
Ich will jedenfalls nicht heiraten, nur weil ich ein Kind kriege, das
denkt Andromeda manchmal, wenn sie irgendwie erregt den stillen Weg
entlanggeht. Hier auf dem Land werden schnell Kinder gezeugt. Die Einsamkeit,
die Stille, die Dunkelheit in der Nacht, all das erzeugt Sehnsüchte, die
befriedigt werden müssen. Aber Andromeda möchte nicht in diese Falle tappen, sie
verdrängt den Gedanken an den Stürmer aus dem Fußballteam. Eigentlich ist er
nur ein dummer, wenn auch sehr gut aussehender Junge.
Und jetzt späht sie ins Häuschen hinein. Sie ist wahnsinnig neugierig.
Vielleicht erfährt sie hier, was eigentlich so abläuft zwischen den
Geschlechtern. Natürlich weiß sie aus den Ställen, wie es zwischen den Tieren
abläuft, aber zwischen Menschen muss doch so eine Art Mysterium sein, es kann
doch auf keinen Fall so sein wie bei den Tieren.
Das Licht im Zimmer ist dämmrig, aber man kann alles ganz gut
erkennen. Allerdings sieht das, was sie sieht, nicht wie ein Mysterium aus.
Sie sieht einen Mann und eine Frau, die sich gegenseitig entkleiden
und sich dann küssen. Der Mann streichelt die Frau, die anscheinend aufstöhnt,
Andromeda kann es nicht hören, aber das Gesicht der Frau sieht so aus...
Die Frau lässt sich auf das breite Bett fallen, der Mann beugt sich
über sie und küsst langsam ihre Brüste. dann ihren Bauch.
Andromeda verspürt ein leichtes Ziehen in den Brüsten, aber sie ist so
fasziniert von dem Akt, dass sie nicht auf diese Gefühle achtet.
Dann wendet der Mann sich noch etwas tiefer. Er scheint Zeit zu haben.
Die Frau allerdings bekommt auf einmal ein verzerrtes Gesicht und sagt etwas zu
ihm, nein sie keucht es. Andromeda meint von ihren Lippen lesen zu können, wie
sie keucht: Nein, nicht, komm! Bitte! Bitte...
Der Mann richtet sich auf, er lächelt und nimmt etwas von dem kleinen
Tisch neben dem Bett, er packt es aus und streift es sich über sein Glied –
Andy weiß, dass es ein Kondom ist – dann beugt er sich über die Frau und dringt
langsam mit seinem Glied in sie ein.
Andromeda konnte es kurz sehen. Natürlich ist es nicht so groß wie von
einem Hengst, aber... wenn sie sich vorstellt, das in sich zu haben, das wäre
... Diesmal verspürt Andromeda ein leichtes Ziehen im Unterleib, und wieder
ignoriert sie es.
Die Frau blickt nun mit ziemlich blöden Augen vor sich hin. Sie
klammert sich an den Mann, hebt ihre Beine hoch und schlingt sie um seinen
Rücken. Dann auf einmal bäumt sie sich auf, und ihr Körper zuckt ein paar
Sekunden lang konvulsisch, das fällt Andromeda spontan ein, obwohl sie gar
nicht genau weiß, was das heißt, und sie will nicht aufhören zu zucken.
Konvulsisch...
Der Mann beobachtet sie aufmerksam bei diesen konvulsischen Zuckungen,
und es scheint ihm zu gefallen.
Als sie ausgezuckt hat, entfernt er sich aus ihr, dreht sie so um,
dass sie vor ihm kniet. Diesmal dringt er von hinten in sie ein, seine Finger
sind vorne an ihrer... und die Frau kann sich auf einmal nicht mehr abstützen,
sie droht nach ein paar Stößen von ihm nach vorne zu fallen, aber er hält sie
fest und beschleunigt seine Stöße, bis auch sein Gesicht sich ein wenig
verändert, aber bei weitem nicht so extrem wie zuvor das Gesicht der Frau.
Sie hat genug gesehen. Sie haben es von hinten getrieben, es gibt kein
Mysterium, Menschen sind genauso wie Tiere. Und sie kann die Frau nicht leiden.
Warum? Das weiß sie nicht, denn eigentlich gibt es keinen Grund dafür.
Sie klettert gewandt den Baum wieder herunter. Doch plötzlich gibt es
ein lautes Geschepper, das verdammte Motorrad, das irgendein Idiot vor dem Haus
abgestellt hat, ist umgekippt. Mist! In Windeseile wuchtet sie das schwere
Motorrad wieder hoch. Was nun? Der Hof wird von zwei Straßenlaternen gut
beleuchtet, und wenn sie weglaufen würde, könnte man sie vom Fenster aus sehen.
Das Beste was sie jetzt machen kann, ist sich ganz still zu verhalten
Vielleicht entdeckt man sie dann nicht. Aber leider klappt das nicht so ganz.
Nach ein paar Sekunden geht das Licht hinter der Haustür an, und der
Mann, den sie die ganze Zeit beobachtet hat, kommt heraus. Er hat sich auf die
Schnelle eine Jeans angezogen, sonst trägt er nichts.
Zielsicher wendet er sich nach rechts zu dem Baum, hinter dem
Andromeda steht – scheinbar unsichtbar steht – packt sie am Kragen ihrer Bluse,
hebt sie ein bisschen hoch und schaut ihr forschend ins Gesicht.
„Was zum Teufel machst du hier? Was hast du gesehen?“ Seine Stimme
klingt besorgt.
„Nichts, was ich nicht schon bei Tieren gesehen hätte“, sagt Andromeda
trotzig. „Und ich wusste es! Es ist kein Mysterium...“
„Oh Gott!“, Max schüttelt den Kopf. „Doch, es ist ein Mysterium. Mit
der richtigen Frau. Vielleicht...“ Letzteres murmelt er nur vor sich hin.
„Ist sie deine Freundin?“, fragt Andromeda freundlich.
„Nneein, jaaa, ach was weiß ich!“ Max ist immer noch verwirrt. Der
Gedanke, dass Andromeda ihn eben beim Liebesspiel beobachtet hat, macht ihn
ziemlich verlegen. Demnächst wird er es nicht mehr im Häuschen treiben.
Andromeda soll auf keinen Fall etwas mitbekommen von dem angeblichen Mysterium
zwischen Mann und Frau. Sie hat Recht, es ist kein Mysterium, nicht für ihn, es
ist nur die nackte Lust, die ihn ab und zu dazu treibt, eine Frau ins
Verwalterhaus zu holen. Er hat keine Probleme, eine Frau zu finden, er hat eher
Probleme, sie wieder loszuwerden, wenn das Vergnügen schal geworden ist und die
Zuneigung – von Liebe ganz zu schweigen – sich nicht einstellen will.
Seine längste Beziehung mit einer Frau hielt drei Monate lang. Und
beim Abschied sagte sie: „Du empfindest nichts für mich. Kannst du überhaupt
etwas empfinden?“ Er antwortete nichts darauf, blieb stumm und ließ sie gehen.
Und dabei hätte sie eigentlich seine Idealfrau sein müssen. Sie studierte das
gleiche Fach wie er, das war schon ungewöhnlich, denn es gab praktisch keine
Frauen unter den studierten oder nicht studierten Landwirten. Sie war schön,
sie war intelligent, im Bett lief es fantastisch mit ihr. Und trotzdem fühlte
er sich erleichtert, als es zu Ende ging.
Max hatte irgendwann aufgehört, sich über das Scheitern seiner
Beziehungen Gedanken zu machen. Natürlich wusste er, woran es lag. Aber es war
eben so, und er konnte es nicht ändern, auch wenn er es gewollt hätte.
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KAPITEL
III – Teil 2 BOCK und BOCKBIER...
„Mehr als runterfallen kannst du nicht. Aber ich denke, du bist ein
Naturtalent.“
„Ist Daniel auch ein Naturtalent?“
„Daniel ist es angeboren.“ Andy wirkte bei diesen Worten etwas
verlegen. Natürlich war sie in Daniel verschossen. Und er schien die Kleine zu
mögen – ha, Kleine war gut, sie war etwas größer als Rebekka – manchmal schaute
er sie wie gebannt an, aber nicht direkt, sondern immer haarscharf daneben. Es
war wie bei Max, nur umgekehrt. Diese Eingebung kam Rebekka urplötzlich.
Sie schüttelte unwillig den Kopf, schob den Gedanken beiseite und
öffnete entschlossen die Tür zu den Stallungen.
Woraufhin ein weißer gehörnter Dämon auf sie zustürmte, sie mit
wütenden Augen anfunkelte und Anstalten machte, sie erst niederzutrampeln und
danach aufzuspießen. Oder anders rum?
Der weiße gehörnte Dämon entpuppte sich beim Näherstürmen als ein
Ziegenbock. Rebekka sprang flink zur Seite, und er rannte auf den Hof hinaus.
Dort tobte er übermütig herum und stürmte wild auf die Hühner zu, die laut
gackernd vor ihm aufflogen. Im Hof herrschte ziemliches Chaos.
„Was zum Geier war das denn?“, rief Rebekka Andromeda zu.
„Dieser elende Kalybos, er ist mir ausgerissen.“ Es war Andy peinlich,
man sah es an ihrem verzweifeltem Gesichtsausdruck
„Dann ist das also Bockalarm“, Rebekka musste lachen. „Im Gegenteil
zum Zickenalarm...“
„Dieses weiße Mistvieh hält sich für den Herrscher der Welt. Und er
hätte dir bestimmt nichts getan, er liebt Frauen. Er mag nur keine Männer.“
„So einen kenne ich auch, aber das ist kein Bock, sondern ein Typ!“
Wieder musste Rebekka lachen.
„Er versteht sich auch nicht mit Fonso. Der ist schließlich auch so
’ne Art Mann. Wenn auch nur ein ganz kleiner...“
„Dann hält dieser Kalliboss uns bestimmt für seinen Harem.“
Kalybos hatte seinen Namen gehört, er trottete elegant wieder in den
Stall hinein, positionierte sich vor Rebekka und stupste mit seiner langen
Ziegenschnauze in ihren Bauch.
„Muss ich etwa eifersüchtig sein?“ Andromeda zwinkerte ihr zu.
„Um Himmels Willen, diesen Verehrer kannst du ruhig behalten!“ Upps,
Was sagte sie denn da? Das hörte sich bestimmt an wie: DIESEN Verehrer kannst
du ruhig behalten, aber den anderen, den solltest du nicht weiter ernst nehmen.
Mist, wieso musste sie immer alles mit Daniel verknüpfen?
„Ist was passiert?“ fragte eine besorgte männliche Stimme. Sie gehörte
Max, dem Verwalter des Gutes, er war gerade von der Brauerei zurückgekommen, wo
er die Bierprobanden abgeliefert hatte.
„Alles okay, Max“, Andromeda lächelte den dunkelhaarigen Mann an,
dessen Blicke einzig und allein auf sie gerichtet waren.
Schließlich jedoch bemerkte er auch Rebekka. „Hallo Becky, du willst
also das Reiten lernen?“
„Sieht fast so aus...“ Rebekka war erstaunt. Es kam selten vor, dass
ein Mann so gar nicht auf sie reagierte. Auch wenn sie sich noch so unsichtbar
machte, passierte es dann und wann. Oder wurde sie mit ihren neunundzwanzig
Jahren etwa alt? Nein, er war in Andy verknallt! Ein Mann um die dreißig und
fixiert auf die Stieftochter seiner Cousine Zirza... Andererseits würden sie
ein schönes Paar abgeben. Aber von wegen Paar, Andromeda sah anscheinend nichts
Besonderes in ihrem Onkel zweiten oder dritten Grades Max. Rebekka verbiss sich
ein Lachen, das war ja so ähnlich wie ‚Gustav der soundsovielte Karl’.
„Wenn Max Kalybos einsperrt, dann können wir vielleicht mit der
Reitstunde anfangen.“ Andromeda zwinkerte Rebekka zu. Sie schien es gewohnt zu
sein, dass Onkel Max alles für sie tat, machte sich aber wohl keinerlei
Gedanken darüber, WARUM Onkel Max alles für sie tat.
Andromeda führte sie zu einer Box, in der ein nicht sehr großes Pferd
stand. „Es sieht ein bisschen klein aus“, meinte Rebekka.
„Sag’ irgendwas zu ihm, damit er sich nicht erschreckt. Er heißt
Pronny. Und normalerweise geht man immer von der linken Seite an die Pferde
heran, das sind sie gewohnt.“
„Hallo Pronny“, sagte Rebekka zaghaft, woraufhin Pronny seinen Kopf
nach hinten drehte und abcheckte, wer seine Ruhe störte.
„Und auch keine heftigen Bewegungen machen. Pferde sind Fluchttiere.
Sie erschrecken sich leicht.“
Rebekka verlangsamte ihre Bewegungen und ihren Herzschlag, um ja nicht
dieses kleine Wesen, äääh Pferdchen zu erschrecken, das ihr Gewicht
wahrscheinlich gar nicht tragen konnte.
„Geh ganz langsam an ihn heran. Von der Seite, so dass er dich sieht.
Und dann sprich mit ihm.“
Rebekka näherte sich dem Pferdchen – das auf einmal gar nicht mehr so
klein aussah – vorsichtig von der Seite und stammelte die Worte: „Hallo,
Pronny, du bist ja echt ein Süßer.“
Pronny wandte ihr rehbraune, nein pferdebraune Augen zu und stupste
sie leicht mit dem Kopf an, woraufhin Rebekka sich auf einmal am Rand der
Pferdebox wiederfand.
„Er ist ein Lieber“, sagte Andromeda.
„Findest du?“ sagte Rebekka zweifelnd.
„Und er bläht sich nicht auf wie andere Pferde.“
„Bläht sich nicht auf?“, fragte Rebekka, der nun schwante, dass das
Reiten lernen vielleicht doch nicht so einfach werden würde.
„Wenn man sie sattelt, holen die meisten Pferde noch einmal richtig
tief Luft und haben dann einen dicken Bauch“, erklärte Andromeda, „aber das
hält nicht lange vor... Irgendwann wird der Bauch wieder dünner, der Sattel
lockert sich, und der Reiter hängt dann mit dem Kopf nach unten...“
„Das stelle ich mir sehr lustig vor.“ Rebekka fing an zu kichern.
„Klar. Wenn Daniel das sehen würde, fände er es bestimmt auch sehr lustig“,
wandte Andromeda ein. Sie wusste schon, wie man Rebekkas Ehrgeiz kitzeln
konnte, denn zwischen Rebekka und Daniel war irgendetwas. Unzweifelhaft war da
etwas.
Rebekka sagte nichts darauf, sondern starrte nachdenklich auf den
Bauch des Pferdchens.
„Zieh’ also den Sattelgurt nach! Sicher ist sicher!“
Rebekka machte sich zaghaft daran, den Bauch des auf einmal ziemlich
großen Pferdchens mit dem Sattelgut abzuschnüren, es würde bestimmt an
Luftmangel krepieren. Aber anscheinend machte der engere Sattelgurt Pronny
absolut nichts aus.
„Die Trense habe ich schon angelegt“, sagte Andromeda. „Nimm jetzt die
beiden losen Enden“, sie deutete auf die Lederbänder, „und dirigiere ihn
vorsichtig aus der Box. Und sprich mit ihm.“
„Süßer kleiner Pronny, du kommst doch mit, oder?, stammelte Rebekka,
während sie vorsichtig versuchte, Pronny zum Rückwärtsgehen zu bewegen. Und er
tat es, er ging rückwärts!
„Lieb, lieb“, flüsterte Rebekka. „Jetzt um die Kurve, rückwärts
natürlich, und schon stehen wir startbereit.“
„Und jetzt vorwärts!“ Andromeda lachte. „Du bist ja echt gut.“
„Du willst mich wohl veräppeln. Ich mach’ mir fast in die Hose.“
Mittlerweile waren sie schon in der Reithalle angelangt.
„Stehen bleiben“, sagte Andy leise.
Alle drei standen still. Vor allem Rebekka, denn sie fühlte, jetzt
würde es ernst werden.
„Kommst du alleine hinauf?“ fragte Andy.
„Ich weiß nicht. Wie macht man’s denn?“
„Setz’ deinen linken Fuß in den Steigbügel.“
Rebekka tat wie geheißen.
„Jetzt schwing’ dein rechtes Bein über den Pferdehintern. Ja, du musst
ein bisschen Schwung holen, sonst kriegst du deine Kiste nicht hoch.“
Rebekka kriegte zu ihrem eigenen Erstaunen die Kiste hoch, und sie saß
auf einem Pferd. Irre!
„Findest du den rechten Steigbügel?“, fragte Andromeda.
„Hab’ ihn!“ Rebekka fand es verdammt hoch, ungefähr so hoch, als würde
sie aus dem zweiten Stock eines Hauses gucken. Und dabei saß sie doch nur auf
einem Winzling von Pferd!
„Pronny ist ein so genanntes Doppelpony“, erklärte Andromeda.
„Dann ist es doppelt so groß wie ein Pony?“, fragte Rebekka zerstreut.
Vielleicht hätte ein einfaches Ponypony vollkommen ausgereicht für ihre erste
Reitstunde.
„Nimm die Zügel in die Hände“, Andromeda hatte angefangen, das Pferd
am Halfter zu führen, so dass es langsam vorwärts ging. „Es ist natürlich
größer als ein Pony, aber nicht doppelt so groß. Und ein Pferd ist natürlich
noch viel größer, da hat man manchmal das Gefühl, auf einem dicken Fass zu
sitzen.“
„Auweia!“
„Lass deine Beine einfach mal locker baumeln, dann wirst du merken,
dass sie immer abwechselnd auf seine Flanken drücken. Diesen Druck musst du ein
bisschen verstärken. Dann läuft Pronny weiter.“
Rebekka versuchte es und war erstaunt, wie leicht es ging. Bis sie
dann einen gehörigen Schreck bekam, als sie merkte, dass Andromeda Pronny nicht
mehr führte, sondern dass sie ganz allein mit dem Doppelpony daherschritt oder
ritt oder sonst was...
„Reiten ist wie Autofahren. Allerdings mit einem durchgeknallten
sensiblen Auto, wo die Bremse manchmal nicht funktioniert und die Gänge kaputt
sind...“ Andromeda hatte etwas Ahnung von Autos, denn Max besaß einen
Lister-Jaguar aus den 60er Jahren, an dem er an den Wochenenden herumschraubte,
und Andy durfte ihm manchmal gewisse Werkzeuge anreichen...
„Und wie lege ich den zweiten Gang ein?“ fragte Rebekka, mutig
geworden durch die bisher recht problemlose Reiterei.
„Der... äääh zweite Gang“, sagte Andromeda warnend, „ist der
schwierigste. Hör’ erst mal zu. Hast du die Zügel in der Hand?“
Rebekka bejahte das.
„Nicht hängen lassen, aber auch nicht zu hart anziehen. Dein Hintern
muss Pronny jetzt antreiben, und zwar gegen die Zügel.“
„Warum? Und wieso gegen die Zügel?“
„Er kriegt dadurch diesen erhabenen Gang...“
„Aha?“ Rebekka versuchte es, und wirklich, das Doppelpony ging etwas
schneller.
„Man nennt das Heranreiten“, erklärte Andromeda. „Man muss da sehr
behutsam vorgehen. Die meisten Männer können es nicht. Haben eine zu harte
Hand.“
„Aber Daniel kann es?“ Das rutschte so aus Rebekka heraus.
„Daniel hat eine gute Hand“, bestätigte Andromeda, sie wurde ein wenig
rot, aber da sie hinter Rebekka und Pronny herging, sah es niemand.
Eine gute Hand, Rebekka musste in sich hineinkichern, tja die hatte er
wohl...
„Und jetzt solltest du mit beiden Unterschenkeln gleichzeitig ständig
leicht an seinen Bauch anklopfen.“
Wenn der Postmann zweimal klopft oder klingelt, Rebekka tat es
einfach, und das Doppelpony fiel in einen unruhigen Trab, der sie total
durchschüttelte, bis ihr das Kichern verging.
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Zur gleichen Zeit saßen Archie und Daniel im Keller der Kampeschen
Brauerei. Auf dem langen Tisch war ein kaltes Büffet aufgebaut, es sollte den
Bierprobanden Durst verschaffen und den Geschmack für ein neues Bier
freimachen. Es gab Kaviar, salzig dänische Fischhäppchen, hausgemachte
Mettwurst, getrockneten Schinken – und lange Baguettestangen für Leute, die das
salzige Zeug nicht pur essen wollten.
Außerdem gab es viele viele verschiedene Flaschen Bier aus allen
möglichen Ländern, und es gab auch viele viele Bierfässchen aus allen möglichen
Ländern, aus denen frisch gezapft wurde. Nein, natürlich nicht aus den Ländern,
sondern aus den Fässchen.
„Woher stammen die von Kampes denn nun eigentlich?“ Daniel wollte sich
ein bisschen von seinen Gedanken ablenken. Die beschäftigten sich nämlich nach
wie vor mit Rebekka und Morgaine.
„Zuerst waren wir Franzosen, oder besser gesagt französische
Protestanten, auch Hugenotten genannt. Durch das Edikt von Nantes gab man uns
Religionsfreiheit“, Archie schnaubte verächtlich vor sich hin, „um sie uns
später durch das Edikt von Fontainebleau wieder wegzunehmen. Prost Daniel!“ Er
hob sein Glas, um Daniel zuzuprosten. „Der Sonnenkönig und seine dämliche
Mätresse, die Marquise de Maintenon, die beiden haben uns das eingebrockt!
Diese fromme Dame hat er dann später heimlich geheiratet und seitdem...“
Archibald bekam einen leichten Schluckauf und musste seine Ausführungen
unterbrechen, und als er wieder anfing zu reden, da hatte er das Thema
verloren, aber ein anderes dafür gefunden: „Rebekka interessiert sich sehr für
die französische Geschichte...“
„Du bist wohl viel mit ihr zusammen?“ Daniel konnte sich die Frage
nicht verkneifen.
„Nicht genug, Daniel, nicht genug. Übrigens hat sie angefangen,
Stendhal zu lesen...“
„Den Schwätzer? Du hast ihr doch hoffentlich abgeraten!“
„Hab’ ich, hab’ ich, aber sie hört ja nicht auf mich“, sagte Archie
bedauernd. „Und wie schmeckt dir das Ale?“
„Nicht schlecht“, sagte Daniel zustimmend, während er darüber
nachgrübelte, warum Rebekka nicht IHN fragte, ob ein Buch gut oder schlecht zu
lesen wäre. Damals hatten sie doch auch Bücher getauscht, und von Stanislaw Lem
war sie begeistert gewesen. Zu dieser Zeit lebte sie noch mit dem Arschloch
Michael zusammen, und sie wusste anscheinend gar nicht, wie attraktiv sie
war... Daniel riss sich heftig zusammen, erinnerte sich an die ungeklärte
Marquise und fragte: „Was war denn jetzt mit der Marquise?“
„WAS? Wir haben doch Sonnenschutz genug auf der Terrasse!“
„Nein, nicht DIE Marquise. Die Markise de Dingsbumms, die der ääääh...
Ludwig geheiratet hat.“
„Ach die...“ Archibald machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die war
so fromm, mein Gott, war die fromm!“
„Fromme Frauen sind nichts für mich“, murmelte Daniel laut vor sich hin.
Obwohl sie nicht fromm war, musste er an sie denken, an Susanne, das
bezaubernde, kleine Mädchen, seine erste feste Freundin. Allerdings war das
Bezaubernde bald vorbei. Sie fing an, ihn zu verdächtigen, obwohl das absurd
war, es gab heftige Eifersuchtsszenen, die meistens damit endeten, dass sie zu
ihrer Mutter fuhr, dort ein paar Tage blieb, bis Daniel es nicht mehr aushielt
und sie dort abholte, zerknirscht und schuldbewusst, obwohl er doch gar nichts
getan hatte. Und die Mutter war im Gegenzug so oft da, dass Daniel sich
beobachtet, taxiert und abgewertet vorkam. Er war viel zu schlecht für Susanne,
die hatte was Besseres verdient, und zwar mindestens einen Studierten mit einem
tollen Posten... Daniel war zwar auch ein Studierter, aber damals hatte er noch
nicht die rechte Lust gehabt, als Ingenieur zu arbeiten. Stattdessen führte er
ein Lokal, nämlich das Eye-Q. Es war natürlich nicht so einträglich wie das
Jedermann, in dem sein wortkarger Freund Max arbeitete, doch es lief ganz gut.
„Für mich aunich! Zirza, die iss gar nich fromm, die hat Sachen
drauf...“ Archie verstummte und guckte in seine Bierflasche, wobei er aussah
wie ein vorwitziger Kater, der mit nur einem Auge in das Loch eines
Starenkastens starrt
„Fromme Frauen!!! Nein danke.“ Daniel schüttelte sich und dachte
weiter nach. Irgendwann war er Susanne nicht mehr nachgefahren, und das war der
Anfang vom Ende.
„Relligiliön oder Liebe! Is doch alles gleich. Daniel, jetzt probieren
wir ein leichtes Guinness! Assolut ohne Schaum...“
Wie durch einen Nebel hindurch hörte er Archie erzählen, dass die du
Campes, so hießen sie früher, die alte Heimat Frankreich verlassen mussten.
Als Susanne ihn verlassen hatte, traf er sich ab und zu mit ihrer
Freundin Marissa. Sie war so verständnisvoll, und sie sah nicht übel aus. Er
fing an, sie zum Essen einzuladen, und das einzige Gesprächsthema, das sie
zuerst hatten, drehte sich um Susanne.
Warum ist sie weg, fragte er Marissa. Marissa zog verzweifelt die
Schultern hoch, sie wusste es auch nicht, oder sie wollte es ihm nicht sagen.
Dennoch nahm sie gerne seine Einladungen an, verhielt sich aber unheimlich
spröde. Er schob es darauf, dass sie Susannes Freundin war und Susanne nicht
verletzen wollte.
Er verabredete sich mit anderen Frauen, war erstaunt darüber, dass er
ohne weiteres guten Sex mit ihnen haben konnte, denn das Zusammenleben mit
Susanne und ihrer allgegenwärtigen Mutter hatte sein Selbstwertgefühl ziemlich
niedergemacht, außerdem war für das Kindmädchen Susanne Sex nur Pflicht gewesen
und keine Kür...
„Diesch Bier ist wirklisch eine Kür und keine Flicht...“ Oh Gott,
jetzt fing er auch schon an, zu stammeln. Zuviel getrunken...
„Es hat eben viel Körper“, Archibald spuckte das Bier auf den Boden
und aß ein Stück Weißbrot. Er hatte wohl im Kopf, dass er einer Weinprobe
beiwohnte, in der die Weintester auch immer den Wein auf den Boden oder sonst
wohin spuckten.
Daniel tat es ihm nach. Spuckte das Bier aus und fing an zu lachen,
weil er wieder an die Vergangenheit denken musste.
Er hatte sich dann in Marissa verliebt. Vielleicht war der Grund dafür
ihre Schönheit und ihr Mangel an Hysterie. Sie war eine zurückhaltende Frau,
die ab und zu recht witzige Bemerkungen machte. Sie war anständig, genau das
war sie. Sie hätte seiner Mutter gefallen. Im nachhinein dachte Daniel eher,
dass sie zu feige oder prüde war. Aber damals vermutete er eine versteckte
Leidenschaft in ihr. Seine Werbung zog sich über Wochen hin, Marissa war ein
zäher Brocken, aber das steigerte seine Liebe zu ihr noch. Sie besuchten sogar
gemeinsam Susanne, die wieder bei ihren Eltern lebte. In Daniels Hinterkopf
erschien eine andere Frau, nämlich Rebekka. Sie war auch dabei gewesen.
Rebekka, die schöne, aber vollkommen unzugängliche Freundin von diesem
Arschloch Michael. Sie war zwar mitgefahren, doch sie war weit weg, immer in
Gedanken versunken. Es war ein seltsamer Tag. Er und Susanne versuchten
miteinander zu reden, doch die Fronten waren verhärtet und nicht mehr zu
reparieren.
Später ging man in das Freibad, es war ein heißer Tag in einem heißen
Sommer, und alle hatten Badesachen mitgenommen. Daniel versuchte, sich zwischen
seiner Exfreundin Susanne und seiner zukünftigen Freundin Marissa aufzuteilen,
aber das kam bei beiden nicht gut an. Und Rebekka schien sich höchst
überflüssig zu fühlen, so eine schöne Frau mit so aufregenden Brüsten... Sie
trug einen winzigen weißen Bikini mit roten Rändern, das wusste er noch genau,
und sie hatte ihr Oberteil anbehalten im Gegensatz zu Susanne und Marissa, die
oben ohne praktizierten. Auf dem Heimweg unterhielt er sich im Auto mit Marissa
über ihre gemeinsame Zukunft. Rebekka lag schlafend hinter ihnen auf dem
Rücksitz, aber trotzdem fühlte er sich seltsam befangen.
„Ich glaube, mein Schmack is weg“, sagte Archie gerade. „Lass noch ein
bissel essen, denn jetzt Bockbier!!!“
Das Bockbier war allerdings das letzte Bier für die beiden an diesem
Tage. Bockbier hat nämlich die Eigenschaft, nicht nur die Zunge und die
Stimmbänder lahm zulegen, sondern auch das Gehirn mit seinen großartigen
Gedanken.
Aber trotz geistiger und körperlicher Gelähmtheit erinnerte sich
Daniel immer noch gut an die Vergangenheit. Er hatte Marissa bekommen! Er hatte
sie ins Bett gekriegt und mit ihr geschlafen. Sie kam ihm zwar ein wenig
teilnahmslos vor, aber sie machte einen erfreuten und zufriedenen Eindruck. Es
war nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte, aber er würde ihre
Teilnahmslosigkeit bezwingen durch Fürsorge und Zärtlichkeit, und dann würden
sie sich auch körperlich richtig lieben können...
Da hatte er sich ja ganz schön was vorgemacht. Das grenzte ja fast
schon an Idiotie. Er klopfte mit der Baguettestange im Takt auf den Tisch: I!
DI! O! TI!... ! DI! O! TI!...
Als Max Lakosta kurz darauf erschien, um die Probanden in seinen
Landrover zu verfrachten, waren alle total besoffen und laberten nur noch
blödes Zeug. Es war ein Glückstag für Max: Keiner kotzte ihm ins Auto.
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KAPITEL
III – Teil 3 HELDEN und BÜCHER
Rebekka sah Daniel und Andromeda zufällig, als sie in den Hof
einritten. Daniel saß auf einem weißen Pferd. Der Held auf dem weißen Pferd,
sie musste lachen...
Archibald kam ein paar Minuten später in die Bibliothek, er wollte ihr
einiges zum Lesen empfehlen. Sie mochte ihn, und sie fand ihn irgendwie väterlich,
obwohl sie normalerweise mit dem Begriff ‚väterlich’ ganz was anderes verband.
„Sag’ mal Archie, ihr habt ein eigenes Mausoleum?“
„Es ist da, zweifelsohne. Und es ist unsere Familiengruft.“
„Ich fasse es nicht! So was gibt es noch?“ Rebekka konnte es kaum
glauben.
„Ich weiß, es ist nicht mehr üblich. Aber wir leben mit unseren
Vorfahren im Einklang. Und manchmal habe ich das Gefühl, einer der Ahnen wollte
mir etwas erzählen...“
„Das klingt seltsam, irgendwie nach Gruselfilm.“ Rebekka blickte nachdenklich
vor sich hin. „Den meisten Menschen sind die Toten doch unheimlich. Zumindest
in der Stadt ist es so. Da kriegt man schon Krämpfe, wenn man eine tote Taube
sieht.“
„Aber hier ist es anders. Wir auf dem Lande kennen das Leben, den Tod
und auch das Sterben. Und warum sollte ich nicht darauf hören, was einer meiner
Ahnen mir erzählt?“
„Ich beneide dich, Archie“, es klang ein wenig verzweifelt. „Habe ich
Ahnen? Ich glaube, ich habe noch nicht einmal Verwandte...“ Das stimmte, ihre
Eltern waren anscheinend ganz allein auf dieser Welt, kein Onkel, keine Tante
war jemals vorbeigekommen, bis auf ein einziges Mal, aber da war sie noch
ziemlich klein gewesen, und diese Tante war nie wieder bei ihnen erschienen.
Archibald von Kampe nahm sie daraufhin kurzentschlossen in den Arm und
wiegte sie tröstend. „Ach Rebekka, man muss nicht unbedingt Verwandtschaft
haben...“
Rebekka atmete seinen Geruch ein, er roch männlich, nach Erde und nach
Verständnis, es war angenehm, aber es war nicht das, was sie wollte. Aber was
sie wollte, das wusste sie auch nicht. Sie entzog sich unauffällig seiner
Umarmung und sagte: „Was sind das für Tote, hast du eine persönliche Beziehung
zu ihnen?“
„Ja sicherlich“, Archibalds Stimme klang ernst. „Da sind meine Eltern.
Sie sind früh gestorben, sie hatten einen Autounfall Mitte der 60er Jahre...“
„Oh! Und wie alt warst du da?“
„Ich glaube, da war ich achtzehn.“
Aha, jetzt hatten sie das Jahr 2000, also musste Archie ungefähr
dreiundfünfzig Jahre alt sein. Dafür sah er echt gut aus. „Das ist seltsam!
Aber was sagen sie dir, wenn du mit ihnen... redest?“ Rebekka hatte das
irrationale Gefühl, diese Sache verstehen zu können, Ahnen, mit denen man
verbunden war, die mit einem sprachen... Vielleicht fühlte man sich dann nicht
so entwurzelt wie sie selber mit ihrer erbärmlichen Familie, die eigentlich nur
aus den Eltern und dem kleinen Bruder bestand.
„Meine Eltern haben mich getröstet nach Kassiopeias Tod...“ Archibald
lächelte. „Ich weiß, das hört sich unglaubwürdig an.“
„Irgendwie nicht“, sagte Rebekka und wunderte sich darüber, dass sie
mit einem doch relativ Unbekannten so ein Thema beredete. „Und Kassiopeia?
Nein, das geht mich gar nichts an!“
„Kassiopeia will alles über Andromeda wissen, und ich erzähle ihr, was
Andromeda so treibt.“ Tatsächlich griff Archie sich an die Augen, um dort
irgend etwas zu verscheuchen, aber er fasste sich schnell wieder und fuhr fort:
„Die ganz Alten, die schon länger hier liegen, sind fast stumm. Oder sie
murmeln nur. Manche sind nicht so nett, aber bösartig sind sie auch nicht...“
„Vielleicht haben sie ja Schlimmes erlebt.“
„Ja vielleicht.“ Archie schwieg eine Weile vor sich hin und sagte dann
schließlich: „Ein paar Jahre nach dem Unfall unserer Eltern hatte Claudia die
Fehlgeburt, es muss 1970 gewesen sein. Aber dieses Kind ist sehr schweigsam,
als wäre es gar nicht da, ganz im Gegensatz zu dem anderen, dem Enkelkind von
Tante Bernadette, das plappert ohne Unterlass...“
„Ich bin auch 1970 geboren, was für ein Zufall!“ Rebekka suchte ein
neutrales Thema, um das Gespräch wieder in normale Bahnen lenken zu können.
„Vielleicht mag Claudia dich deswegen so gerne“, Archie sah sie
aufmunternd an. „Du könntest ja wirklich ihre Tochter sein.“
„Das wäre schön, aber leider kann man sich seine Mutter nicht
aussuchen.“ Sie lächelte Archie an und wandte sich wieder den Büchern zu.
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„Das sind meine Bücher“, Andy wies auf ein gut gefülltes Bücherregal,
das rechts vom Fenster in die Wand eingebaut war. „Ich habe sie alle gelesen,
die meisten schon, als ich neun war.“
Daniel trat neugierig näher, zog vorsichtig ein Buch aus der obersten
Reihe und las den Titel: Lady Chatterley.
„Das hast du mit neun gelesen?“, fragte er zweifelnd.
„Klar! Und ich habe alles verstanden“, behauptete Andy stolz.
„Da ist nichts drin, was anstößig wäre für so ein zartes Alter“,
meinte Daniel lächelnd, er überflog flüchtig die anderen Titel in dieser Reihe
und war froh, dass ‚Die Geschichte der O’ nicht dabei war. Das hätte er dann
doch als unpassend empfunden, die Geschichte um den Masochismus einer Frau, die
sich einem Mann total unterwirft – und schließlich von ihm weitergereicht wird
an einen Freund. Eine Spielart der Lust, aber so etwas sollte ein kleines
Mädchen nicht lesen, er jedenfalls würde seine Tochter – wenn er denn eine
hätte – davon abhalten...
„Schau an, was haben wir denn hier?“ Er nahm den Roman ‚Lolita’ aus
dem Regal und blätterte ihn schnell durch. „Hast du die Bücher geerbt?“
„Sie stammen teilweise von meiner Mutter, aber die meisten sind von
Tante Claudia. Sie wollte sie nicht wegwerfen, sie sagt immer: Auch der größte
geschriebene Mist hat einen Sinn, nämlich den Mist darin zu erkennen. Und sie
sagt auch: Es gibt wirklich nichts, was nicht an subjektiver Idiotie irgendwann
auf Papier verewigt worden ist.“
„Da hat sie verdammt noch mal Recht!“ Daniels Respekt vor Claudia
Mansell wuchs. Zuerst war er ja skeptisch gewesen, als er sah, wie Rebekka und
vor allem auch Morgaine immer bei ihr rumhingen, aber sie schien schwer in
Ordnung zu sein.
„Das mit Lolita“, Andy nahm Daniel den Roman aus der Hand, „kann man
doch verstehen, oder? Ein ganz junges Mädchen, noch keine Frau, könnte doch
anziehend auf einen viel älteren Mann wirken. Oder etwa nicht?“
„Vielleicht... Ich glaube allerdings, er hat es anders gemeint. Er hat
sich an Mädchen aufgegeilt, die noch keine richtigen Frauen waren, weil er
Angst vor richtigen Frauen hatte.“
„Du findest also junge Mädchen nicht attraktiv, Daniel?“ Andy hatte
Daniel bei seinem letzten Satz gar nicht richtig zugehört.
„Das habe ich nicht gesagt. Natürlich sind sie schön... Aber für
meinen Geschmack fehlt ihnen doch einiges.“
„Du meinst, sie können noch keine richtige Liebe empfinden?“
„Das ist... äääh, das weiß ich nicht“, Daniel zuckte zusammen, als ihm
ein bestimmter Gedanke kam. Konnte es sein, dass sie in ihn verliebt war? Kam
Max deshalb nicht so richtig aus sich heraus, war er etwa eifersüchtig auf ihn?
Das würde einiges erklären. Max hielt sich von ihm fern und brachte immer neue
Ausreden an, warum er keine Zeit für ihn hatte. Aber Daniel wollte mit ihm
Gitarre spielen, wollte sich mit ihm unterhalten, denn er mochte ihn sehr,
diesen verschlossenen Mann.
„Du weißt doch, dass Rebekka und ich uns von früher kennen“, begann er
vorsichtig.
Andromeda schaute ihn gespannt an.
„Ich war damals noch mit einer anderen Frau zusammen, aber es ging
nicht mit ihr. Es war...“
„Es war was?“
„Es war Murks“, Daniel lächelte schief. „Rebekka und ich, wir
verbrachten eine Nacht zusammen. Und ich habe mich noch nie so gefühlt wie in
dieser Nacht...“
„Ja aber...“
„Ich weiß, es war nicht richtig, und Rebekka wusste das auch. Sie
wollte nichts mit mir zu tun haben, ich war ihr total egal.“ Daniel machte eine
kurze Pause, bevor er weiter sprach. „Doch später dann erfuhr ich, dass es ihr
doch nicht so egal war...“
„Und wieso wusstest du das, Daniel? Du kannst doch nicht in Leute
hineinsehen.“ Andromedas Stimme klang belegt und verlegen. „Und vielleicht war
es ihr ja wirklich egal.“
Daniel zögerte mit der Antwort. Er hatte noch nie mit jemanden über
die Sache gesprochen, denn es hörte sich mit Sicherheit ziemlich abstrus und
unwahrscheinlich an.
„Es ist seltsam“, begann er unsicher und suchte nach passenden Worten.
„Ich glaube, ich habe Visionen, ich sehe vielleicht Sachen aus der Zukunft, ich
kann sie zwar nicht richtig erkennen, aber einiges doch. Da ist ein Traum, in
dem ich Morgaine sehe.“
„Die kleine Morgaine? Aber das ist doch nichts Besonderes!“
„Nein, nicht die kleine Morgaine, sondern die große Morgaine.“ Daniel
schaute Andromeda forschend an und suchte in ihr ein gewisses Verständnis.
„Wieso die große Morgaine“, fragte sie ungläubig.
„Es ist die Morgaine, die etwa fünfundzwanzig Jahre alt ist“, sagte
Daniel und beeilte sich zu erklären: „Ich weiß, dass sie es ist! Denn jetzt
habe ich sie auch in der Wirklichkeit gesehen. Sie sieht in dem Traum immer
noch so aus, älter zwar, aber es ist Morgaine, das weiß ich. Und ich glaube,
ich bin ihr Vater.“
„Nein!“ Andromeda war geschockt. Bis jetzt hatte sie ihm ungläubig
zugehört, aber das mit Morgaine war zu seltsam, um nicht zu stimmen. Jetzt
fielen ihr auch gewisse Ähnlichkeiten zwischen Daniel und Morgaine auf, die
anscheinend noch kein anderer bemerkt hatte. Die Augen zum Beispiel, die gerade
Nase und überhaupt die Mimik, die beide so sparsam hatten, die aber
unverwechselbar war.
„Doch, es ist wahr. Und es steht wohl fest, dass Rebekka und ich
zusammenkommen werden. Morgaine weiß das auch…“ Es stimmte, er hatte diesen
seltsamen Traum schon öfter gesehen, und er wurde immer klarer. Das Hochzeitsbild
über dem Kamin zeigte ihn und Rebekka, dessen war er sich sicher, und obwohl
das natürlich absurd war, konnte er sich der Vorstellung nicht entziehen, wie
es wohl wäre, wenn es so wäre...
„Was denn? Morgaine ist auch...“
„Viel mehr als ich“, Daniel biss sich auf die Lippen. „Bei mir ist es
kaum ausgeprägt. Aber Morgaine hat eine unglaubliche Kraft in dieser Beziehung,
obwohl sie noch so jung ist. Bei mir ist es erst in den letzten Jahren
gekommen, eigentlich erst, seitdem Morgaine existiert. Wenn ich es früher
gehabt hätte, dann hätte ich vielleicht nicht so viel Mist gebaut...“
„Das ist doch Quatsch, Daniel!“ Andy überlegte angestrengt, bevor sie
sagte: „Wenn du dieses oder jenes nicht getan hättest, dann wärst du doch gar
nicht mit Rebekka zusammengekommen, und Morgaine wäre auch nicht da.“
„Interessante Einsicht, Kitten! Ich merke schon, du verstehst es, im
Gegensatz zu mir. Ich rätsele nämlich immer noch herum, ob diese Visionen nur
Möglichkeiten zeigen, die vielleicht wahr werden können, es aber nicht
unbedingt müssen.“
„Man muss natürlich etwas dafür tun“, sagte Andromeda weise, während
ihr gerade schemenhaft bewusst wurde, dass er für sie verloren war. Falsch,
nicht verloren, denn man kann nur etwas verlieren, was man gehabt hat. Und sie
hatte ihn nie gehabt.
„Da hast du Recht, Andy! Aber es ist schon seltsam, auch die Tatsache,
dass ich hier bin. Ich hatte mehrere Träume, in denen ich Rebekka sah. Zuerst
wusste ich nicht, wo sie war. Doch dann erkannte ich das Herrenhaus, weil Max
mir mal ein Bild davon gezeigt hatte. Und ich sah, wie sie weinte. Also kam ich
auf die Idee mit der Einladung, ich rief Max an und machte alles klar mit ihm.“
Nach einer nachdenklichen Pause fügte Daniel hinzu: „Es war einfach ein Schuss
ins Blaue...“
Andy hörte seine Stimme wie durch einen Nebel hindurch, das Blut stieg
ihr ins Gesicht, und sie fühlte förmlich, wie ihr irgendetwas in der Herzgegend
wehtat. Wellen des Schmerzes breiteten sich in ihrem Körper aus, und sie konnte
nur schwer Luft holen. Sie senkte den Kopf, damit er ihr nicht ins Gesicht
schauen und vor allem ihre Augen nicht sehen konnte. Mühsam gewann sie ihr
seelisches und körperliches Gleichgewicht wieder, aber währenddessen jagten
ihre wirren Gedanken umher. Morgaine war vielleicht sein Kind? Sie hatte zwar
gespürt, dass zwischen Daniel und Rebekka etwas war, aber so etwas? Das konnte
nicht sein. Doch, es stimmte. Daniel würde sie nie anlügen.
Er war für sie verloren. Wieder tat etwas in ihrer Herzgegend weh,
aber sie riss sich zusammen. „Und was ist mit Rebekka? Warum hat sie es dir
nicht gesagt?“
„Ich glaube, sie weiß es selber nicht“ sagte Daniel und verzog das
Gesicht. „Sie behauptet doch tatsächlich, den wirklichen Vater hinausgeworfen
zu haben...“
„Du liebst sie?“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. All
ihre Träume gingen gerade den Bach herunter, ihre Liebe zu ihm war sinnlos. Er
liebte eine andere und hatte ein Kind mit ihr.
„Ja“, sagte Daniel schließlich. Es klang hilflos, als ob er nicht
wüsste, warum es so war.
Andy streckte ihre Hand aus und berührte zart seinen Mund. Er war für
sie verloren, aber zu ihrer Verwunderung fühlte sie sich seltsam erleichtert.
Es tat gar nicht mehr so weh, und was hatte sie sich überhaupt vorgestellt?
Eigentlich nur ein paar Küsse, vielleicht ein bisschen mehr, aber sie hatte
sich nie richtig ein Leben mit ihm vorstellen können. An einem bestimmten Punkt
hatten ihre Liebesphantasien immer stagniert, alles hatte aufgehört zu sein und
war sozusagen im Nichts verlaufen...
Daniel nahm ihre Hand von seinem Gesicht und küsste Andy leicht auf
die Wange, bevor er sich zurückzog.
„Ich bin ein ziemlich verkorkster Typ. Ich hoffe, du verliebst dich
nicht in so einen wie mich, wenn du dich mal verlieben wirst.“
„Bestimmt nicht“, sagte Andy mit leicht zitternder Stimme.
„Ach Kitten! Ich gehe mit dir jede Wette ein, dass du ein cleveres
Mädchen bist.“
„Ich weiß nicht. Ich heiße nicht umsonst Andromeda.“
„Wie meinst du das?“
„Meine Mutter war zur Hälfte Griechin“, Andromeda zog mit
traumwandlerischer Sicherheit ein dickes zerfleddertes Buch aus dem
Bücherregal.
„Griechische Sagen? Die sind hochinteressant.“ Das stimmte, er fand
sie wirklich hochinteressant, vor allem, weil viele Sternbilder aufgrund dieser
Sagen ihre Namen erhalten hatten.
Andromeda schwieg eine Weile, sie dachte an ihre Mutter, an die
unbekannte Frau, die sie zur Welt gebracht hatte. Eigentlich war sie ein
zufriedenes, meistens sogar glückliches Mädchen, ihre Tanten hatten sie
liebevoll großgezogen, aber in bestimmten Momenten vermisste sie doch ihre
Mutter.
„Warum heiße ich so? Es gibt doch bestimmt einen Grund dafür. Aber wo
ist dann mein Perseus?“ Natürlich war es kein Wunder, dass Andromeda sich von
allen griechischen Sagen ausgerechnet die vom Perseus ausgesucht hatte.
Perseus, der Bezwinger der schrecklichen Medusa, Perseus, der Retter der
Königstochter Andromeda, die einem Meeresungeheuer geopfert werden sollte, denn
ihre Mutter Kassiopeia hatte die Götter beleidigt.
„Die Geschichte hinkt aber“, Daniel lächelte. „Deine Mutter hat
bestimmt nicht die Götter beleidigt. Und außerdem brauchen die Mädchen
heutzutage keinen Perseus mehr, die können sich gut selber helfen.“
Andromeda seufzte in sich hinein.
„Du wirst deinen Perseus schon finden. Vielleicht hast du ihn ja schon
gefunden.“ Daniel dachte dabei an Max, der Andromeda damals im Wald entdeckt
und wahrscheinlich vor dem Tode gerettet hatte. „Aber wie gesagt, Kitten, du
brauchst ihn nicht wirklich.“
Hier irrte Daniel, er irrte nicht oft, aber hier irrte er...
„Wäre aber trotzdem schön, wenn...“, murmelte Andromeda vor sich hin.
Dann riss sie sich zusammen, und ihr Körper straffte sich: „Ist ja auch egal.
Eigentlich wollte ich zu Max. Darf ich es ihm erzählen? Ich muss es ihm
erzählen!“
„Er ist kein Schwätzer, oder?“ Die Frage war natürlich rein
rhetorisch, Daniel wusste, dass Max kein Schwätzer war. „Aber erzähl’ ihm nicht
das von den Fähigkeiten. Ich bin mir ja selber nicht sicher, ob und
überhaupt... Erzähl’ ihm nur, dass Morgaine meine Tochter ist.“ Daniel wandte
sich zum Gehen.
„Max ein Schwätzer? Das ist er bestimmt nicht!“ Andromeda musste
lachen, dennoch war der Blick, den sie Daniel hinterher schickte, voll Trauer
und Verzicht. Aber seltsamerweise aber auch voll Erleichterung.
Aber als Max kam, da war alles wieder richtig, sie musste sich ihm
gegenüber nicht verstellen, sie musste sich nicht älter geben, als sie war. Und
sie konnte mit ihm schweigen, ohne dass sie verlegen wurde.
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KAPITEL
III – Teil 4 HERRIN der ERBSENFELDER
Rebekka bereute schwer, dass sie sich auf die Sache mit der
Erbsenpflückerei eingelassen hatte. Man weckte sie nämlich um halb sechs,
heiliger Strohsack!
Das Frühstücksbüffet
war noch nicht aufgebaut, stattdessen gab es Essenspäckchen – bestimmt gefüllt
mit leckeren Sachen – und beschriftete Thermoskannen. Rebekka hatte trotz der
verdammten Herrgottsfrühe schon so einen Hunger, dass sie am liebsten eins der
Päckchen aufgemacht und ein wenig vom Inhalt genascht hätte. Stattdessen goss
sie sich eine Tasse Kaffee ein, um einigermaßen wach zu werden.
Außer ihr kamen noch zwei andere verschlafen aussehende Frauen mit,
Sammys Gattin, Miss die geile Biggi genannt – und eine pummelige Dunkelhaarige,
die vorgestern mit Mann und zwei Kindern eingetroffen war. Auch einige Frauen
aus dem Dorf standen am Büffet und packten sich Essbares ein.
„Hallo Ladies!“ Max sah überaus blendend und gutgelaunt aus. Im
Schlepptau hatte er Andromeda, die wohl auch aus dem Bett gefallen war.
„Du kommst mit!“ Rebekka blickte Andy erleichtert an.
„Klar doch komme ich mit. Max hat gesagt, ich hätte es mal wieder
nötig.“
Miss die geile Blondine Biggi fing giggelig an zu lachen, und Andy
schaute sie verwundert an.
Max jedoch ignorierte ganz souverän das giggelige Lachen. „Also
Ladies, habt ihr Kopftücher, Hüte? Sonnenschutz? Essensrationen?“
Alle nickten.
„Dann können wir ja los.“ Max wandte sich zur Tür. „Wir machen es
heute richtig ökologisch, das heißt, kein Benzin, keine Maschinen. Nur reine
geballte menschliche, oder besser gesagt weibliche Arbeitskraft. Männer haben
sich leider keine gemeldet, die sind sich bestimmt zu schade für ehrliche
Arbeit.“
Diese Worte wurden mit zustimmendem Gemurre begrüßt, und jede Frau,
auch die älteste und verhärmteste sah Max an, als wäre er eine Offenbarung. Was
er ja wohl auch war...
„Sag’ mal, sieht es nicht nach schlechtem Wetter aus?“ Rebekka knuffte
Andromeda zart in die Seite.
„Nee, Rebekka.“ Andromeda fing an zu lachen. „Außerdem muss gepflückt
werden, egal wie schlecht das Wetter ist.“
Rebekka seufzte auf, sie machte sich ein bisschen Sorgen wegen
Morgaine. Sabine würde im Laufe des Vormittags mit Georg und der
Zigarettenschnorrerin nach Hause fahren. Während der letzten Tage hatte sie
nicht viel von Sabine gesehen und seltsamerweise von Archie auch nicht. Hatten
die beiden was am Laufen? Wie auch immer, Claudia und Daniel wollten auf
Morgaine achten. War Claudia zuverlässig? Ihre seltsame Psychose… Nein, sie
vertraute ihr. Und Daniel auch, er war ja ganz verschossen in Morgy, führte
sich fast so auf, als wäre er ihr Vater. War Daniel zuverlässig? Als Mann
vielleicht nicht, aber als Vater bestimmt. Sie schüttelte unmerklich den Kopf
und ließ diesen Gedanken fallen wie eine heiße Kartoffel...
Vor dem Herrenhaus stand ein Leiterwagen, vor ihn waren zwei gewaltig
große Ackergäule gespannt. So dicke Hintern hatte Rebekka selten gesehen. Außer
vielleicht bei der Wirtin Maid Marian in Kampodias einziger Kneipe...
Unter Gejohle kletterten alle mehr oder weniger umständlich auf das
hölzerne Gefährt, sie setzten sich hin, und ließen ihre Beine zwischen den
Holzstangen des Leiterwagens herunterbaumeln. Unter weiterem Gekicher ging die
Fahrt dann los. Andromeda saß vorne neben Max auf dem Kutschbock. Sie trug eine
weite bequeme Hose und hatte einen Strohhut aufgesetzt. Sie konnte tragen, was
immer sie wollte, sie sah fantastisch aus. Rebekka erkannte das neidlos an.
Auch Max schien das zu finden, denn er hatte wieder diesen Blick, den
er nur bekam, wenn Andromeda in der Nähe war.
Nach einer vergnügten Fahrt erreichten sie die sagenumwobenen Erbsenfelder,
die durch niedrige und weniger niedrige Hecken in unregelmäßige Quadrate
unterteilt waren.
„Das hat Max angeordnet. Max sagt, die Vögel brauchen Unterschlüpfe,
sie müssen ja irgendwo nisten. Und Max sagt, er braucht Vögel, um das
Ungeziefer in Schach zu halten. Denn es gibt natürlich Ungeziefer, wenn die
Felder nicht mit Pestiziden besprüht werden. Außerdem befestigen die Hecken den
Boden, und er wird nicht durch Wind und Regen weggespült.“
„Das leuchtet mir ein.“ Rebekka musste in sich hineinlächeln,
Andromeda schien sich ja mächtig für Max’ ökologische Maßnahmen zu
interessieren.
Mehrere Frauen aus dem Dorf knieten schon auf rauen Wolldecken und
pflückten Schoten von den abgeschnittenen Erbsenpflanzen, die wie ein Teppich
über das Feld verstreut lagen. Alle hatten Jutesäcke neben sich, von denen
einige schon fast voll waren. Die mussten ja verdammt früh aufgestanden sein!
„Okay, holt euch Decken und fangt am besten da hinten an, da wo die
leeren Säcke liegen“, Max deutete mit dem Arm in die ungefähre Richtung. „Ich
komme dann um die Mittagszeit vorbei, um die ersten wieder mitzunehmen.“
„Du bleibst nicht hier?“, fragte Rebekka. Auch die anderen Frauen
schauten enttäuscht, mit Max wäre das Erbsenpflücken um einiges erotischer
gewesen, denn fast jede von ihnen hatte schon davon geträumt, wie es wohl mit
ihm wäre...
„Leider nicht“, grinste Max, dessen gute Laune schier unerträglich
war. „Aber ihr werdet auch ohne mich klarkommen.“ Er bestieg den Leiterwagen,
dirigierte die riesigen Ackergäule in einem großen Kreis wieder zurück, winkte
den Frauen zu und verschwand dann langsam hinter der nächsten Biegung des
Feldwegs.
„Selber Sack!“, sagte Andromeda, während sie ihm hinterher sah.
Nach zehn Minuten eifrigen Pflückens taten Rebekka die Knie und sonst
noch einiges weh.
„Ignoriere den Schmerz“, wurde sie von Andromeda ermahnt.
„Du hast gut reden. Ich glaube, meine Kniescheibe ist bald durch“,
maulte Rebekka und versuchte, ein wenig hin und herzurutschen, um den Druck zu
mindern.
„Das geht schon vorbei“, sagte Andromeda tröstend.
Und tatsächlich ging es vorbei. Rebekka staunte nicht wenig, sie
musste bäuerliche Vorfahren haben, so unverwüstlich wie sie war.
„Warum hat Biggi eben so dämlich gekichert?“, fragte Andromeda eine
Weile später.
Rebekka sah schnell zu Andy hin und stellte fest, dass ihr Jutesack
nicht viel voller aussah als ihrer. „Sie ist nicht besonders glücklich mit
Sammy. Vielleicht hat sie sich was Besseres unter der Ehe vorgestellt.“
„Aber deswegen“, Andromeda verzog ihren hübschen Mund, „muss sie doch
nicht jeden Kerl anmachen...“
„Doch, das muss sie!“ Rebekka kam mächtig in Fahrt. „Die macht jedem
schöne Augen. Zu Daniel kommt sie auch immer an: Hach, mein Kühlschrank geht
nicht auf. Oder: Hach, ich krieg das Fenster nicht zu. Hach, mein Wellensittich
muss entwurmt werden – und so Sachen. Warum fragt sie nicht ihren eigenen
Mann?“ Rebekka war ein bisschen sauer auf Biggi. Und auf Daniel auch. Denn
irgendwie hatte sie das Gefühl, er würde das genießen, vor allem, wenn sie es
mitkriegte. Witzbold, was bildete der sich ein?
Bei Daniels Erwähnung zuckte Andromeda unmerklich zusammen, doch dann
prustete sie los. „Mein Wellensittich muss entwurmt werden, ich lach’ mich
kaputt! Und außerdem finde ich sie gar nicht hübsch. Dieses abgezehrte Gesicht
und diese dürre Figur!“
„Männer haben manchmal einen seltsamen Geschmack.“ Rebekka wusste zwar
nicht genau, was zwischen Daniel und Andy vorgefallen war, aber Andy würde
drüber hinwegkommen, nein, sie war schon fast drüber hinweg. Hatte Max deswegen
so gute Laune?
„Ja, ich weiß“, sagte Andromeda nachdenklich und dachte dabei an den
Abend, als sie Max und seine blöde Freundin beim sogenannten Liebesspiel
belauscht hatte.
Wieder arbeiteten sie eine Weile schweigend vor sich hin.
„Sag’ mal Andy, bist du eigentlich noch Jungfrau?“ Rebekka hätte sich
die Zunge abbeißen können, warum war sie so neugierig, aber Andromeda schien
ihr die Frage nicht übel zu nehmen.
„Ich bin zwar noch Jungfrau“, erzählte sie ziemlich locker, „aber
nicht so richtig, wenn du weißt, was ich meine...“
Rebekka nickte, sie hatte eine ungefähre Vorstellung von dem, was
Andromeda ausdrücken wollte.
„Aber manchmal denke ich, ich bin nicht ganz normal.“
„Das ist doch Quatsch!“ Rebekka überlegte eine Weile und sagte dann:
„Vielleicht wartest du ja auf den Richtigen. Du bist doch noch so jung, also
warte lieber, denn es kann leicht in die Hose gehen.“ Sie sprach aus Erfahrung,
denn bei ihr war es ja auch in die Hose gegangen. Trotz anfänglicher schwerer
Verliebtheit und netter sexueller Befriedung war es immer wieder in die Hose
gegangen, sie arbeitete anscheinend darauf hin, dass es in die Hose ging.
Erstaunt lauschte sie in sich hinein und erkannte auf einmal: Sie wollte den
Männern die Liebe zu ihr austreiben, weil sie mit dieser Liebe nicht umgehen
konnte. Aber warum nur?
„Ich weiß nicht, ob ich auf den Richtigen warte“, sagte Andromeda
gerade. „Ich weiß nur, dass da so eine Art Bild in meinem Kopf ist, es ist
undeutlich, und ich hab’ keine Ahnung, was es bedeutet. Aber wenn es dann Ernst
wird mit einem Jungen, dann kann ich nicht weitergehen, obwohl ich geil bin, es
geht nicht, weil das Bild nicht stimmt.“ Sie sah ratlos aus. „Ist schon
seltsam. Die Jungs halten mich bestimmt für eine verklemmte Zicke.“
„Was die Jungs von dir halten, sollte dir egal sein.“ Rebekka fügte
aufmunternd hinzu: „Und irgendwann wird das Bild schon stimmen.“ Was erzählte
sie da eigentlich? Konnte es wahr sein, das mit dem Bild? Sie dachte nach. Ein
einziges Mal in ihrem Leben hatte das Bild gestimmt, aber das lag
wahrscheinlich an dem Alkohol, den sie vorher konsumiert hatte. Also Quatsch!
Um neun Uhr machten sie sich endlich über ihre Frühstückspakete her.
Rebekka hatte Hunger wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Die Brote schmeckten
fantastisch, sie waren mit der hausgemachten Dosenwurst belegt, es gab Äpfel,
dicke blaue Pflaumen und alle möglichen Getränke aus den Thermoskannen. Sie
saßen auf ihren Decken und aßen, als ob sie tagelang nichts zu essen bekommen hatten.
Und dabei war es gerade mal neun Uhr.
Wenig später geriet Rebekka in eine leicht euphorische Stimmung, weil
sie arbeitsmäßig so gut mithalten konnte. Sie war eben flexibel, kreativ und
schnell. Auch ihr Chef liebte ihre Eigenschaften, er hatte sich sehr gefreut,
als sie nach dem Mutterschaftsjahr wieder in die Firma zurückkam, Was blieb ihr
auch anderes übrig, sie musste lächeln. Manchmal jedoch lastete der Druck
schwer auf ihr, immer am Limit zu arbeiten, nicht krank zu werden... Und
manchmal stellte sie sich ein besseres Leben vor, fern von der Hektik der
Großstadt.
„Kampodia kommt mir vor wie ein Paradies“, sprach sie ihre Gedanken
laut aus. „Und am liebsten möchte ich hier bleiben.“
„Ich fänd’s toll, wenn du hier wohnen würdest!“ Andy grübelte vor sich
hin und sagte schließlich: „Aber lass’ dich nicht täuschen, es ist kein
Paradies, das Gut ist nur eine Illusion, es zeigt nicht das wahre Leben auf dem
Land, denn wir bauen nur an und züchten Pferde. Massenviehzucht machen die
anderen, und das ist die Wirklichkeit!“ Sie lächelte schmerzlich. „Okay, die
Schweine... Aber die haben ein gutes Leben bei uns, solange sie leben
jedenfalls...“
„Mist, ich weiß das doch, aber ich habe wohl alles verdrängt.“
Andromeda nickte.„Es gibt auf dem Land so viel Elend, von dem die
Touristen meistens gar nichts mitkriegen.“
„Menschen sind schlimm. Manche handeln aus Dummheit, manche aus Gier,
und manche handeln aus reiner Bosheit. Aber alle sind sie schreckliche Dämonen,
so oder so“, sagte Rebekka. Sie wusste gar nicht, wie sie auf diese Worte kam,
es war wie eine Vision.
Andromeda schaute sie von der Seite her erstaunt an. Was redete
Rebekka da? Aber irgendwie hörte es sich plausibel an.
Und seltsamerweise hatte Rebekka Recht, auch in Kampodia gab es
manchmal einen gefährlichen Dämon, allerdings hatte noch niemand ihn entlarven
können, obwohl einige ihm misstrauten.
Um die Mittagszeit hatte Rebekka die Nase voll. Sie hievte ihre vollen
Säcke an den Leiterwagen, wo ein grinsender Helfer sie in Empfang nahm und auf
die Waage stellte. Rebekka erhielt fünf Zettel, auf denen die jeweiligen
Gewichte standen. Sie hatte tatsächlich über fünf Zentner Erbsen gepflückt.
Nicht übel!
„Können wir mitfahren?“, fragte sie den Helfer. Der nickte. Sie drehte
sich zu Andromeda um. „Oder willst du noch weitermachen?“
Andy schüttelte den Kopf. Sie kletterten auf den Leiterwagen, und
Rebekka fühlte sich angenehm erschöpft wie noch nie. Alle Knochen taten ihr
weh, aber das leichte Rumpeln des Leiterwagens passte irgendwie gut zu den Schmerzen.
Ihre Arme, ihre Beine und vor allem ihre Nase hatten wohl ein bisschen viel
Sonne abbekommen, aber auch das empfand sie als angenehm.
Als sie mit dem Leiterwagen langsam in den Gutshof einfuhren, spürte
Rebekka instinktiv eine Veränderung.
Ein LKW stand mitten auf dem Hof, wahrscheinlich wegen der Erbsen,
aber das hatte mit der Veränderung nichts zu tun. Rebekka blickte sich suchend
um, und dann entdeckte sie es:
Ein rotes Mercedes-Cabriolet war vor dem Herrenhaus geparkt, und eine
elegant gekleidete schöne Frau unterhielt sich mit Archie vor der
dreiflügeligen Eingangstür. Hinter den beiden stand Daniel mit Morgaine auf dem
Arm, es sah irgendwie süß aus, Claudia und Tante Bernadette hielten sich neben
ihm auf, ihre Gesichter zeigten nicht gerade Begeisterung. Und Rebekka kapierte
es endlich.
Zirza, die fast nie anwesende Herrin des Hauses, hatte sich die Ehre
gegeben und war aus der vierhundert Kilometer entfernten Hauptstadt angereist.
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Rebekka kam sich total bescheuert vor mit ihrer schmutzigen
abgeschnittenen Jeans, dem dämlichen Kopftuch, das sie immer noch auf dem Kopf
hatte und ihrer geröteten Nase. Sie wusste zwar nicht, ob die Nase wirklich
gerötet war, aber sie brannte etwas, und das war kein gutes Zeichen.
„Hallo Zirza.“ Das Verhältnis zwischen Andy und ihrer Stiefmutter war
genauso unterkühlt wie ihre Stimme. Sie hatten sich noch nie sehr nahe
gestanden. Zirza war wohl nicht der mütterliche Typ, der Kleinkinder, egal wie
entzückend und süß sie aussahen, küsste und hätschelte. Mit der fast
erwachsenen Andromeda schien sie aber ganz gut klarzukommen...
„Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht“, wandte sie sich lächelnd
an ihre Stieftochter. „Sie werden dir bestimmt fantastisch stehen.“
Andy nickte geschmeichelt. In Kampodia konnte man überhaupt keine
Klamotten kaufen, und in Brunswick gab es auch nicht viel Auswahl, deshalb war
sie froh, wenn Zirza ihr ab und zu ein paar Sachen aus einer ihrer Boutiquen
mitbrachte. Und man konnte über Zirza sagen was man wollte, aber die Frau hatte
einen echt guten Geschmack.
Zirza war mittelgroß und sehr zart gebaut, ihr schwarzes Haar war so
kurz geschnitten, dass ihr kindliches Profil förmlich zum drüber Streicheln
einlud.
Diese Frisur war wirklich raffiniert! Automatisch fiel Rebekka dazu
‚Kindchenschema’ ein. Solch eine hilflos erscheinende, rundliche Stirn erweckte
den Beschützertrieb in Männern und natürlich auch in Frauen. Ein genialer Trick
der Natur, um den Nachwuchs vor Übergriffen übler Zeitgenossen zu schützen.
Zirza trug zu ihrer kindlichen Frisur ein naturfarbenes Kostüm aus
weicher Rohseide. Es sah schweinisch teuer aus und schmiegte sich mit
Perfektion an ihre perfekten Glieder. Ihre hochhackigen Schuhe machen ihre
Beine noch länger und schlanker, und sie sah damit aus wie eine Hollywood-Diva.
Ihre Augen funkelten tiefdunkel, und ihr wundervoller Mund war korallenrot
geschminkt.
Rebekka bekam auf der Stelle Minderwertigkeitskomplexe, nicht nur
wegen ihrer augenblicklichen desolaten Erscheinung, nein, sogar in ihrem
normalen Outfit hätte sie Komplexe bekommen. Sie trug nur selten elegante
Kleidung. Weil sie ihre weibliche Seite nicht betonen wollte? Oder weil ihr das
Geld dazu fehlte? Beides...
„Und Sie müssen Rebekka sein“, sagte Zirza freundlich und fügte
bedauernd hinzu: „Sie waren bestimmt auf diesen grauenhaften Erbsenfeldern.“
„Oh ja! Es war...“ Rebekka überlegte angestrengt und sagte dann
unentschlossen: „Nein, eigentlich war es schön.“ Sie verstummte, und ihr Blick
blieb blöderweise bei Daniel hängen, der sie angrinste und mit dem Zeigefinger
erst auf seine und dann auf ihre Nase deutete. Oh Gott! Sie hatte wirklich
einen Sonnenbrand auf ihrer Nase. Auch das noch!
Aber wenigstens Morgaine war ein Lichtblick, Morgaine, die gelangweilt
in die Luft guckte, dann auf Zirza schaute – und dann wieder gelangweilt in die
Luft guckte. Morgaine empfing nämlich überhaupt nichts von dieser Frau, ihre
Bilder waren völlig schwarz und somit undurchschaubar, laaangweilig... Aber sie
durfte ja sowieso nicht spionieren, das hatte Daniel gesagt.
Rebekka ging zu Daniel hin, nahm ihm Morgaine stillschweigend ab und
näherte sich mit ihrer Tochter der Dame des Hauses. Sie wollte Zirza
beeindrucken, und Morgaine schien das geeignete Objekt dafür zu sein. Verzeih
mir, kleine Morgy, dachte sie, aber ich wette, so etwas wie dich hat sie nicht!
Aus den Augenwinkeln sah Rebekka, wie Tante Bernadette und Claudia
Mansell miteinander tuschelten und Zirza von der Seite her verstohlen ansahen.
Beide waren wohl nicht gerade begeistert über ihre Ankunft. Konnte man
verstehen, denn bisher hatten die beiden Schwestern sich im Herrenhaus um alles
gekümmert.
„Das ist meine Tochter Morgaine“, sagte Rebekka zu Zirza, und der
Stolz in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Zirza trat unmerklich einen Schritt zurück, als Rebekka ihr mit
Morgaine auf dem Arm näher kam. „Was für ein nettes kleines Mädchen“, meinte
sie schließlich zögernd.
Rebekka wunderte sich nicht groß über die Verwirrung auf Zirzas
Gesicht, denn Morgaine hatte nun mal eine seltsame Wirkung auf die Leute.
„Ich hatte auch einmal ein Kind. Vor langer Zeit“, sagte Zirza leise
und wie um Entschuldigung bittend. „Aber es ist gestorben.“
„Oh Gott, das wollte ich nicht“, Rebekka biss sich verlegen auf die
Lippen. Wie hatte sie das nur tun können, sie wollte eine Frau, die ihr Kind
verloren hatte, mit ihrem eigenen beeindrucken. Sie setzte Morgaine ab, und die
lief sofort wieder zu Daniel hin.
„Es ist schon gut, Sie wussten ja nichts davon.“
„Ich sollte jetzt unbedingt duschen“, sagte Rebekka verlegen
„Wir sehen uns dann vielleicht später?“
„Gern“, Rebekka atmete auf. Man hatte ihr also diese peinliche Sache
verziehen, dem Himmel sei Dank!
Sie sah, dass Daniel Morgaine an die Hand genommen hatte und mit ihr
über den Hof in Richtung Verwalterhäuschen ging.
Ein Gefühl der Ausgeschlossenheit überkam sie, aber dann besann sie
sich, es war bestimmt gut für Morgaine, auch mal einen Mann als Bezugsperson zu
haben, und sie durfte nicht eifersüchtig sein.
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KAPITEL
III – Teil 5 VATERSCHAFTEN...
Daniel und Max saßen auf der Treppe vor dem Verwalterhäuschen, und
Morgaine tanzte um sie herum. Sie hatte Max lieb, von ihm kamen zwar traurige
Bilder, die oft mit einem Baby im Wald zu tun hatten, und noch öfter tauchte
ein furchtbar aussehendes Ding in seinen Gedanken auf, aber Max war nicht böse,
das wusste Morgaine, und sie hatte ihn fast so lieb wie ihren Daniel. Daniel
war ihr Papa, das stand fest, er wollte es, sie wollte es. Mammi, die wusste es
noch nicht, aber sie würde sich damit abfinden, sie dachte ja oft an ihn. Nett
von Mammi, denn wie sonst hätte sie ihn finden können, außer natürlich Morgan
hätte ihr dabei geholfen. Auf dem Bild an der Treppe sah sie jung aus, aber in
Wirklichkeit war sie sehr alt, ganz ganz alt. Und die wusste auch nicht
alles...
Auch Daniel fühlte sich gut, Rebekka stand ihm nicht mehr so
feindselig gegenüber wie am Anfang, und die Freundschaft mit Max war wieder
intakt.
Endlich konnten sie wieder Gitarre zusammen spielen, Max stand nämlich
auch auf Django Reinhardt. Und er hatte Daniel endlich den sagenumwobenen
Lister-Jaguar vorgeführt, an dem er an den Wochenenden herumschraubte, sie
teilten nämlich die Leidenschaft für die mittlerweile schon antiken Rennwagen
der 60er Jahre. Wobei der Lister-Jaguar in seiner geilen Erscheinung eins von
Daniels Lieblingsautos war.
Alles war bestens, nein, nicht alles, irgendetwas nagte an seinem
Unterbewusstsein. Aber was? Und dann auf einmal fiel ihm Zirzas Reaktion auf
Morgaine ein, ihr Blick war nicht nur verblüfft gewesen, sondern auch... Er
wusste nicht, wie er es bezeichnen sollte, doch es gefiel ihm nicht. Seltsame
Frau, irgendwie unsympathisch...
„Diese Zirza ist seltsam“, meinte er zu Max.
Max verschloss sich sofort, und Daniel erkannte, dass der Name Zirza
ein Tabu-Thema war, das er besser nicht anfassen sollte.
„Lass dich besser nicht mit ihr ein“, sagte Max schließlich.
„Gut zu wissen...“ Daniel schaute ihn erstaunt an. Er wunderte sich
über Max’ Worte, denn Morgaine hatte wohl keine bösen Bilder in Zirza gesehen,
sonst hätte er vielleicht etwas davon mitbekommen. Allerdings wusste er immer
noch nicht, ob es Absicht von ihr war, wenn sie ihm etwas ‚schickte’, oder ob
es einfach so passierte.
„Archie hat gesagt, entweder man verabscheut sie – oder man verfällt
ihr“, sagte er und fuhr locker fort: „Gut, sie ist attraktiv, und vor ein paar
Jahren wäre ich bestimmt voll auf sie abgefahren. Aber jetzt nicht mehr,
eigentlich ist sie mir scheißegal.“ Er wollte Max ein wenig aus der Reserve
locken, ihn provozieren, aber das klappte nicht so richtig, denn...
„Das ist auch gut so!“ In Max’ Stimme schwang etwas wie Abscheu mit,
jedenfalls kam es Daniel so vor. „Außerdem ist sie lange nicht mehr so
attraktiv wie früher. Du hättest sie mal mit einundzwanzig sehen sollen... Aber
ist ja auch egal!“ Er verstummte abrupt.
Daniel fühlte, dass er so nicht weiterkam, also wechselte er das Thema.
„Ich glaub’, ich kümmere mich jetzt mal ein bisschen um Rebekka. Das
Erbsenpflücken ist ihr nicht gut bekommen.“
„Ich wette, morgen tun ihr Knochen weh, von denen sie bis jetzt noch
nichts wusste...“ Andromeda hatte Max inzwischen von Daniels Vermutung erzählt,
von wegen Tochter und so. Er hoffte für Daniel, dass es stimmte. Er kannte
Daniels frühere Frauen, beide mochte er nicht besonders, sie hatten Daniel
nicht glücklich machen können, obwohl er sich den Arsch für sie aufgerissen
hatte. Rebekka allerdings war unberechenbar und undurchschaubar, aber
vielleicht hatte sie es ja drauf...
„Dann muss ich das arme Rebekkalein wohl ein bisschen pflegen.“ Das
arme Rebekkalein, Daniel musste grinsen, diese Bezeichnung passte so gar nicht
zu Rebekka, oder doch vielleicht ein bisschen? Auf einmal erschien ihm der
Gedanke an sie so verlockend, dass er sich eilig von Max verabschiedete mit den
Worten: „Spielen wir nachher eine Partie Billard?“
„Klar doch, ich hoffe nur, Zirza ist nicht da.“ Die Abneigung in Max’
Stimme war kaum zu überhören.
„Max!“ flüsterte Morgaine mit zärtlicher Stimme und schlang ihre Arme
um Max’ Knie.
„Könnte es sein, dass sie bei dir bleiben will?“ Daniel lächelte.
„Möglich...“, auch Max lächelte „Lass sie ruhig hier. Ich muss nur
kurz zum Erbsen-Laster, und danach gehen wir zu Kalybos und den Fohlen, falls
das okay ist für die kleine Lady.“
Morgaine fand das anscheinend sehr okay, denn sie führte wie eine
winzige Ballerina einen Spitzentanz auf.
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Rebekka stand unter der Dusche und ließ das warme Wasser über ihren
schmerzenden Körper strömen. Sie fand es wunderbar! Mit geschlossenen Augen
hielt sie ihr Gesicht dem schmeichelnden Nass entgegen, für eine Weile dachte
sie an nichts mehr, und überließ sich den sanften Wasserstrahlen, die so
wohltuend zart auf ihre Gliedern niederregneten. Und an gewissen Stellen merkte
sie es ganz deutlich, wie sie... Hmmm...
Sie sah an ihrem Körper herab, und er gefiel ihr, ihre Brüste waren
fest und rund, das herabströmende Wasser liebkoste ihre Knospen, machte sie
hart, und sie verspürte den Wunsch, sie noch mehr zu liebkosen. Das Duschgel
war optimal dafür geeignet, und sie stöhnte auf. Manchmal wäre ein Mann gar
nicht schlecht. Und gewisse Männer hatten es ganz besonders drauf...
Nein, besser nicht dran denken. Sie hörte auf, gewisse Stellen sanft
mit den Fingern zu umkreisen und wunderte sich nun über die Bräune ihrer Haut,
aber unter der Dusche sah man wohl immer brauner aus, als man war.
Während sie das Wasser abstellte und ihre nassen Haare auswrang,
überlegte sie, wie viel dieser Urlaub sie wohl kosten würde. Hier hielten sich
so viele reiche Industrielle auf, sie kicherte vor sich, da musste es einfach
sauteuer sein.
Andererseits hatte sie seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Und
Morgaine fühlte sich glücklich hier, alle liebten sie, und sie kannte so viele
Leute. So könnte es in der Stadt nie sein. Und das alleine war das Geld schon
wert, sie würde es woanders einsparen. Sie war ihr Leben lang genügsam gewesen,
und irgendwie ging es immer weiter. Mit einem Seufzer stieg sie aus der Dusche.
Wenig später klopfte es an der Tür. Rebekka war gerade dabei, ihre
Beine einzucremen, und sie hatte auf Nase und Stirn jeweils einen länglichen
Cremeklecks geklatscht, zum späteren Verreiben. Sie trug nur Shorts und ein
weißes Batistshirt ohne Ärmel, nicht einmal taillenkurz, aber sehr bequem.
Sie öffnete bedenkenlos die Tür, es konnte nur Claudia sein.
Daniel starrte sie an und fing an zu lachen.
„Was gibt's denn da zu lachen?“ fragte sie ein bisschen beleidigt.
Automatisch griff sie sich an die Nase, dort wo die Aftersun-Creme dick
prangte...
„Du siehst aus wie ein Skunk“, sagte er.
„Oh danke! Und wieso?“
„Die haben manchmal auch so einen weißen Streifen auf der Nase und auf
der Stirn.“
„Na gut, dann eben wie ein Skunk. Ich mag Skunks! Kennst du den Comic
mit dem Skunk, der sich in eine schwarzweiße Katze verliebt?“
„Natürlich kenne ich den, komm’ her Cherie... Es war wohl ein
französischer Skunk.“ Wieder musste Daniel lachen. „Erinnert mich ein bisschen
an deine Geschichte von den französischen Katzen, die in Frankreich gesiezt
werden.“
„Ach die! Ich glaub’, an dem Abend war ich ganz schön besoffen!“ Das
war eine gute Antwort, wie sie fand, das Besoffensein stellte die nachfolgenden
Ereignisse in ein ganz anderes Licht. In ein zufälliges, unbeabsichtigtes, eben
in ein besoffenes Licht.
Sie zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste sie, dass ihre
Schultern schön waren, genauso schön wie ihre Arme. Die Beine waren auch nicht schlecht,
lang und schlank. Alles in allem fand Rebekka, dass ihre Figur auch ohne viel
Sport straff und gut proportioniert war und dass sie eigentlich zu wenig Fett
auf den Rippen hatte. Die Schwangerschaft hatte kaum Spuren auf ihrem Körper
hinterlassen, und Rebekka war ihrem ausgezeichneten Bindegewebe sehr dankbar
dafür. Ihren Busen fand sie allerdings ein bisschen zu groß, aber es hatte sich
noch keiner drüber beschwert, ganz im Gegenteil. Auch Daniel hatte sich nicht
drüber beschwert. Aber der war ja auch kein Maßstab.
Sie ging nach draußen auf den Balkon, während sie die Aftersun-Creme
im Gesicht und auf dem Hals verrieb, und Daniel folgte ihr.
„Was willst du?“ Rebekka setzte sich vorsichtig auf einen
Terrassenstuhl. Alle Glieder taten ihr weh von der Knochenarbeit auf den
Erbsenfeldern, und am schlimmsten war es im Nacken. Mit einem leichten Stöhnen
ließ sie den Hals vorsichtig zurückfallen, legte ihre Hände nach hinten – und
versuchte den Schmerz in den Muskeln einfach wegzukneten.
„Was ist denn?“, fragte Daniel aufmerksam.
„Ach nichts, es ist nichts.“ Bei diesen Worten zuckte Rebekka etwas
zusammen. Es tat nämlich doch weh.
Daniel stellte sich hinter sie, er schob vorsichtig ihr langes Haar
zur Seite und fing an, ihren Nacken zu massieren. Ganz zart und leicht.
Und Rebekka fing an, sich daran zu gewöhnen, nein, fing an es zu
genießen. Seine Hände waren so angenehm kühl, und er verstand es, sie
irgendwie, wieso und warum wusste sie nicht, in Erregung zu versetzen. Sie
atmete tief ein und entspannte sich. Wenn er seine Hände jetzt ein wenig tiefer
vorne... Sie musste an die Dusche von vorhin denken und stöhnte auf.
„Tut es weh?“
„Nein... nein...“, gab sie mühsam von sich, während ihr Körper sich
immer mehr seinen Händen öffnete. Wenn er vielleicht ihre Brüste auch... Oh
Gott, sie war ja fast nackt! Sie schloss die Augen und dachte an nichts anderes
mehr als an seine Hände und was sie alles tun könnten. Und an seinen Mund und
an ihren Körper, heiße Lippen auf kühler Haut, oder umgekehrt, kühle Lippen auf
heißer Haut. Ihr Atem ging heftiger, Erregung breitete sich wellenförmig in ihr
aus und erreichte Orte, die sie besser vergessen sollte... Sie ächzte auf und
riss sich zusammen. Das wäre ja noch schöner, wenn sie hier auf der Stelle
einen Orgasmus kriegte, nur weil er ihren Nacken massierte. Aber es war schwer,
den Körper unter Kontrolle zu bekommen...
„Wer ist eigentlich der Vater von Morgaine?“
Rebekka tauchte langsam aus den Tiefen ihrer Erregung empor, abgekühlt
und erschreckt durch diese unziemliche Frage. Es war, als hätte ihr jemand
einen Kübel Eiswasser über den Kopf geschüttet.
„WAS?“ Ihre Stimme ließ nichts Gutes verheißen.
„Na der Vater. Wer ist der Vater? Könnte es sein, dass ich der Vater
bin?“ Daniel massierte Rebekka immer noch, aber er stellte fest, dass ihre
Nackenmuskeln mittlerweile total verhärtet waren.
Sie drehte sich zu ihm um, begleitet von einem leichten Stöhnen, weil
es immer noch weh tat, und er musste zwangsläufig seine Hände von ihr nehmen.
„Du der Vater? Heiliger Strohsack! Nur weil wir mal eine Nacht lang
rumgerammelt haben? Du spinnst doch wohl!“ Rebekka sah ihn wild an und fasste
sich gleichzeitig an den Nacken, um seine Massage fortzusetzen, denn es war so
gut gewesen.
Aber dann gab sie es auf, sich selber zu massieren, sie erhob sich
leicht ächzend und baute sich vor ihm in furchterregender Größe von
einsfünfundsechzig Zentimetern auf.
„Es könnte doch durchaus sein...“
Er ließ sich tatsächlich nicht von ihr einschüchtern! „Ist es aber
nicht!“ sagte sie wütend. „Der Vater ist ein Idiot, und ich bin froh, dass
Morgaine nichts von ihm geerbt hat.“
„Schon gut, es war also auch nicht der, den du heiraten wolltest?“
Rebekka traute ihren Ohren nicht, er wusste ja ziemlich viel von ihrem
Leben. „Nein, der war es auch nicht. Aber was geht dich das überhaupt an?“
„Wer war es dann?“
„Es war ein Typ, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dir hatte.“ Wieso
hatte sie das Bedürfnis, sie müsse Morgaines Aussehen erklären, obwohl bis
jetzt noch niemand irgendwas in dieser Richtung angedeutet hatte. Aber sie
musste diesem Blödsinn auf jeden Fall ein Ende setzen. „Ich war drei Monate
lang mit ihm zusammen, und dann war Schluss.“
„Du hast recht, sie sieht mir ein bisschen ähnlich, das ist mir noch
gar nicht aufgefallen...“
„Das ist doch Einbildung!“ Rebekka fühlte sich verunsichert, und sie
ärgerte sich, dass sie das Thema Ähnlichsehen überhaupt angeschnitten hatte.
Sie war ihm doch keine Rechenschaft schuldig! „Kleine Kinder sehen doch allen
möglichen Leuten ähnlich, falls man viel Fantasie hat...“
„Weiß er es?“ Daniel wusste nicht, warum er ihr diese Frage stellte,
sie war ihm spontan eingefallen.
„Ich glaube nicht...“ Sie schaute ihn an wie ein in die Enge
getriebenes Tier – und ging dann zum Angriff über: „Ich habe ihn hinausgeworfen!
Ich wollte nicht, dass er der Vater ist. Er ist ein Idiot und total
bescheuert!“
„Aber er ist der Vater?“ bohrte Daniel nach.
„Biologisch gesehen ja. Aber ich wollte ihn nicht als Vater. Morgaine
braucht keinen Vater! Und ich, ich brauche auch keinen Vater!“
Daniel schaute sie verwundert an und sagte nach einer nachdenklichen
Pause: „Das ist doch Quatsch, Rebekka!“
„Nein, das ist kein Quatsch“, erwiderte Rebekka aufgebracht. „Du
verwöhntes Söhnchen hattest bestimmt einen guten Vater, aber meiner war zum
Kotzen!“ Mit diesen Worten schob sie Daniel zur Tür hinaus und sagte: „Danke
fürs Massieren!“
Der total verblüffte Daniel stand einige Minuten draußen auf dem Flur,
starrte auf die geschlossene Tür und dachte sich so einiges. Er war sich jetzt sicher,
dass da irgendetwas nicht stimmte, und das bereitete ihm seltsamerweise viel
Freude, bis auf ‚den zum Kotzen gewesenen Vater’ von ihr... Verdammt noch mal,
was war nur los mit ihr? Warum war sie so unzugänglich, warum blockte sie ihn
immer wieder ab. Er hatte gedacht, es würde besser werden, aber jetzt war es
wieder wie bei seiner Ankunft. Sie traten auf der Stelle, jeder kleine
Lichtblick wurde sofort wieder zunichte gemacht, aber er würde dran bleiben. Er
hatte so lange auf sie gewartet, sie fehlte ihm, er war einfach verrückt nach
ihr, nicht nur körperlich, er fühlte, dass sie die einzige für ihn war. Und
wahrscheinlich würde er immer wieder angekrochen kommen, aber er sollte sich
besser zurückhalten, keine Frau mochte Hampelmänner, und eigentlich hielt er
sich auch nicht für einen Hampelmann, obwohl sie das zu glauben schien. Daniel
ging langsam zu seinem Zimmer, er fühlte sich echt Scheiße.
>>> Als sie noch klein ist, ist der Vater lieb zu ihr,
sie kriecht immer am Sonntagmorgen zu ihm ins Bett, denn es ist schön und warm
bei ihm. Die Mutter betrachtet sie dann mit verkniffenen Augen und schmalen
Lippen. Zu ihr geht sie nie ins Bett.
Jahre später renovieren die Eltern das Haus, alles wird
gestrichen, tapeziert und verändert. Sie bestellen ein neues Bett für Rebekka,
und das alte Bett ist weg, bevor das neue kommt. Sie muss für eine Nacht
zwischen ihnen schlafen in ihrem Ehebett. Da wo sie früher mit Papa immer so
glücklich war als kleines Mädchen. Sie liegt in der Besucherritze und kann
nicht schlafen, es ist ungewohnt. Papa schiebt sich an sie heran und berührt
sie an der Taille. Sie macht sich steif und hat Angst. Sie weiß, dass es nicht
richtig ist, sie ist immerhin dreizehn Jahre alt und nicht blöde. Seine Hand
geht unmerklich tiefer zwischen ihre Beine, die sie zusammenklemmt, aber er ist
stark, und sie traut sich nicht zu schreien. Er klemmt seine Hand zwischen
ihren Beinen ein und fängt an zu stöhnen. Sie liegt da wie erstarrt und atmet
nicht. Er fängt heftiger an zu stöhnen, und jetzt hält sie sich eine Hand vor
den Mund, um nicht zu schreien. Geh weg, will sie schreien. Geh weg! Aber es
kommt nichts heraus. Das Stöhnen hört nach einer Weile auf, und seine Hand
verliert den Griff auf sie. Sie schiebt seine Hand vorsichtig weg, er merkt es
nicht, er schläft bestimmt, denn er schnarcht. Aber sie weiß genau, dass die
Mutter nicht schläft. Sie hat alles mitbekommen, und sie hasst sie, das weiß
sie genau. Aber sie ist kein schlechtes Kind, nein... Oder doch?
Der Vater tut danach so, als wäre gar nichts gewesen,
aber die Mutter behandelt sie noch mieser als vorher. Aber sie hat nichts
Unrechtes getan, das weiß sie. Trotzdem träumt sie manchmal in der Nacht davon,
und am Tage überlegt sie manchmal, ob alle Männer so sind. So untreu, so
triebhaft, so schlecht... <<<
Rebekka steht immer noch an der Tür, dort wo sie Daniel
hinausgeschoben hat. Eigentlich ist das alles schon lange vorbei, sie hat es
überwunden, sie ist stärker geworden, und sie hat keine Schuld daran. Schuld
hat nur ihr Vater. Aber wie kann man seinem Kind so etwas antun? Darüber wird
sie wohl nie hinwegkommen.
Rebekka tut es schon leid, dass sie Daniel so abgewimmelt hat, aber
etwas in ihr will es so. Es kommt nicht oft vor, es kommt vielleicht nur vor,
wenn sie sich bedroht fühlt. Und von Daniel fühlt sie sich bedroht. Aber warum
nur? Er hat ihr doch gar nichts getan.