KAPITEL V – Teil 1 STURZ
Rebekka zäumte das Doppelpony
auf. Dann zog sie den Sattelgurt kräftig fest. Es klappte alles wunderbar,
Pronny war sehr geduldig und Rebekka sehr behutsam.
„Na, dann wollen wir
mal...“, sie dirigierte das Pferdchen rückwärts aus der Box und marschierte mit
ihm in Richtung Reithalle, die im Moment wunderbar leer war.
Sie stieg ohne Mühe
auf und fing an, Pronny langsam im Schritt gehen zu lassen, sie versuchte ihn
gleichmäßig mit ihrem Gewicht anzutreiben und nebenbei die Zügel zu verkürzen,
damit er locker wurde und diesen erhabenen Gang bekam. Es schien zu klappen.
Sie erhöhte das Tempo, klopfte mit beiden Beinen am Bauch des Pferdes an, und
tatsächlich fiel Pronny in einen gleichmäßigen Trab.
Aus den Augenwinkeln
sah sie, dass Daniel in die Reithalle gekommen war. Er hatte Morgaine bei sich,
und hinter den beiden erschien Claudia.
Daniel lächelte
Rebekka an, und sie kam sofort ein bisschen aus dem Tritt, der Trab wurde
unruhiger, sie konnte sich auf einmal nicht mehr richtig konzentrieren.
Sie sah, wie Daniel
Morgaine hochhielt, damit sie ihrer Mutter beim Reiten zuschauen konnte. Und
die beiden grinsten sich gegenseitig in vollstem Einverständnis an.
Zwischendurch drehte sich Morgaine öfter nach Claudia um, um auch sie
anzugrinsen. Himmel, hatten die sich alle gegen sie verschworen?
Das war’s dann wohl
mit dem Alleinüben, Rebekka seufzte auf und verlor immer mehr an Tempo, das
heißt, das Doppelpony verlor immer mehr an Tempo.
„Nimm deinen
Hintern“, rief Daniel ihr zu. Er rief ihr das natürlich ziemlich leise zu, um
das Pony Pronny nicht zu irritieren.
„Halt doch die
Klappe!“ zischte Rebekka in sich hinein.
„Hintern vor!“,
forderte nun Morgaine energisch. Die war wirklich ein Naturtalent im Reiten,
wie es schien. Zumindest in der Theorie...
„Hörst du, sogar die
Fee kann es!“, sagte Daniel anerkennend.
Das war die neueste
Marotte von ihm, dass er Morgaine ‚Fee’ nannte. Wie kam er darauf? Und wieso
hatte sie ausgerechnet diesen seltsamen Namen ausgesucht? Aufgrund der Sage von
König Artus oder einfach nur so? Sie wusste es nicht mehr, es war so eine
gefühlsmäßige Eingebung gewesen, und die zuständige Behörde hatte den Namen
akzeptiert.
„Schieb’ ihn mit dem
Hintern an, Mammi!“
„Hast du das gehört?“
Daniel sah aus, als müsste er sich ein Lachen verkneifen, er genoss es wohl
sehr, sie zu verunsichern, der Blödmann!
„Wenn sie ein noch
etwas kleineres Pferd hätten, würde ich Morgaine drauf setzen...“
Das reichte! „Hier
stinkt es gewaltig nach Bier, du Exkneipenwirt!“, sagte Rebekka giftig. „Und so
klein ist Pronny gar nicht“, murmelte sie in sich hinein und versuchte, diesen
lästigen Typen und ihre lästige kleine Tochter einfach zu ignorieren. Wäre ja
noch schöner, wenn sie sich wegen so einem Mist aufregen würde.
„Frauen sollen ja
angeblich mehr Gefühl im Hintern haben als Männer“. Daniel konnte einfach nicht
aufhören, sie zu veräppeln. Eine Frechheit war das!
„Willst du damit
behaupten, du hättest KEIN Gefühl im Hintern?“ Oh nein, natürlich hatte er
Gefühl... Und Hilfe, was redete sie da überhaupt? Am besten Klappe halten, sich
zusammen reißen, Beine fest anklammern, ääääh an das Doppelpony anklammern
natürlich – und einfach reiten! Nein, nicht DAS Reiten. Ach du liebe Güte...
„Weiß nicht“,
beantwortete Daniel gerade ihre Frage. „Was meinst du dazu? Du müsstest es doch
wissen.“ Er sah hinterhältig fies dabei aus, wie Rebekka durch einen kurzen
Blick feststellte.
Mist, wieder
abgelenkt, also kein Trab mehr, sondern Schritt. Langweilig! Was bildete der
sich überhaupt ein, und warum ließ sie sich durch ihn beeinflussen? So was
Albernes! Sie trieb Pronny ein wenig an und klopfte dann mit dem Fuß an seine
hintere linke Seite. Tatsächlich rumpelte Pronny sich daraufhin in einen
bequemen Galopp hinein.
„Du bist echt gut!“
Daniels Stimme klang nun bewundernd.
Tatsächlich lief alles
wie geschmiert, beziehungsweise Pronny galoppierte wie geschmiert, ohne dass
sie viel nachdenken musste. Na also! Die Pferde kapierten es ja auch, und sie
war ja wohl nicht blöder als ein Pferd. Galoppieren fand sie eigentlich am
besten beim Reiten, sie trieb Pronny noch ein wenig mehr an.
In der Kurve merkte
sie dann, dass etwas nicht stimmte. Der Sattel schien locker zu sein.
Vielleicht hatte Pronny vor dem Satteln tief eingeatmet und dadurch seinen
Bauch aufgeblasen. Das ging Rebekka durch den Kopf, Andromeda hatte sie bei der
ersten Reitstunde davor gewarnt. Nur wie konnte man Pronny jetzt schnell
abbremsen, ohne dass viel passierte?
Pronny buckelte
seinen Rücken unwillig und tänzelte wild in der Spur umher. Sonst war er doch
so ruhig und gelassen. Während Rebekka das überlegte, hörte sie ein
beunruhigendes Geräusch, es war, als ob etwas reißen würde, es gab einen Ruck,
irgend etwas lockerte sich, und wie in Zeitlupe rutschte sie vom Doppelpony.
Sie ließ die Zügel los, zog geistesgegenwärtig die Füße aus den Steigbügeln –
stürzte unaufhaltsam gegen die Bande, und dabei hörte sie einen dumpfen Knall.
Dann lag sie in der
Streu und konnte an nichts mehr denken. Ihr Gehirn war absolut leer.
Bis sich ein Gesicht
über sie beugte.
„Tut dir irgendwas
weh?“ Daniels Stimme klang verschwommen, aber das konnte auch an der Akustik in
der Reithalle liegen.
„Nein, nein“, sagte
sie mühsam und richtete sich auf. Dabei merkte sie, dass ihr doch etwas wehtat,
nämlich die Schulter.
„Da ist was gerissen,
ich bin nicht runtergefallen...“, Sie versuchte aufzustehen, aber Daniel
drückte sie sanft auf den Boden zurück.
„Nicht bewegen!“
Seine Stimme klang bestimmend.
Wieso bestimmend, das
dachte Rebekka wie durch einen leichten Nebel hindurch. Wieso sind Stimmen
bestimmend? Liegt es an der Lautstärke oder an der Ausdruckskraft? Oder an dem,
der die Stimme hat? Stimmen bestimmen, seltsam...
„Ich habe nichts!“
sagte sie und blieb trotzdem liegen. Es war schön, dass er sich um sie sorgte,
und die Schulter tat wirklich weh. Sie sah, dass Claudia neben ihm stand und
mit einem aufgelösten Gesichtsausdruck auf sie herab blickte. Neben ihr tauchte
Morgaine auf, und sie weinte. Nein, sie wollte nicht, dass Morgaine weinte.
„Es ist nichts“,
sagte sie. „Es tut nur ein bisschen weh. Hab’ mir bestimmt nur die Schulter
geprellt und nicht den Hals gebrochen.“
„Gut, dann hebe ich
dich jetzt auf.“
„Ach du lieber
Himmel, nein, lass das!“ Rebekka machte eine abwehrende Bewegung mit dem linken
Arm, der nicht weh tat und versuchte mühsam sich aufzurichten. Natürlich
scheiterte es, mit einem Stöhnen sank sie zurück, es schien zwar nichts
gebrochen zu sein, und sie war auch nicht querschnittsgelähmt, aber die rechte
Schulter tat höllisch weh. Dann urplötzlich wurde ihr schlecht. Vor ihren Augen
tanzten giftiggelbe und neongrüne Flecken, das Wasser lief ihr im Mund
zusammen, und sie dachte, wieso läuft mir das Wasser im Mund zusammen, ich hab’
doch gar keinen Appetit.
Sie klammerte sich an
Daniel, der sie vorsichtig hochhob und auf ihre Füße stellte.
Daniel hatte seinen
Zivildienst bei den Johannitern abgeleistet und wusste sofort, dass es sich um
einen Schock handelte. Er stützte sie und führte sie schnell aus der Reithalle
hinaus. Vermutlich würde sie gleich kotzen, das war normal, aber sie tat es nicht.
Rebekka wankte an
seiner Seite, er hielt sie fest, und sein Körper war so vertraut, obwohl sie
doch nur einmal miteinander... Sie schmiegte sich an ihn, spürte seine Muskeln,
und sie roch ihn sogar, er roch überaus angenehm, auch sein Schweiß hatte
damals gut gerochen und seine Säfte auch... Rebekka stöhnte auf, und Daniel zog
sie vorsichtig enger an sich, es war irgendwie fürsorglich.
Fürsorglich?
Automatisch musste sie an eine Geburtstagsfeier denken. Marissa war auch da,
später kam Daniel, um sie abzuholen, er lud ihr Fahrrad auf sein Auto, es
konnte der Dame Marissa ja nicht zugemutet werden, die achthundert Meter mit
dem Fahrrad nach Hause zu fahren. Später sprach die Gastgeberin über Marissas
Geiz, erzählte interessante Dinge aus dem gemeinsamen Urlaub und regte sich
über Daniels Gutmütigkeit und Fürsorge auf. Der Abend war gerettet...
Fürsorglich! Rebekka
schüttelt Daniels Arm ab. „Ich kann schon alleine gehen, ich kann sogar mit dem
Fahrrad nach Hause fahren!“
Daniel starrt sie
verständnislos an, bis auf einmal ein Licht des Erinnerns in seinen Augen
aufglimmt. Aber er erinnert sich nicht an diesen Abend, er erinnert sich an
einen späteren Morgen. Auch er hat seine Erinnerungen, und die sind auch nicht
besonders nett...
„Was ist mit Pronny?“
Rebekka hat sich mittlerweile beruhigt.
„Der neue Stallknecht
hat ihn in seine Box gebracht“, sagt Daniel halb in Gedanken versunken, denn er
muss immer noch an diesen Morgen denken. Es war der Morgen nach der Nacht mit
Rebekka.
„Ein neuer
Stallknecht? Den kenne ich ja gar nicht.“
„Stimmt, ich habe ihn
auch zum erstenmal gesehen.“
„Und Morgaine? Wo ist
Morgaine?“
„Sie ist bei Claudia.
Sie wollten zu den Fohlen gehen.“
„Das ist gut, ich
will nicht, dass sie mich so sieht.“
Der Arzt, ein älterer
Mann, der in Brunswick praktiziert, stellt bei Rebekka eine Schulterprellung
fest. Er gibt ihr ein Mittel gegen die Schmerzen und legt ihr eine
Kältekompresse an. Sie soll sich so wenig wie möglich bewegen, dann würde es
nach in ein paar Tagen besser sein.
In der Zwischenzeit
ist es draußen dunkel geworden, denn dickes Gewölk bedeckt den Himmel
mittlerweile fast vollkommen.
Rebekka hat sich auf
ihr Bett gelegt, und Daniel sitzt neben ihr. Er hat eine Lampe angemacht, weil
es finster im Zimmer ist. Er nimmt ihre Hand und berührt sie mit den Lippen.
„Wo ist Morgaine
eigentlich?“, fragt Rebekka ihn. Sie ist froh, dass es trotz der Lampe nicht
sehr hell im Zimmer ist, denn sie fühlt ihr Gesicht heiß werden vor
Verlegenheit.
„Ich weiß es nicht,
aber sie ist bestimmt noch bei Claudia.“
„Ich möchte sie
sehen.“ Rebekkas Stimme klingt kläglich.
Erst will sie nicht,
dass Morgaine sie sieht und dann doch? Aber jetzt fällt es auch Daniel auf,
dass er von Morgaine seit Stunden nichts mehr gehört und gesehen hat. Er lässt
Rebekkas Hand los, murmelt etwas vor sich hin und geht aus dem Zimmer.
Rebekka schaut ihm
verstört hinterher.
Morgaine ist nicht
bei Claudia, sie ist auch nicht bei Archie, und sie ist auch nicht in der Küche
bei Tante Bernadette. Daniel trifft im Gemeinschaftsraum auf Sammy und Biggi
und fragt sie nach Morgaine. Sie wissen nichts.
Er läuft hastig zur
Dorfkneipe und fragt die Wirtin Marianne, ob sie Morgaine gesehen hat oder
einen ihrer Freunde. Aber die Maid hat niemanden gesehen und schüttelt besorgt
den vogelartigen Kopf mit der runden Brille.
Morgaine ist
verschwunden. Er hasst sich dafür. Warum ist es ihm nicht früher aufgefallen?
Was kann ihr passiert sein? Morgaine hat keine Feinde hier, und außerdem hält
sie sich von Leuten fern, die ihr nicht gefallen, sie hat bestimmt das Gefühl
oder das Wissen dafür, wenn jemand ihr Übles will.
Aber was ist, wenn
einfach so ein Arschloch daherkommt, so ein Kinderschänder und sie irgendwohin
lockt. Aber das würde sie spüren. Aber wenn es mit Gewalt wäre? Daniel fühlt
eine Art Lähmung an sich hochsteigen, die sich langsam aber sicher in Entsetzen
verwandelt. Er denkt an die vielen Fälle, in denen Kinder einfach verschwunden
sind und hinterher... Nein, nein, nein, es kann nicht sei, und es darf nicht
sein! Nicht Morgaine, dieses liebe ungewöhnliche Kind! Aber wo zum Teufel
steckt sie? Claudia hat sie zuletzt im Stall gesehen, als sie Kalybos besuchen
wollte, das war, nachdem sie gemeinsam bei den Fohlen waren. Auf einmal war sie
weg, und Claudia hat gedacht, sie wäre ins Haus gelaufen, um ihre Mutter zu
sehen. Archie weiß gar nichts, er ist erst vor einer Stunde aus der Brauerei
zurückgekommen. Und bei Tante Bernadette war sie am Vormittag, danach nicht
mehr.
Er steht eine Weile
vor Rebekkas Wohnung, bevor er hineingeht. Er hat nämlich Angst, es ihr zu
sagen.
Daniel findet Archie
an ihrem Bett vor. Archie hält ihre Hand und streichelt ihr Gesicht, während
sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anschaut.
Archie hat es ihr
also schon gesagt, eigentlich hätte er selber es Rebekka sagen müssen, denn
Morgaine ist seine Tochter – ob nun biologisch oder vom Gefühl her – sie nennt
ihn manchmal Papa, und das macht ihn stolz.
Aber er vergisst
schnell seine Eifersucht und geht zu Claudia Mansell. Er fragt sie, ob es
geheime Orte gibt, an denen die Kinder gerne spielen, Gänge, in die man
hineinkriechen kann, Schuppen, die verlassen sind, Gartenlauben und so weiter.
Claudia fällt einiges dazu ein, und Daniel macht sich auf die Suche.
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KAPITEL V – Teil 2 DUNKELHEIT der SEELE
Rebekka hält es nicht
mehr im Bett, sie streift sich einen Pullover über und geht nach unten. Sie
kann es immer noch nicht begreifen. Sie starrt durch die geöffnete Terrassentür
nach draußen.
„Morgaine, wo bist
du?“, ruft sie in die Dunkelheit. Und als keine Antwort kommt, geht sie nervös
nach vorne zur Eingangstür und blickt dort auf den Hof, der unvollkommen von
einer Straßenlaterne erhellt wird. Sie sieht bleich aus unter der normalerweise
leicht braun getönten Haut. Sie ist still geworden, lauscht irgendwohin,
lauscht in sich hinein. Aber sie hört nichts, alles ist stumm, Morgaine ist
nicht da, und sie meldet sich nicht. Warum hat sie nicht auf Morgaine geachtet?
Warum...
Sie geht aus dem
Stall und läuft in die Finsternis hinein, die sich auf dem Fußweg neben dem Gut
niedergelassen hat. Wie anders ist es jetzt, ganz anders als am ersten Tag, als
Morgaine fröhlich mit Kuhscheiße spielen wollte. Jetzt ist es finster, in den
Büschen knistert und raschelt es, und in den Bäumen rauscht es unheimlich.
Rebekka beschleicht ein Gefühl der Angst vor der Natur. Ist das normal, könnte
die Natur einem feindlich gesinnt sein? Oder sind das nur die Menschen, vor
denen man Angst haben muss?
Rebekkas Augen schmerzen,
sie wollen weinen, aber sie können es nicht. Rebekka lässt sie nicht weinen. Es
gibt keinen Grund zum Weinen. Morgaine wird gefunden werden.
Sie geht aus dem
Stall und läuft in die Finsternis hinein, die sich auf dem Fußweg neben dem Gut
niedergelassen hat. Wie anders ist es jetzt als am ersten Tag, als Morgaine
fröhlich mit Kuhscheiße spielen wollte. Jetzt ist es finster, in den Büschen
knistert und raschelt es, in den Bäumen rauscht es unheimlich, und Rebekka
beschleicht ein Gefühl der Angst vor der Natur. Ist das normal, könnte die
Natur einem feindlich gesinnt sein? Oder sind das nur die Menschen, vor denen
man Angst haben muss.
„Morgaine, wo bist
du“, ruft sie, und als keine Antwort kommt, geht sie weiter, bis sie
schließlich die Brücke erreicht. Unter ihr rauscht die Strulle, die zum
Mühlbach geworden ist. Sie beugt sich über die steinerne Brüstung und versucht
im Dunkeln, den Mittleren Teich zu durchschauen, der undurchdringlich schwarz
vor ihr liegt. Teiche sind entsetzlich, wer weiß, was alles auf ihrem
vermoderten Grund liegt, welche furchtbaren Geheimnisse sie bewahren. Warum hat
sie nicht auf Morgaine geachtet? Warum...
Wieder wollen
Rebekkas Augen anfangen zu weinen, und wieder sagt Rebekka nein. Denn Morgaine
wird gefunden werden.
Über die Dorfstraße
läuft sie ganz langsam in Richtung Herrenhaus zurück. Wenn sie Licht in einem
der Häuser sieht, schellt sie dort an und fragt die verwunderten Leute, ob sie
Morgaine gesehen hätten. Aber alle schütteln den Kopf. Alle mögen das kleine
Mädchen. Sie war schon in jedem Schweinestall, sie kennt alle Kühe und Ziegen
und sogar die Hühner. Aber heute hat sie keiner gesehen.
Rebekka erreicht die
Strulle in ihrem gemauerten Becken, zur Linken ist noch ein Haus, wo sie nach
Morgaine fragen kann, aber auch dort weiß man nichts.
Sie schaut auf den
Hof des Gutes. Gerade ist der Mond zwischen den Wolken erschienen, und Rebekka
nimmt das als gutes Zeichen. Denn Morgaine wird gefunden werden.
Sie geht entschlossen
ins Herrenhaus, wo sich mittlerweile alle versammelt haben, Archie, Claudia,
Tante Bernadette, sogar Biggi und Sammy sind da, und ausnahmsweise streiten sie
sich nicht. Daniel ist nicht da, wo steckt er? Rebekka tritt an die
Terrassentür und blickt in die mittlerweile undurchschaubare Finsternis. Der
Mond ist nicht mehr zu sehen, die Wolken haben das Regiment wieder übernommen.
Sie hat da noch eine
Idee, sie ist zwar abenteuerlich, aber es könnte doch sein, man greift ja nach
jedem Strohhalm. „Habt ihr im Mausoleum schon nachgeschaut?“
„Nein“, sagt Archie.
„Da kann man normalerweise gar nicht rein, aber wir werden trotzdem nachsehen.“
Sie gehen in den dunklen Garten hinaus. Der
Garten hat sich in ein Schreckgespenst aus nächtlichen Schatten verwandelt, ab
und zu erscheint der Mond schemenhaft am Himmel, und vor seinem Licht taucht
dann wie eine unheimliche schwarzgezackte Silhouette das Mausoleum auf.
Auch Andromeda taucht
auf einmal neben Rebekka auf. Sie ist den ganzen Tag unterwegs gewesen, sie hat
versucht, sich abzulenken und sich zu amüsieren, weil Max immer noch nicht da
ist. Und eben hat sie es von Maid Marian erfahren, das mit Morgaine.
„Es ist nicht
unheimlich“, sagt sie zu Rebekka. „Als Kinder haben wir immer durch die
vergitterten Fenster hineingeschaut, da sind zwar Särge, aber eigentlich ist es
nicht unheimlich...“
„Hör’ mir bloß auf
mit dem Quatsch von den tröstlichen Ahnen!“ Rebekka schaut sie mit zitternden
Mundwinkeln an.
„Die sind schon okay,
die Ahnen.“ Andromeda legt liebevoll ihren Arm um Rebekkas Schulter.
Rebekka zuckt ein
wenig zusammen, die Schulter schmerzt, doch das ist ihr egal. „Du glaubst auch
daran?“
„Ja“, sagt Andromeda
schlicht.
Mittlerweile hat
Archie einen Schlüssel in das Türschloss gesteckt, und die Tür öffnet sich nach
einigem Widerstand rostig knarrend. Er leuchtet mit einer Taschenlampe in die
Gruft hinein. Wahrscheinlich gibt es kein elektrisches Licht. Wozu auch?
Aber dort ist nichts
außer großen steinernen Sarkophagen. Archie leuchtet in jede Ecke, in dem
matten Schein der Taschenlampe sieht man kleinere Särge und auch ganz winzige.
Seltsamerweise wirken sie in ihrer Finsternis, die nur spärlich von der
Taschenlampe erhellt wird, überhaupt nicht unheimlich. Eigentlich verströmen
sie Trost. Särge verströmen Trost? Sicherlich Wahnvorstellungen, vermutlich
dreht sie gerade durch, aber das darf sie nicht. Nicht bevor Morgaine gefunden
ist.
Es ist die schrecklichste Nacht, die Rebekka
jemals erlebt hat. Sie versucht, sich nicht das Schlimme vorzustellen, zu dem
Menschen fähig sind. Sie versucht, nicht daran zu denken, aber trotzdem muss
sie an sie denken, an all die schrecklichen Dinge, zu denen Menschen fähig
sind. Und eigentlich will sie weinen, aber das Weinen würde die Hoffnung töten,
und sie hat noch Hoffnung, also wird sie nicht weinen.
Stunden später, es
ist vielleicht sechs Uhr, wird Rebekka wach. Sie liegt auf einem Sofa im
Aufenthaltsraum, und jemand hat eine Decke über sie gebreitet. Im ersten
Augenblick weiß sie nicht, was passiert ist und weshalb sie hier liegt.
Aber dann auf einmal
kommen die Erinnerungen wieder.
Nein, nicht das, es
kann nicht wahr sein, es ist ein Alptraum und nicht wahr. Sie richtet sich auf
und hält sich die Hände vor die Augen, um nichts sehen zu müssen. Und am
liebsten möchte sie tot sein. Nein, nicht wirklich, denn wenn sie nicht mehr da
wäre und Morgaine wäre doch noch... Aber was ist, wenn sie noch lebt, was
könnte jemand mit ihr tun, sie kann es nicht ertragen, darüber nachzudenken.
Rebekka stöhnt auf, sie beißt sich in die Hand, um nicht zu schreien. Nein,
Morgaine wird gefunden werden, das denkt sie immer wieder mechanisch, obwohl
ihre Seele mittlerweile von Zweifeln durchsetzt ist.
Sie lässt die Hände
sinken und schaut auf. Eigentlich erwartet sie Daniel an ihrer Seite, aber er
ist nicht da, und sie fühlt sich enttäuscht, aber nicht lange. Claudia sitzt
neben ihr, und ihr Gesicht drückt ihre Gefühle aus. Es ist eine Mischung aus
Hoffnung und aus Trost.
„Rebekka, sie lebt
noch, ich weiß es!“
„Woher denn, und
wieso?“
„Ich weiß es eben. Ich
habe damals gewusst, dass mein Kind nicht tot ist. Und jetzt weiß ich, dass
Morgaine noch lebt.“
„Aber wieso?“, fragt
Rebekka gequält. Die Sonne geht anscheinend gerade auf, sie ist noch nicht zu
sehen, aber der Himmel hat sich in ein tiefes Rot verfärbt. Wie Blut sieht es
aus. Und wieso geht die Sonne auf, sie hat keine Berechtigung zu scheinen. Geh
weg Sonne! Und Claudia spinnt, sie hat doch ihr Kind verloren, und jetzt redet
sie so...
„Ich weiß es!“
Claudia beugt sich über sie und nimmt sie in ihre Arme. Rebekka fühlt sich
seltsam. Es ist, als hätte sie eine Mutter, eine wirkliche Mutter, die sie
liebt und nicht eine, die sie immer bei jeder Gelegenheit quält und
niedermacht.
„Claudia, meinst du
das wirklich?“ sagt sie mühsam, und wieder steigen Tränen in ihr hoch, sie
erreichen ihre schmerzenden Augen, und wieder unterdrückt sie die Tränen.
„Ja, ich weiß es!“ Claudia wiegt sie ganz sanft, und
Rebekka überlässt sich ihrer Zärtlichkeit.
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KAPITEL V – Teil 3 NACHT der TOTEN
Morgaine wird wach, und sie
weiß nicht, wo sie ist. Es ist dunkel und kalt hier.
Sie hat geträumt, und die
Träume haben ihr nicht gefallen, da war ein weißer Raum wie beim Kinderarzt,
aber viel größer, und er hat ihr Angst gemacht. Und dann träumte sie von den
Leuten, die sie aus Mammis Kopf kannte, und bei denen gefiel es ihr auch nicht.
Aber jetzt ist sie wach, es ist ein seltsamer Ort ohne Licht, und sie ist noch
nie vorher hier gewesen. Normale kleine Mädchen hätten vielleicht Angst vor
ihm, aber Morgaine ist kein normales kleines Mädchen.
Morgaine überlegt, wie sie
hierhin gekommen ist. Gerade noch ist sie mit Tante Claudi im Stall gewesen,
aber eigentlich will sie zu Mammi. Mammi ist vom Pferd gefallen, und es geht
ihr schlecht. Wie auf Stichwort taucht das Gesicht ihrer Mutter vor ihr auf, es
sieht zerquält aus, Mammis Augen sind fast nass, aber nicht richtig, sie öffnet
den Mund und ruft etwas in die Dunkelheit. Ist es denn schon Nacht? Morgaine
strengt sich an, um Mammis Worte zu verstehen, und tatsächlich hört sie es nach
einer Weile: Morgaine, wo bist du?
Ich bin doch hier, Mammi, sagt
sie erstaunt, und dann fällt ihr ein, dass Mammi gar nicht wissen kann, dass
sie hier ist. Sie versucht, sich zu erinnern, was ist passiert? Sie ist mit
Tante Claudi bei den Fohlen gewesen, und sie will zu Kalybos gehen. Tante
Claudi kommt nicht mit, sie ist zu langsam. Und dann ist da auf einmal dieser
neue Mann, er arbeitet im Stall, und er sagt zu ihr: Kalybos ist gerade nicht
hier, er ist hinter der Kirche. Und ein kleines Kätzchen ist auch da. Soll ich
mit dir hingehen? Eigentlich will Morgaine nicht mit ihm gehen, denn er ist so
wie diese Zirza, so schwarz im Kopf, und das ist nicht gut.
Aber da soll ein Kätzchen
sein, sie liebt Kätzchen über alles, vielleicht ist das Kätzchen in Gefahr.
Vielleicht wird das gleiche mit ihm passieren wie mit Alfonso. Alfonso liegt
tot auf der Straße, er bewegt sich nicht, er ist so entsetzlich steif. Der arme
Alfonso! Wie kann man es verhindern? Morgan hat gesagt, dass solche Träume nur
Möglichkeiten sind, hat es erklärt mit Kreuzungen, von denen verschiedene
Straßen abgehen, man muss nur den richtigen Weg suchen und finden, dann kann
man manchmal vielleicht das Ende beeinflussen. Nicht immer natürlich, aber
manchmal.
Bis jetzt hat sie Morgan nicht
ernstgenommen, sie war zuerst nur eine Stimme in ihrem Kopf und später ein Bild
an der Wand. Sie haben sich zwar unterhalten, aber Morgan redete über komische
Sachen und gab ihr komische Tipps. Wollte sie ihr was beibringen? Bis jetzt hat
sie noch nie über ihre Fähigkeiten nachgedacht, bis jetzt war alles nur Spaß,
manchmal geht es ganz leicht, vor allem mit Daniel, den sie sehr lieb hat, und
manchmal träumt sie auch nur seltsame Sachen. Manchmal träumt sie sogar
mehrmals von der gleichen Sache, es ist so, als ob sie einen Film sieht, der
jedes Mal anders ausgeht. Und es ist so, als könne sie beeinflussen, wie das
Ende wird. Nicht immer geht das, manchmal gibt es nur den einen Weg, wie Morgan
es ihr gesagt hat. Morgaine schüttelt den Kopf und überlegt weiter, wie sie
hierhin gekommen ist. Also:
Sie will alleine zum Kätzchen
gehen, aber der Mann nimmt sie fest bei der Hand, sie laufen schnell an der
Kirche vorbei – und sie will schreien, aber bevor sie schreien kann, hat er ihr
etwas ins Gesicht gedrückt. Ihr wird schwindelig, und dann ist da nichts mehr,
bis sie hier im Dunklen aufwacht. Es ist sehr dunkel hier und sehr kalt.
Aber sie
ist nicht allein. Mehrere Stimmen sind zu hören, manche kann sie verstehen, und
manche sind so leise, dass sie nur ein Murmeln vernimmt:
Es war lange keiner mehr hier...
Wozu auch, man hat uns vergessen...
Wir sind tot, und das ist ganz normal...
Aber ein bisschen könnten sie uns doch...
Da bist du ja, Morgaine.
Ja, da bin ich, Morgaine kennt
die Frauenstimme, es ist Morgan, sie kam einst aus Britannien und heiratete
hier einen von Kampe, und sie ist ganz alt, so alt, dass sie lange schon tot
ist. Sie hat sich schon mit Morgan unterhalten, als sie Kampodia noch gar nicht
kannte. Zuerst hat sie gedacht, Morgan wäre ein Engel, der sie beschützt, aber
darüber hat Morgan gelacht. Sie heißt so ähnlich wie sie selber, und sie sieht
ihr auch ein bisschen ähnlich. Das Bild an der Treppe, sie hat es gleich
gesehen, das ist Morgan. Und sie ist mit ihr verwandt, das versteht Morgaine
zwar nicht, denn dann wäre sie ja eine Ur-Ur-Ur-Enkelin
von ihr. Und wieso weiß Mammi nichts davon?
Sie versucht sich umzublicken in
der Finsternis, und nach einer Weile sieht sie tatsächlich etwas, nicht durch
ihre Augen, sondern durch ihren Kopf. Sie erkennt große steinerne Kisten, aus
denen kommen die Stimmen und das Gemurmel. Aber sie hat keine Angst, denn sie
ist nicht alleine.
Morgan sagt: Du solltest nicht
hier sein Morgaine.
Ich weiß ich weiß, ich möchte lieber bei
Mammi sein, sagt Morgaine, und bei Daniel und bei Tante Claudi.
Dann versuche, sie zu erreichen, sagt die
Frauenstimme, es wird Zeit. Er wird zurückkommen und
dich holen wollen.
Ich habe aber kein Telefon
hier, sagt Morgaine.
Was ist ein Telefon?
Das ist so ein Ding, mit dem
man andere Leute anrufen kann.
Ach so... Brauchen die
heutzutage so ein Ding? Die Frauenstimme scheint sich zu amüsieren, bevor sie
weiterspricht: Aber du brauchst das nicht. Ich weiß es.
Aber ich weiß doch gar nicht,
wo ich bin. Ich war noch nie hier.
Ich werde es dir erklären...
Und während wir warten, können wir uns unterhalten, wir sind uns ja sehr
ähnlich.
Wieso hat Mammi mir nicht erzählt, dass wir
verwandt sind? Und da sind noch die anderen, aber sie will nicht, dass ich sie
sehe.
Zu deiner ersten Frage, deine Mutter weiß es
nicht. Und zu deiner zweiten Frage, deine Mutter wird wohl ihre Gründe haben.
Über diese Antworten ist Morgaine sehr
erstaunt. Doch dann reißt sie sich zusammen und denkt ganz angestrengt an
Daniel. Hoffentlich kriegt er es mit: Ich bin hier,
Daniel! Hörst du mich?
Die alte Morgan schweigt, nur
noch das Gemurmel der anderen Leute erfüllt den kalten dunklen Raum.
Dann ertönt eine leise Stimme,
sie kommt von oben, nicht von hier: Ich kenne euch nicht, ihr seid nicht
meine...
Ach halt die Klappe, sagt eine
andere Stimme, geh’ doch weg, wenn du dich hier nicht wohl fühlst!
Ich kann doch nicht, sagt die
erste Stimme.
Und Morgaine sieht, wie ein
Kind aus der Mutter kommt, es ist tot. Es wird in eine Tasche gepackt, ins
Herrenhaus geschleppt, später in eine steinerne Kiste gelegt und dort oben im
Mausoleum eingesperrt. Es ist unglücklich, weil es nicht hierhin gehört.
Sie sind vertauscht worden,
erklärt die alte Morgan ihr.
Man kann doch nur Karten
vertauschen, sagt Morgaine, die den Hang zum Kartenspiel wohl von ihrem Vater
geerbt hat, denn ihre Mutter interessiert sich überhaupt nicht dafür.
Doch das kann man. Und es sind
böse Menschen, die so etwas tun. Aber das arme Kind da oben kann nichts dafür.
Das ist traurig, Morgaine
schüttelt betrübt den Kopf.
Es ist sehr traurig, sagt die
tote Morgan, doch nun ist es bald soweit, Daniel wird kommen und dich holen.
Und wir bleiben in Verbindung.
Morgaine fängt an zu kichern:
Kannst mich ja anrufen.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Daniel hat alles Mögliche
abgesucht, alle Ställe, alle Schuppen, aber er hat nichts gefunden. Er scheut
davor zurück, die anderen zu treffen, sein Entsetzen ist zu groß, und er hat
Angst, er könne es auf Rebekka übertragen. Sie ist bestimmt schon geschockt
genug.
Also besinnt er sich und denkt
nach. Wenn niemand eine Spur von Morgaine gefunden hat, dann ist sie gut
versteckt. Oder sie ist mittlerweile weit weg von hier. Das ist schlimm,
aber... Er denkt an seine Fähigkeiten. Nein, er hat mittlerweile erkannt, dass
es nicht seine Fähigkeiten sind. Morgaine lässt ihn nur daran teilhaben,
vielleicht bewusst, vielleicht auch unbewusst, doch immerhin ist es eine Möglichkeit. Aber wie funktioniert es? In der Kneipe hat er direkte
Bilder von ihr empfangen, aber das kann Zufall gewesen sein. Warum kommt jetzt
nichts bei ihm an? Sollte er dazu schlafen? Dazu hat er eigentlich nicht die
Ruhe, aber er muss es probieren, auch wenn es vielleicht vergeudete Zeit ist,
die er nutzen sollte, um sie zu suchen. Oder ist sie etwa... Es kommt nichts
bei ihm an, das könnte bedeuten... Sein Gesicht wird bleich. Nein, nein, nein,
das ist sie nicht! Niemals!
Also schlafen, vielleicht auch träumen...
Hamlets Monolog voller Zaudern. Wieso hat man immer so
beknackte Gedanken! Daniel stöhnt auf und fasst sich an den Kopf. Irgendwie
muss er sich dazu zwingen, einzuschlafen. Muss es versuchen, auch wenn es
falsch ist. Und warum hat er sich nicht um Morgaine gekümmert, auf sie
geachtet? Rebekkas Sturz hat ihn davon abgelenkt. Ob das Absicht war? Aber
trotzdem, man muss immer auf sein Kind achten. Er hat sich einlullen lassen von
Kampodia, Kampodia ist anscheinend nicht so friedlich wie es scheint.
Irgendjemand treibt hier sein Unwesen...
Er sieht Rebekka an der
Terrassentür stehen, und sie blickt hinaus in die Dunkelheit. Alles in ihm
drängt zu ihr, aber er widersteht diesem Drängen und geht von allen unbeachtet
die Treppe hoch. Er kann ihr jetzt nicht helfen, er muss träumen. Oder auch
nicht. Was, verdammt noch mal könnte richtig sein?
Daniel lässt sich auf sein
Bett fallen und versucht einzuschlafen. Er hat sich dazu entschlossen, obwohl
es falsch sein könnte. Vielleicht sollte er etwas Alkoholisches trinken? Aber
es darf nicht zuviel sein, sonst wird er zu fest schlafen und nicht träumen.
Also besser nicht. Oder doch? Was ist richtig, was ist falsch, was soll er tun?
Er geht an den Kühlschrank, greift sich die angebrochene Flasche Weißwein und
trinkt mehrere Schlucke direkt aus der Flasche.
Er legt sich wieder auf das
Bett. Er wälzt sich hin und her, durch die nicht zugezogenen Vorhänge fällt ab
und zu das Licht des Vollmonds, wenn er gerade nicht von Wolken verdeckt wird.
Daniel weiß nicht, ob er
schläft, und falls er schläft, dann ist es ein unruhiger nervöser Schlaf, mehr
Wachsein als Schlaf, aber es scheint zu klappen, denn er träumt wirklich...
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
KAPITEL V – Teil 4 TRÄUME und TÄUSCHUNGEN
~*~*~*~ Er sieht in einen weiß getünchten steril wirkenden Raum. An den Wänden
stehen hohe Regale, in denen sich seltsame Instrumente und elektrische Geräte
befinden. In der Mitte des Raumes kauert bedrohlich ein metallisch glänzender
Operationstisch. Ein grob aussehender, mit einem Laborkittel bekleideter Mann
fährt gerade eine Bahre herein. Ein weißes Laken verdeckt die kleine Gestalt,
die darauf liegt. Wir werden es schon herauskriegen, sagt jemand, es ist ein
Kerl in einem grünen Arztmantel. Er hält einen Mundschutz in der Hand und will
ihn gerade aufsetzen. Ein Chirurg etwa? ~*~*~*~
Daniel fährt hoch. Oh Gott,
das will er nicht sehen! Und bestimmt ist es nur eine Vision aus einer
möglichen Zukunft, die nicht unbedingt sein werden muss. Er versucht, sein wild
schlagendes Herz unter Kontrolle zu bekommen, es gelingt, und er entspannt sich
wieder. Es ist nur ein Traum, flüstert er vor sich hin, nur ein Traum.
~*~*~*~ Diesmal blickt er in ein Wohnzimmer. Es ist mit billigen geschmacklosen
Möbeln eingerichtet. Ein Kind spielt auf dem abgewetzten Teppichboden, und ein
älterer Mann betrachtet das spielende Kind mit leicht wollüstigen Blicken. Eine
Frau sitzt neben ihm auf dem rissigen Kunstledersofa, auch sie betrachtet das
spielende Kind. Aber ihr Blick ist hasserfüllt. Schau mal Opa, ich habe das
Teil gefunden, ruft das Kind aus und blickt den älteren Mann an. Und Daniel
sieht, dass es Morgaine ist, eine Morgaine, die vielleicht drei Jahre älter ist
als jetzt. Und Opa? Morgaine ist bei ihren Großeltern? Seltsam... Die kalten
Augen der Frau gefallen ihm gar nicht. Es muss Rebekkas Mutter sein, obwohl sie
Rebekka gar nicht ähnlich sieht. Und dieser Blick, mit dem der Opa sein
Enkelkind betrachtet, der gefällt ihm auch nicht. Er ist schmierig, verschlagen
und gierig.
Was zum Teufel ist los mit
dieser Familie? Er wird Rebekka danach fragen. Und obwohl er träumt, reift
gerade ein Plan in ihm heran. Er muss Morgaine unbedingt schützen, sei es vor
diesen widerlichen Großeltern oder sei es vor ganz anderen Gefahren. ~*~*~*~
Daniel wacht wieder auf und
fühlt sich furchtbar elend. Ist das die Zukunft? Wenn ja, dann wird sie
entsetzlich sein, so oder so. Er denkt an die Idee, die in dem Traum geboren
wurde, er überlegt sie schnell bis in die letzten Konsequenzen, aber das dauert
nicht lange. Er wird es tun, und hoffentlich ist es noch nicht zu spät dafür.
Er schließt die Augen und versucht wieder, sich zu entspannen. Aber es geht
nicht...
Dieses Mal ist er hellwach, er
blickt in eine absolute Finsternis. Und obwohl er seine Augen anstrengt, kann
er nichts erkennen. Aber er hört ein Wispern und ein Murmeln. Wieder strengt er
seine Augen an, um die Finsternis zu durchschauen, denn es muss doch einen
Funken Licht dort geben, aber seine Bemühungen sind vergebens, der Raum bleibt
dunkel, und das macht ihm Angst.
Ich bin hier Daniel, hört er.
Es ist Morgaine, es ist tatsächlich Morgaine! Er atmet tief aus, sie lebt!
Wo denn Fee, sag’s mir, wo
bist du, fragt er ungeduldig.
Die tote Morgan sagt, es ist
unter der Kirche...
Verdammt, die tote Morgan, wer
ist das? Kannst du ihr vertrauen?
Ja, sagt Morgaine, sie kennt
mich und hat auf mich gewartet, und sie hat auch dafür gesorgt, dass Max und
du, dass ihr euch trefft...
Okay, okay, also wo bist du?
Morgaine weiß mittlerweile, wo
sie ist, die tote Morgan hat es ihr erklärt. Sie schickt Daniel ein Bild von
einer mit Efeu bedeckten Mauer, ganz in der Nähe der Kirche. Und da ist eine
Tür, eine schwere Eisentür, zu schwer, um von einem kleinen Mädchen aufgemacht
zu werden. Aber Daniel kann sie bestimmt aufmachen, und während er sich eilig
auf den Weg macht, erzählt Morgaine ihm die Geschichte dieses Ortes. Sie hatte
etwas mit einem Krieg zu tun, der vor langer Zeit stattfand und der dreißig
Jahre lang dauerte. Als die Familie von Kampe eintraf, fand sie kaum noch
Überlebende im Dorf vor, außer in der Krypta der Kirche. Die Tür, die nach unten führte, war zugemauert worden, und es war der
sicherste Zufluchtsort des Dorfes, erreichbar nur von außerhalb der Kirche
durch eine geheime Tür in der Mauer, die man einst gebaut hatte, um die
wasserbringende Strulle ins Dorf zu leiten.
Die von Kampes ließen von nun an ihre Ahnen
in der Krypta der Kirche bestatten, aber diese Bestattungen erwiesen sich als
recht umständlich, und irgendwann errichteten sie im Gutspark ein eigenes
Mausoleum.
Kurz danach brachen wieder Kriege aus. Männer
jeglichen Alters wurden getötet oder wurden vermisst. So gesehen war es kein
Wunder, dass die versteckte Tür zur Krypta allmählich in Vergessenheit geriet
und keiner mehr davon wusste.
FAST keiner mehr davon wusste. Denn es gibt immer
Neugierige, die alles ausspionieren. Zirza ist so eine Neugierige. Auch ihre
Familie ist sehr alt, aber leider nicht so reich und berühmt wie die von
Kampes, obwohl ein von Kampe der uneheliche Vater einer Lakosta war. Und
deswegen interessiert sie sich heftig für alles Mögliche, sei es für die fast
vergrabenen Geheimnisse des Dorfes – oder sei es für die Geheimnisse ihrer
Mutter...
Es geschah, als Helena Lakosta, die gleichzeitig Hebamme und Oberabtreiberin des Dorfes war, Besuch von einer hochschwangeren entfernten Cousine und deren Mann hatte.
Die Cousine hatte in Helenas Haus
eine Frühgeburt. Es war nicht mehr möglich, den Arzt aus Brunswick zu holen,
und Helena in ihrer Eigenschaft als Hebamme übernahm. Aber das Kind wurde tot
geboren. Die Kusine weinte und machte ihr heftige Vorwürfe, in die auch ihr
nichtsnutziger Mann mit einstimmte.
Und um das Geflenne nicht mehr
anhören zu müssen, kam Helena auf eine geniale Idee. Im Herrenhaus war die
hochnäsige Schwester von Archibald zu Besuch, die selber hochschwanger war. Sie
konnte es ja mal versuchen. Bei Gott, sie hasste dieses adelige Pack – und sie
wusste, dass alle beim Schützenfest waren, außer Claudia Mansell, die sich
nicht gut fühlte. Auch ihr ausländischer Mann, dieser Chinese war mit zum
Schützenfest gegangen, welches dieses Jahr sehr spät stattfand, nämlich Ende
Oktober.
Helena trank schnell zwei Gläser
billigen Branntweins, um locker zu werden. Dann packte sie das tote Kind in ihr
Hebammenköfferchen, kramte im Apothekerschrank herum – als Hebamme kannte sie
natürlich brauchbare Mittel – sie mischte etwas in einer Flasche zusammen,
packte noch ein Narkosemittel namens Halothan dazu – und machte sich dann mit
dem Koffer auf in Richtung Herrenhaus, das ja nicht weit vom Unteren Dorf
entfernt lag, nämlich nur zweihundert Meter.
Niemand im Dorf
schloss tagsüber die Haustür ab, und es war überhaupt kein Problem für Helena,
ins Herrenhaus zu gelangen. Das Köfferchen mit dem toten Kind hatte sie hinter
den Tannen an der Eingangstüre versteckt.
Wie erwartet war
keiner da, außer dem leicht schwachsinnigen Mädchen, das gerade in der Küche
heiße Schokolade zubereitete, die für Claudia Mansell bestimmt war. Grandioser
Zufall, schicksalhaft irgendwie, dachte Helena frohlockend. Ohne die Schokolade
wäre sie in ziemliche Schwulitäten gekommen, aber es ging ja um nichts, es
handelte sich nur um einen Versuch.
Mit Leichtigkeit
gelang es Helena, das Mädchen abzulenken und ohne überhaupt gesehen zu werden,
eine ordentliche Portion aus ihrem Fläschchen in die Schokolade zu geben. Das
Mädchen erschien wieder, nahm das Tablett mit der Schokolade und ging damit
leise vor sich hinsingend die Treppe hinauf.
Ein paar Minuten später fing
Claudia Mansell an zu schreien, während der Spielmannszug gerade fürchterlich
herumlärmte mit Querflöten und Pauken und Trompeten.
Niemand hörte ihre Schreie. Außer
dem Dienstmädchen und außer Helena. Und die hatte die Schreie gehört, als sie
ZUFÄLLIG am Gutshof vorbeigegangen war.
Sie schellte an der Tür. Das
Mädchen ließ die dörfliche Hebamme, die glücklicherweise ihren Koffer dabei
hatte, erleichtert herein, denn Claudia Mansell hatte wohl Wehen bekommen...
Die Geburt verlief ohne
Komplikationen, aber dennoch war das Kind tot. Klar, Helena hatte es flink
vertauscht und trug nun ein anderes, und zwar ein höchst lebendiges Kind in der
Tasche. Sie hatte ihm vorsichtshalber eine angemessene Portion Halothan
verpasst, denn es sollte nicht schreien. Das Mittel wirkte zwar erst nach ein
paar Sekunden, aber das war egal...
Doch Claudia, die trotz des
wehenerzeugenden Mittels und trotz des Schlafmittels darin immer noch ein wenig
wach war, hatte ihr Kind gesehen. Und sie hatte es auch gehört. Es war nicht
tot, nicht tot, nicht tot, nicht tot, nicht tot. Es war wie ein Alptraum: Nicht
tot, nicht tot, nicht tot, nicht tot... Noch Jahre später dachte sie an diesen
Augenblick, als sie ihr Kind gesehen und gehört hatte. Aber niemand glaubte
ihr. Auch der Arzt, der wenige Minuten später kam, herbeitelefoniert von dem
Dienstmädchen, konnte nur noch den Tod des Kindes feststellen. Es kam ihm zwar
etwas seltsam vor, aber nachdem er mit Helena gesprochen hatte, stellte er
anstandslos den Totenschein aus. Warum tat er das? Ganz einfach, Helena hatte
ihn in der Hand, einstmals Putzfrau bei ihm gewesen, hatte sie dann etwas
anderes geputzt, nämlich ihn selber, und diesen Gefallen musste er ihr tun. Er
war schließlich verheiratet, und seine Frau war maßlos misstrauisch und
eifersüchtig...
Helena fühlte sich stark und
mächtig. Dennoch war die Geschichte zu heiß, die Angelegenheit zu verzwackt...
Sie drängte also die Cousine,
sofort die Heimreise anzutreten, koste es was es wolle. Nach hundert Kilometern
sollten sie in das nächste Krankenhaus gehen und behaupten, das Kind wäre auf
der Autobahn geboren worden. Und sie sollten sich am besten nie mehr hier
blicken lassen! Helenas Euphorie nach ihrem gelungenen Geniestreich war schon
fast verflogen, denn ihre undankbare Cousine fand das kleine Mädchen nicht
besonders anziehend. „Die mütterlichen Instinkte werden sich schon noch
einfinden“, sagte sie giftig zu ihr und drängte sie förmlich aus dem Haus.
Man war so schlau, ihre Anweisungen
genau zu befolgen. Es gab nur eine kleine Komplikation mit dem Geburtsort der
Kleinen. Aber nachdem die Cousine reichlich herumgeheult und ihr Mann den
Chefarzt des Krankenhauses fast auf Knien liegend gebeten hatte, die
Geburtsurkunde hier auszustellen, weil er nicht wollte, dass sein Kind als
Geburtsort ‚Autobahn zwischen diesem und jenem Ort’ im Personalausweis stehen
hatte, gab die Krankenhausverwaltung nach. Es kostete sie ja nichts. Die
glücklichen Eltern spendierten eine Runde Sekt und fuhren dann gemütlich nach
Hause.
Helena hatte nicht viel Kontakt zu
den Verwandten, welche ziemlich weit weg lebten, dort wurde das Kind der
Claudia Mansell aufgezogen, und keiner wusste, wie es ihm erging.
Einmal jedoch besuchte Helena ihre
Cousine entfernten Grades. Sie sah das Kind, es schien ihm körperlich gut zu
gehen. Es war nicht eigentlich hübsch, sah aber interessant aus mit den dunklen
Haaren und den blauen schräggestellten Augen. Ihre Cousine hackte jedoch
dauernd auf ihm herum, als ob sie ihm die leicht adelige Abkunft verübeln
würde.
„Du glaubst wohl, du bist was
Besseres!“, hörte Helena – und: „Ich prügele es schon aus dir heraus!“ Das
Mädchen allerdings lächelte nur und zeigte sich unbeeindruckt. Gut gespielt,
dachte Helena, denn sie hatte die gequälten Augen des Kindes gesehen.
Es bereitete Helena nicht viel
Vergnügen, bei ihrer Verwandtschaft zu sein, möglicherweise hatte sie den
Anflug eines schlechten Gewissens. Sie ließ von weiteren Besuchen ab und erfuhr
Jahre später, dass noch ein Kind angekommen war, ein Sohn und dass er der
erklärte Liebling seiner Eltern wäre. Sie zuckte mit den Schultern und dachte
fast nicht mehr daran.
Allerdings machte sie dann und
wann, wenn sie zuviel billigen Branntwein getrunken hatte, dunkle Andeutungen,
die von ihrer Tochter Camilla gierig aufschnappt wurden. „Sie werden dir auf
die Schliche kommen“, murmelte sie manchmal vor sich hin, Helena bildete sich
nämlich ein, das zweite Gesicht zu haben, ähnlich wie einige aus der Familie
von Kampe, deren Abkömmling sie inoffiziell war. Die hat noch nicht mal das
erste Gesicht, dachte Camilla dann immer höhnisch.
Camilla, die sich später Zirza
nannte, und zwar in Anlehnung an die Zauberin Circe, hatte schon damals in
einer Ecke des armseligen Häuschens gesessen und alles mitgekriegt, ohne viel
davon zu verstehen. Zirza, alias Camilla sammelte Informationen, egal über was
und über wen. Und irgendwie bekam sie es heraus aus ihrer versoffenen Mutter,
die sich doch tatsächlich Vorwürfe machte. Die alte Kuh wurde sentimental! Zu
diesem Zeitpunkt war Zirza drei Jahre mit Archibald von Kampe verheiratet, sie
hatte zwar eine Stieftochter, aber ihr eigenes Kind war gestorben, und dann
erfuhr sie, dass noch ein Sprössling dieser verdammten Sippe lebte, und zwar
bei ihren eigenen Verwandten. Ein Schlag ins Gesicht! Aber es würde mit
Sicherheit nie herauskommen, es war wasserdicht und absolut nicht knackbar.
Aber trotzdem informierte Zirza
sich über die ‚Verwandte’, die weit weg von ihr lebte, am Anfang nur
oberflächlich und sporadisch, aber später hatte sie durch die Firma bessere
Möglichkeiten dazu. Denn in dieser Familie traten öfter ungewöhnliche
Fähigkeiten auf, und wenn die ‚Verwandte’ oder ihr Balg diese Fähigkeiten
besaßen, dann... Und tatsächlich kriegte sie es heraus. Der Kinderarzt der
Familie ließ es sich gerne vergüten, ein paar unauffällige Untersuchungen mit
dem Kind zu machen. Einmal durch Messung der Alpha-Gehirnwellen, und dann durch
den so genannten Zener-Test: Eine Person legt Karten, deren verschiedene Motive
jemand erraten soll, der in sich in einem entfernt gelegenen Raum befindet.
Das Kind bestand den Test mit Bravour und ohne Fehler...
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
„Mammi!“
Rebekka, die immer noch ihren Kopf
in Claudias Armen vergraben hat, richtet sich ungläubig auf.
„Mammi, ich bin doch hier...“
Halluzinationen eindeutig! Sie
fängt allmählich an durchzudrehen, bildet sich vielleicht ein, dass Morgaine...
Aber dann hört sie es noch einmal: „Mammi, ich bin doch hier...“
Sie dreht
den Kopf nach rechts zur Eingangstür – und sieht Morgaine dort stehen. Es ist
Morgaine, ihr kleines Mädchen, ihr ein und alles, und sie spürt, wie ihre Augen
nass werden. Durch die Tränen, die unwiderstehlich aus ihnen herausquellen, sieht
sie außer Morgaine auch Daniel, der Morgaine an der Hand hält. Hat Daniel sie
gefunden? Wenn ja, dann liebt sie ihn dafür, und er wird für immer in ihrer
Schuld stehen.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
KAPITEL V – Teil 4 NOTWENDIGKEITEN...
Zwei Stunden später hörte Rebekka
langsam auf zu weinen. Die Tränen waren über sie gekommen wie ein
unaufhaltsamer Sturzbach, sie weinte über Morgaines Verschwinden und über ihre
Wiederkehr, sie weinte über ihre eigene Kindheit, über ihre Eltern, über ihre
Beziehungen, sie weinte über all das, worüber sie ihr ganzes Leben lang noch
nicht geweint hatte.
Und nun fühlte sie sich wie eine
Landschaft, über der ein riesiger Gletscher gelegen hatte, doch der Gletscher
war weitergewandert, und die Landschaft richtete sich allmählich wieder auf,
kehrte zu ihrem ursprünglichen Zustand zurück. Irgendetwas war geschehen, sie
wusste nicht was, sie wusste nur, etwas in ihrem Wesen hatte sich verändert,
nein, das stimmte nicht, es war etwas hinzu gekommen. Und das war das Wesentliche,
es versöhnte und vereinte sie. Es war, als wäre sie heute zum ersten Mal in
ihrem Leben richtig vollständig, so wie sie eigentlich sein sollte – und nicht
mehr so zerrissen und unglücklich, wie sie sich immer gefühlt hatte.
Gab es das Gegenteil von
Schizophrenie, und wie hieß das wohl? Egal, sie wusste jetzt, dass sie es
schaffen konnte, aus dem Teufelskreis ihrer Angst und ihrer Komplexe
auszubrechen. Sie trug nicht die Schuld am Verhalten ihres Vaters, und der Hass
ihrer Mutter auf sie war grundlos. Sie durfte sich dadurch nicht ihr Leben
versauen lassen. Fast meinte sie, eine Stimme in ihrem Kopf gehört zu haben,
die ihr erklärte: ‚Das Wichtigste im Leben ist die Liebe, natürlich ist sie ein
Wagnis, doch wenn du dich ihr verweigerst, dann steigert sich deine
Verzweiflung.’ Seltsam altertümlich hatten diese Worte geklungen.
Sie war im Moment so froh über
jede körperliche Nähe. Vorhin hatte sie Claudia leise gedankt und sich an ihr
festgehalten. Claudia hatte an Morgaines Rückkehr geglaubt, als Rebekka selber
schon schwach gewesen war.
Oder Archie, er war gekommen und
hatte sie umarmt, er war ja selber Vater und wusste auch, wie es ist, wenn man
ein Kind... Auch Tante Bernadette war da gewesen. Die arme Tante Bernadette,
die ihre Tochter und gleichzeitig ihre Enkelin verlor vor fünfzehn Jahren, auch
sie hatte Rebekka an sich gedrückt, und Rebekka musste wieder weinen...
Und jetzt saß Daniel neben ihr auf
dem Sofa, und er streichelte geistesabwesend ihre Hand. Rebekka genoss es, sie
hatte Morgaine ins Bett gebracht, damit sie sich richtig ausschlafen konnte.
Sie hatte die Nacht in der Krypta gut überstanden, und auch die eisige Kälte
darin hatte ihr nicht geschadet. Wieder kamen Rebekka die Tränen. Daniel hatte
Morgaine gefunden und zurückgebracht. Allerdings schien er nicht ganz bei der
Sache zu sein, denn er guckte streng an die Wand, als ob er über irgendetwas
nachgrübeln musste. Aber das war egal, sie strahlte ihn durch die versiegenden
Tränen hindurch an und sagte: „Wie hast du das nur geschafft, Daniel?“
Er sagte nichts, sondern schaute
sie nur prüfend an. Und allmählich wurde ihr ein wenig beklommen zumute. Was
hatte er?
„Kannst du es jetzt wenigstens
zugeben?“, sagte Daniel schließlich und ließ ihre Hand los.
„Was denn? Was soll ich zugeben?“
Rebekka hatte absolut keine Ahnung, was sie zugeben sollte. Und ihre Hand kam
ihr auf einmal nutzlos und verlassen vor.
„Dass ich Morgaines Vater bin! Und
rede dich nicht wieder mit damit heraus, dass sie keinen Vater braucht!“
„Aber...“ Rebekka wurde still.
Seine Stimme hatte so eindringlich und kalt geklungen, dass sie wirklich
versuchte, in die Vergangenheit hineinzuschauen und sie zu ordnen. Eigentlich
war es das erste Mal, dass sie es tat. Sie überlegte angestrengt, aber es kam
nichts dabei heraus, bis dann auf einmal…
„Ich hab’ doch die Pille
genommen“, meinte sie schließlich kläglich, aber in einem Winkel ihres
Hinterstübchens war ihr dazu eingefallen: Sie hatte zwar die Pille genommen,
aber sie hatte diese Darmgrippe gehabt. „Verdammt!“, entfuhr es ihr
entgeistert.
„Ich will gar nicht wissen, warum
und wieso, es ist eben so.“ Daniels Stimme klang ein wenig zärtlicher als
zuvor, was soviel hieß, sie klang wie die Stimme eines Eisbergs.
„Und woher nimmst du diese
Gewissheit?“ Rebekka war trotz ihres wiedererlangten Erinnerungsvermögens immer
noch skeptisch.
„Herrgott, Mädel! Ich habe eine
Verbindung zu Morgaine, nur dadurch habe ich es geschafft, sie da raus zu
kriegen.“
„Eine Verbindung? Was soll denn
das für eine Verbindung sein?“, fragte Rebekka ungläubig.
„Irgendwas mit Telepathie, ich
glaube, ich kannte sie schon, als sie noch in deinem Bauch war...“
„WAS? Das gefällt mir jetzt aber
gar nicht“, Rebekka schaute ihn empört an, sie hatte es nicht gerne, wenn
jemand in ihr spionierte, sei es in ihrem Bauch oder sei es in ihrem Gehirn.
„Es war warm und dunkel und
schaukelig...“
„Quatsch! Das war nur eine
Einbildung pränataler Art!“
„Nein, das war es mit Sicherheit
nicht. Später habe ich dann auch andere Sachen gesehen...“
„Und welche bitte?“
„Einmal habe ich mich selber
gesehen, das war einwandfrei aus deinem Kopf heraus. Wie auch immer, jedenfalls
kannte ich Morgaine schon aus Träumen, da wusste ich noch gar nicht, dass sie
existiert...“
„Du spinnst ja wohl“, ereiferte sich Rebekka, die krampfhaft darüber nachgrübelte, warum er sich selber hatte sehen können. Von IHREM Kopf aus? So ein Quatsch! Und dann fiel ihr siedendheiß ein, dass sie wohl öfter an ihn gedacht hatte, und zwar wenn sie sich ähem... selber befriedigt hatte. Und dieser Gedanke brachte sie dermaßen aus dem Konzept, dass sie das andere, nämlich dass er Morgaine schon kannte, bevor er sie äääh... Das war zu verwirrend, jedenfalls hoffte sie, dass Morgaine nicht allzu viel davon mitgekriegt hatte, vor allem nichts von Daniels Körper...
„Ich glaube, dass Morgaine in
Gefahr ist. Jemand versucht, sie in seinen Besitz zu bekommen.“
„Aber warum denn?“, fragte sie,
obwohl ein Teil von ihr die Antwort bereits wusste.
„Sie kann Bilder in unseren Köpfen
sehen, sie kann Bilder schicken und andere lesen, und wer weiß, was sie noch
alles kann.“
„Ja, sie ist außergewöhnlich.“ gab
Rebekka zu, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. „Sie ist so lieb und
so gut, und sie weiß so viel. Aber was können wir tun?“
„Wir sollten heiraten!“, sagte Daniel
nach einer kurzen Pause, und er wirkte vollkommen unbewegt bei diesen Worten.
„Heiraten?“ Rebekka starrte ihn
an. Ihn heiraten? Obwohl sie eine sehr realistische Person war – das dachte sie
jedenfalls von sich – war der Gedanke verlockend. Vielleicht hatte sie im
tiefsten Inneren das Verlangen gehabt, es irgendwann zu tun, das mit dem
Heiraten. Aber so? Das war nicht gerade die Hochzeit, die ein Mädchen sich
wünschte. Andererseits war das alles
vollkommen egal, denn jetzt ging es um Morgaines Sicherheit. Aber wieso heiraten?
„Warum?“, fragte sie ratlos.
„Sie wäre dann weniger gefährdet“,
Daniels Stimme klang seltsam tonlos. „Du hattest doch gestern diesen Unfall.
Und du
reitest doch immer um die gleiche Zeit?“
Rebekka nickte und bewegte
unbehaglich ihre verletzte Schulter, denn jetzt fühlte sie ihn wieder, den
Schmerz, den sie gestern Nacht wohl verdrängt hatte.
„Der Sattelgurt
kam mir vor, als hätte ihn jemand angeschnitten.“
„Oh Gott!“
„Und dieser neue Stallbursche, er
ist einfach verschwunden. Keiner hat ihn mehr gesehen, keiner weiß, wer ihn
eingestellt hat und ob er überhaupt eingestellt wurde. Max ist ja nicht da...“
Rebekka starrte ihn an. „Das ist
wirklich seltsam“, flüsterte sie in sich hinein.
„Sehr seltsam. Wirklich! Aber
falls er etwas damit zu tun hat, dann war er nur ein Handlanger für
irgendjemand anders. Vielleicht für eine Organisation, die so etwas erforscht.
Ich habe von einem weißen Operationsraum geträumt.“ Daniel schüttelte sich
leicht.
„Du hast davon geträumt? Aber
wieso...“ Rebekka verstummte. Sie konnte sich nur langsam mit Morgaines
Fähigkeiten abfinden.
„Es kam mit Sicherheit von
Morgaine, sie kann wahrscheinlich auch in die Zukunft sehen, vielleicht träumt
sie von Dingen, die eventuell passieren können unter bestimmten Umständen. Und
ich kriege sie manchmal mit.“
„Ein Operationssaal?“ Rebekka
wurde blass, sie hatte erst jetzt dieses Wort realisiert.
„Ein Operationssaal! Und wenn das
kein Zufall ist? Was passiert, wenn du stirbst?“ Daniel schaute sie
eindringlich an. „Würden deine Eltern für Morgaine sorgen können? Von denen
habe ich übrigens auch geträumt...“
Rebekkas Gesicht wurde noch
blasser. Ihre Eltern? Nein, nein, nein, um Himmels Willen! Nicht ihre Eltern.
Nicht ihre Mutter, und erst recht nicht ihr Vater!
„Nein, das will ich nicht!“, sagte
sie hart. „Da heirate ich doch lieber dich!“ Auch das konnte nicht sein. Warum
hatten diese Worte ihren Mund verlassen, sie war ja total verrückt im Moment,
vollkommen außer sich vor Glück, dass Morgaine wieder da war und auch total außer
sich, weil sie sich Sorgen machte. Es stimmte, Morgy war etwas Besonderes, und
das mit dem Hineinblicken in anderer Leute Köpfe hörte sich zwar
unwahrscheinlich an, aber wie sonst hätte Daniel Morgaine finden können in
diesem Loch, in dieser Krypta, umgeben von Toten – und das alles nur erreichbar
durch einen Geheimgang, von dem niemand etwas mehr wusste. Rebekka erschauerte,
Tote, Skelette und ihr kleines Mädchen allein in dieser Dunkelheit... Dann fiel
ihr schlagartig ein, dass doch noch jemand davon wusste, nämlich der Entführer.
Sie fing an zu zittern.
„Aber ich habe keine Papiere...“,
sagte sie hilflos.
„Das ist kein Problem. Wir
brauchen nur deine Geburtsurkunde. Es muss aber schnell gehen.“
„Die habe ich zu Hause“, murmelte Rebekka.
Tatsächlich hatte sie bei ihrem Auszug aus dem Elternhaus alle wichtigen
Urkunden und Unterlagen mitgenommen.
„Wir brauchen jemanden, der die
Urkunde hierhin faxen könnte. Und er sollte sie auch mit der Post schicken. Per
Einschreiben mit Rückschein natürlich. Ich habe schon mit Archie gesprochen, er
wird den Bürgermeister überreden, die Kopie anzuerkennen. Das Original werden
wir dann später nachreichen.“
„Meinst du, das geht?“ Rebekka
schaute ihn zweifelnd an.
„Ich hoffe es!“
„Dann rufe ich Sabine an, die hat
einen Schlüssel.“
„Sehr gut, also morgen dann?“
Daniel lächelte sie an, aber es sah aus, als wäre er mit seinen Gedanken ganz
woanders.
„Wo sind die Blumen, und solltest
du nicht vor mir niederknien?“ sagte Rebekka in einem Anfall von Sarkasmus.“
„Es ist ja nur pro Forma.“
„Du bist echt lustig! Meine
Hochzeit hab’ ich mir etwas anders vorgestellt, vor allem nicht so überstürzt.“
Rebekka schüttelte den Kopf. Dann aber dachte sie an ihre Tochter, sie konnte
es immer noch nicht fassen, dass Morgaine wieder da war. Sie musste geschützt
werden. Und auf keinen Fall sollte sie in die schmierigen Hände ihrer so
genannten Großeltern geraten.
„Du hast von meinen...“, sie
machte eine winzige Pause, bevor sie fortfuhr, „Eltern geträumt?“
„Ich denke schon. Morgaine war
etwas älter als jetzt und nannte den Mann Opa. Er war blond und sah
irgendwie...“ Daniel redete nicht weiter, denn gerade kam ihm zum Bewusstsein,
dass er wohl über seine zukünftigen Schwiegereltern sprach. Seltsamer Gedanke.
„Du wirst nichts mit ihnen zu tun
haben!“, sagte Rebekka wütend. „Ich war seit Jahren nicht mehr bei ihnen, und
sie wissen nichts von Morgaine.“
„Wieso Rebekka? Was haben sie dir
angetan?“
Rebekka sah aus, als würde sie
gleich wieder anfangen zu weinen, und er wechselte das Thema und meinte: „Ich
lass’ mir dann auch mal mein Stammbuch reinreichen.“
„Wie haben sie gewohnt?“, fragte
Rebekka.
„Was, wer?“
„Na, meine Eltern…“
„Es war alles ziemlich abgewetzt
und eng. Wie in einer sehr billigen Mietwohnung.“
„Dann haben sie das Haus verkauft
und das Geld meinem Bruder in den Hintern gesteckt.“ Rebekka lachte auf, aber
es war ein bitteres Lachen. „Oder sollte ich besser sagen, dass sie es in ein
paar Jahren tun werden?“
Sie schien ihre Eltern nicht
besonders zu mögen. Was hatten sie ihr angetan, und warum sprach sie nicht
darüber? Daniel war auf einmal selber voller Zweifel. Empfand sie überhaupt
etwas für ihn? Nichts deutete darauf hin. Und was trieb sie mit Archie? Die
Beiden schlossen manchmal die Tür der Bibliothek von innen ab, man hörte nur
gedämpfte Musik und ab und zu leises Lachen. Man konnte sich alles mögliche
darunter vorstellen, und Daniel hatte viel Phantasie... Aber trotz aller
Zweifel wollte er diese Heirat, erstens weil er Rebekka liebte – ja das tat er
– und zweitens, weil er diesen Traum mit dem Kamin und dem Klavier in die
Wirklichkeit bringen wollte. Es wäre gut für alle, besonders für Morgaine. Und
für ihn sowieso.
„Okay“,
sagte Rebekka so locker wie sie konnte. „Ich rufe Sabine gleich an.“ Sie erhob
sich vom Sofa, konnte ein leichtes Stöhnen nicht unterdrücken und griff sich an
die Schulter.
Daniel
schaute besorgt drein, und seltsamerweise freute sie das. „Bleibst du hier bei
Morgaine?“, fragte sie ihn.
„Sicher“,
Daniel nickte.
„Aber bevor
das alles über die Bühne geht, sollten wir sie fragen, ob sie es erlaubt.“ Das
war Rebekka gerade eingefallen. Wenn Morgaine es nicht wollte, dann würde sie
es auch nicht tun.
„Sie
weiß es schon, und sie ist begeistert.“
„Oh!“
Rebekka schaute ziemlich erstaunt drein.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Claudia,
die im Souterrain des Herrenhauses wohnte, dort wo es im heißen Sommer kühl und
im kalten Winter warm war, öffnete Rebekka die Tür.
Rebekka
trat ein und setzte sich sofort auf das große gemütliche Sofa, das über sich
ein Fenster hatte, durch das man auf den Hof des Herrenhauses gucken konnte.
Rebekka war oft Gast bei Claudia, sie fühlte sich hier wie zuhause, und sie
hatte Claudia Sachen anvertraut, die sie noch keinem anderen erzählt hatte.
„Ich
werde also heiraten“, sagte sie und nippte vorsichtig an dem heißen Kaffee, den
Claudia ihr gebracht hatte.
„Und wie
fühlst du dich dabei?“ Claudia hatte sich neben sie gesetzt und blickte sie
aufmerksam an.
„Ich
weiß nicht, es ist alles so plötzlich gekommen“, Rebekka schaute unsicher in
die Kaffeetasse, als ob sie in ihr lesen könnte.
„Und du
hattest wirklich keine Ahnung, dass er der Vater von Morgaine ist?“
„Nein!
Nicht im geringsten.“ Rebekka wirkte nachdenklich, bevor sie fortfuhr: „Kann es
sein, dass ich’s verdrängt habe? Aber so blöd kann man doch gar nicht sein...“
„Man
kann ziemlich blöd sein“, sagte Claudia. „Aber gerade du, du bist nicht blöd.“
„Danke
Claudia“, Rebekka musste lachen. „Aber in gewisser Hinsicht bin ich doch sehr
blöd. Warum habe ich den Typen, den ich für den Vater hielt, nicht als Vater
angegeben. Es ist doch viel besser, wenn das Kind weiß, wer sein Vater ist, als
wenn im Ausweis steht: Vater unbekannt...“
„Du
warst dir also sicher, dass er der Vater ist?“
„Na
klar, denn es war anscheinend die bequemste und die beste Lösung für mich. Und
leider auch die teuerste...“ Rebekka grübelte immer noch darüber nach, wie es
passieren konnte, dass sie Daniel nicht als Vater in Betracht gezogen hatte.
„Es war
bestimmt nicht leicht für dich“, sagte Claudia mitfühlend.
„Ich
wollte das Kind. Seltsam, ich wollte es. Vorher wollte ich nie eins haben. Ich
hatte immer Angst, dass ich...“ Rebekka brach ab und schüttelte den Kopf.
„Dass du
damit nicht fertig wirst?“
„Natürlich“,
sagte Rebekka. „Ich hatte Angst, wie meine Mutter zu sein. Jedenfalls habe ich
im ersten Moment sogar an Abtreibung gedacht.“ Sie schaute Claudia wie um
Verzeihung bittend an.
„Ich
kann dich verstehen. Aber du hast es dann doch nicht getan.“
„Ich
wollte es, seitdem ich es gespürt hatte.“ Rebekka lächelte. „Und außerdem hatte
ich die Nase voll davon, durch die Kneipen zu ziehen und jemanden aufzureißen.
Auf Dauer wäre ich dabei vor die Hunde gegangen. Ich wusste nur nicht, wie ich
es finanzieren sollte, ich hatte zwar einiges gespart, aber nicht genug. Und
dann rief mein Vater an und machte mir das Angebot, mir mein Erbe vorzeitig
auszuzahlen. Es war recht wenig, aber sechstausend Mark haben oder nicht
haben... Damit ging es dann so.“
„Er hat dich
bestimmt übers Ohr gehauen“, meinte Claudia.
„Das ist
normal bei ihm.“ Rebekkas Mund zitterte ein wenig.
„Ach
Gott!“ sagte Claudia mitleidig und schloss sie in ihre Arme. Rebekka lehnte
sich an sie und musste wieder weinen. Es war wie verhext, vorher hatte sie nie
richtig weinen können, aber seit sie hier in Kampodia war, hatte sie sich echt
zur Heulsuse entwickelt.
„Du
solltest ein wenig mehr Vertrauen in Daniel haben“, sagte Claudia schließlich.
„Ich glaube, er liebt dich.“
Rebekka
befreite sich aus Claudias Umarmung, nahm eine Serviette vom Tisch und wischte
sich damit die Tränen ab. „Aber er ist untreu und unzuverlässig, er hat mit mir
geschlafen, obwohl er noch mit einer anderen fest zusammen war.
„Ach
Kind, solche Dinge passieren. Aber jetzt ist er hier, er sorgt sich um dich und
um Morgaine, obwohl es ja wohl schon lange her ist, seitdem ihr...“
„Mehr
als fünf Jahre ist es her.“
„Er hat
dich also nicht vergessen. Und Morgaine hat eine Verbindung zu ihm.“ Claudia
fügte nachdenklich hinzu: „Bei uns in der Familie gibt es auch solche
unerklärlichen Dinge...“
„Ich
fühle mich nur so überwältigt, und ich habe Angst davor.“
„Manchmal
ist Nachgeben das Vernünftigste. Und wenn man kein Risiko eingeht, dann ist das
ganze Leben sinnlos.“
Dieser
Satz setzte sich in Rebekkas Hirn fest. Allerdings auf englisch, nämlich: No risk, no sense,
no fun…
„Und die
Hauptsache ist doch wohl, was du für ihn fühlst.”
„Das
weiß ich nicht“, gab Rebekka zu. „Er ist fantastisch im...“ Sie verstummte, weil
sie sich verlegen fühlte, doch dann fuhr sie schnell fort: „Er ist Morgaines
Vater. Er ist in meinen Gedanken, ich weiß nicht, ob ich ihm trauen kann, er
verunsichert mich. Und er will noch nicht mal einen Vaterschaftstest machen
lassen...“
„Das
sollte wohl reichen!“, sagte Claudia und fing an zu lachen.