Kapitel VII – Teil 1
MAX und die WAHRHEIT
Zirza fühlte eine ohnmächtige Wut
in sich.
Sie hatte Daniel und Rebekka gesehen
– die Überwachungskamera funktionierte ausgezeichnet – und die beiden glühten
geradezu vor Liebe. Das war echt zum Kotzen! Sie würde die beiden zerstö...
„Du hast es getan, nicht wahr“,
eine dunkle männliche Stimme unterbrach ihre Rachegedanken.
Sie wandte sich langsam um und sah
doch tatsächlich ihren Cousin Max an der Tür stehen.
Ach, du?“ Ihre Stimme klang
verächtlich. „Hallo Farmerboy, was führt dich zu mir? Sind dir vielleicht deine
geliebten Misthaufen ausgegangen?“
„Ich will eigentlich nur, dass du
dir diese Unterlagen anschaust.“ Mit diesen Worten warf Max ihr einen großen
Briefumschlag zu, er wollte es nämlich vermeiden, näher an sie heranzugehen
Zirza fing den Umschlag geschickt
auf und schaute Max fragend an.
„Na los, mach’ ihn schon auf. Es
ist eine Überraschung.“
„Ich liebe Überraschungen nicht
besonders“, sagte Zirza unwillig. Sie nestelte aber trotzdem an dem Umschlag
herum, legte den Inhalt auf das Tischchen neben ihr, griff sich das erste Stück
Papier, entfaltete es und überflog es flüchtig.
„Was zum Teufel...“
„Lies es durch. Lies am besten
alles durch“, sagte Max und lächelte sarkastisch. Allerdings fühlte er sich bei
weitem nicht so sicher, wie er vorgab zu sein.
„Du glaubst doch wohl nicht, dass
die alte Schachtel Mansell mir irgendwas in die Schuhe schieben kann. Dafür ist
sie doch viel zu beknackt!“ Zirzas Stimme war etwas lauter geworden.
„Die alte Schachtel Mansell, wie
du sie nennst, vielleicht nicht, aber vielleicht dein Exverlobter, den ich in
Berlin besucht habe. Er hat mir ziemlich interessante Sachen über dich
erzählt...“
„So ein Blödsinn!“ Sie fügte
giftig hinzu: „Der Mann ist doch nur eifersüchtig auf Archie!“
„Wie auch immer. Tatsache ist, du
hast Mansell ein gewisses Mittel gegeben. Sie hatte damals furchtbare Alpträume
– sie träumte, dass ihre Schwägerin bei der Geburt ihres Kindes sterben würde.
Und das Mittel sollte die Geburt erleichtern.“
„Das war doch vollkommen harmlos!“
Zirzas Stimme hörte sich nach gespielter Empörung an. „Die geistesgestörte Nuss
hat mich eben falsch verstanden und ihrer geliebten Kassiopeia zuviel davon
gegeben. Was kann ICH dafür?“
„Es war mit Sicherheit kein
Mittelchen, und es war mit Sicherheit auch nicht harmlos.“ Max schaute sie
eisig an. „Es war ein Stoff, der die Blutgerinnung stark herabsetzt. Und bei
einer Geburt können dann Mutter und auch das Kind an der kleinsten Wunde
sterben.“
„Das ist doch absoluter
Schwachsinn!“ In Zirzas Stimme schien ein wenig Angst aufzuglühen, aber dennoch
hatte sie sich immer noch meisterhaft unter Kontrolle.
„Das zweite Dokument. Lies es!“
Zirza lachte grell auf und griff
nach dem zweiten Dokument, aber im Gegensatz zum ersten las sie dieses peinlich
genau durch.
„Du hast eine blühende Fantasie“,
sagte sie unruhig, nachdem sie sich auch dieses Schriftstück zu Gemüte geführt
hatte. „Keiner würde so etwas glauben!“
„Wer weiß.... Das Unfassbare an
der ganzen Sache ist, dass Tante Bernadette lange gedacht hat, sie selber wäre
schuld am Tode ihrer Tochter und ihres Enkelkindes.“
„Es gibt keinerlei Beweise!“
Max lachte. „Du hast deinem
Exverlobten erzählt, nichts würde so gut wirken wie Pilzgift. Er fühlte sich in
seiner Ehre gekitzelt und hat tatsächlich noch etwas ‚Besseres’ hergestellt.
Ein Gift, das sogar die Muttermilch vergiftet. Er wusste nicht, dass du
versuchen würdest, Andromeda damit zu töten. Bei ihr hast du es nicht
geschafft, bei dem anderen Kind schon...“ Max musste tief Luft holen, bevor er
weitersprach „Bernadette brachte das Pilzgericht selber zu ihrer Tochter, das
war der Gipfel deiner Infamie! Aber sie hatte dich kurz vorher in der Küche
gesehen...“
Zirza schaute ihn mit ihren
schwarzen Alienaugen ausdruckslos an. „Also was willst du von mir?“, sagte sie
schließlich.
„Ich will, dass du weggehst von
hier und niemals wiederkommst! Ich will, dass du die Scheidung von Archie
einreichst! Und lass’ am besten auch Morgaine in Ruhe!“ Das war zwar ein Schuss
ins Blaue, aber es konnte nicht schaden, falls sie damit zu tun hatte.
„Ach ja?“ Zirza ging auf seine
letzten Worte nicht ein. „Und wieso sollte ich mich darauf einlassen?“
„Lies das nächste Dokument. Es ist
eine Erklärung an Eides statt, unterschrieben von Claudia, Bernadette und
deinem Exverlobten. Der Junge hat bestimmt ein schlechtes Gewissen, weil du mit
seinen Sachen so böse Dinge angestellt hast... Ach ja, diese Erklärung an Eides
statt liegt bei mehreren Anwälten in Brunswick und in Berlin.“
Zirza blickte ihn hasserfüllt an.
Max machte eine kleine Pause,
bevor er fortfuhr: „Falls du auf die Idee kommen solltest, diese Anwälte zu
eliminieren, gib es auf, es sind zu viele, also gib es auf und verschwinde
endlich!“
„WARUM
HAST DU MEINE MUTTER GETÖTET?“
Beide drehten sich um, und Max stöhnte auf, als er sie sah.
Zirza starrte eine Weile mit ihren schwarzen Augen in Andromedas Gesicht, bevor sie schließlich sagte: „Warum wohl? Kassiopeia hat die Götter beleidigt...“
„WARUM?“, fragte Andromedas
unerbittlich. „Werde ein bisschen deutlicher!“
„Deine Mutter hat mir Archibald
weggenommen. Er war fast schon dabei, mir einen Antrag zu machen. Aber nein, er
musste sich ja in diese...“, Zirza spuckte die Worte förmlich aus, „ach so gute
Frau verlieben. Und das habe ich ihr nicht verziehen.“
„Das ist krank“, Andromedas Stimme
zitterte.
„Nein, mein Kind, krank ist das,
was dein Perseus dir angetan hat!“ Zirzas Augen funkelten triumphierend. Sie
hatte zwar verloren, aber die Rache war ihr sicher.
„Wieso Perseus? Was meinst du?“
„Nun, er war es doch, der dich
entführt hat. Er war der Jäger, der Schneewittchen töten sollte. Und er war
auch das Ungeheuer, das auf Andromeda angesetzt war...“
„Nein“, sagte Andromeda leise.
„Oh doch. Frag’ ihn!“
„Nein“, sagte Andromeda angstvoll
– und schien nicht fähig zu sein, dorthin zu blicken, wo Max stand.
„Warum, glaubst du wohl, hat er
dich gefunden? Warum wohl? Natürlich nur, weil er wusste, wo du warst. Ist doch
sonnenklar! Aber ist es nicht herrlich, dass Max, dein Farmerboy und Geliebter
gleichzeitig Perseus und das Ungeheuer ist? Ich muss zugeben, dass ich das
seinem eher schlichten und stereotypen Charakter gar nicht zugetraut hätte...“
„Das ist nicht wahr“, sagte Andy
mit tonloser Stimme. Sie wandte sich langsam Max zu und sah ihm in die Augen.
In diese grauen Augen, die sie so liebte.
„Sag’ mir, dass es nicht wahr
ist!“
Max’ Gesicht war bleich geworden,
er bekam kein Wort heraus, schüttelte hilflos den Kopf – und taumelte aus dem
Zimmer.
Andromeda schaute ihm fassungslos
hinterher. Ihr ganzes Leben wurde in diesem kurzen Augenblick in Stücke
zertrümmert. Und sie krümmte sie sich wie unter einem heftigen Schlag zusammen.
Nichts von dem war wahr, was sie
jemals für wahr gehalten hatte.
Max, ihr Beschützer, ihr Held, ihr
Retter und ihr über alles Geliebter... Was war er in Wirklichkeit? Max hatte ein
hilfloses Kind im Wald ausgesetzt und es fast sterben lassen. Und sie war das
Kind gewesen.
Aber das konnte doch nicht sein.
Der Max, den sie kannte, hätte das niemals getan.
Und dennoch... Warum war er aus
dem Zimmer geflohen? Warum hatte er es nicht abgestritten? Warum, warum,
warum...
Was hatte er mit Zirza zu tun.
Warum wusste Zirza es?
Sie wollte nicht daran denken,
weil sie es nicht glauben wollte. Sie wollte nicht daran denken, weil es so
wehtat.
Sie sank in sich zusammen, und ihr
Körper schaltete sich wie von alleine aus, er schaltete für fast zwei Tage ihr
Denken aus, um sie vor der brutalen Wahrheit zu schützen, und während dieser
Zeit lag sie von Fieberkrämpfen geschüttelt in ihrem Bett.
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Sein Körper fühlte sich vollkommen empfindungslos an, so musste es sein, wenn man tot war.
Und er war tot.
Er hatte diesen Tag erwartet seit
langer Zeit, ihn immer wieder aufgeschoben, verdrängt, gefürchtet. Denn bis vor
ein paar Tagen hatte er zwar geahnt, aber nicht richtig gewusst, was damals mit
ihm passiert war.
Der Besuch bei Zirzas Exverlobten
brachte etwas Licht in die Sache. Er suchte dort keine Entschuldigung für sich,
er wollte es nur verstehen. Jetzt verstand er es zwar ein bisschen, aber
dadurch änderte sich nichts. Normalerweise wäre Andromeda durch ihn gestorben,
nur ihre unglaubliche Zähigkeit ließ sie die Entführung überleben.
Er hatte Glück gehabt, und sie
hatte auch Glück gehabt. Es war nicht sein Verdienst, dass sie am Leben blieb,
sondern es war purer Zufall.
Warum hatte er keinem etwas gesagt und sie alleine gesucht? Die Frage quälte ihn immer noch. Aus Angst vielleicht, oder aus Scham? Er wusste es nicht. Es schien eine große geistige Entfernung zwischen dem Jungen Max und dem Mann Max zu liegen. Dem Mann Max war alles unverständlich, was der Junge Max damals gedacht und getan hatte. Hatte der Junge überhaupt gedacht? Wohl kaum.
Allmählich ließ seine Empfindungslosigkeit nach. Sie machte einem dumpf pochenden Schmerz Platz. Es war Schmerz gepaart mit einer tiefen Traurigkeit. Aber trotz seiner Traurigkeit war Max froh, dass er die Medusa am Ende doch besiegt und vertrieben hatte. Sie würde Kampodia verlassen und sich nie wieder dort blicken lassen.
Alles war vorbei. Nein, nicht
alles. Der Schmerz würde Max von nun an treu begleiten und ihn nie mehr
verlassen.
Doch vorher musste er noch etwas
erledigen...
Max suchte Archie und fand ihn
schließlich in den Ställen.
Er überreichte seinem Arbeitgeber
und Gönner den Brief, das letzte Dokument, das noch übrig war und wartete –
nach außen hin ruhig, im Innersten aber aufgewühlt – bis Archie es gelesen
hatte.
„Du kannst mich und sie auch anzeigen, wenn du möchtest“, sagte er zu dem fassungslosen Archie. „Es ist mir egal. Die Tanten möchten aber nicht, dass etwas von dieser widerlichen Sache nach außen dringt. Bei Zirza bin ich mir nicht sicher, ob die Beweislage ausreicht, um sie zu verurteilen. Aber Kassiopeia war deine Frau, Andromeda ist deine Tochter, und du musst wissen, was du tust...“
„Verdammt noch mal, Max, du musst
nicht von hier fort“, erwiderte Archie nach einer Weile, in der er schwer
nachgegrübelt hatte. Der Junge tat ihm leid. Und alles war doch gut
ausgegangen.
„Ich muss gehen“, Max senkte den
Kopf. „Du hast ihren Blick nicht gesehen. Sie wird es mir nie verzeihen.“
„Ach was! Meine Tochter wird sich
schon wieder einkriegen“, sagte Archie aufmunternd und hoffnungsvoll, denn er
verlor gerade einen Freund, seinen Wunschschwiegersohn und den besten
Verwalter, den er je gehabt hatte.
„Nein, das kann sie nicht. Sie ist
so gut, und ich bin so...“ Max’ Augen wurden feucht, und er drehte Archie den
Rücken zu.
„Was sind das für Namen auf dieser
Liste?“ Archie wechselte das Thema, um Max die Möglichkeit zu geben, sich
wieder zu fangen.
„Es ist eine Liste von Kandidaten,
die vielleicht in Frage kommen, das Gut weiterzuführen. Sie sind im Augenblick
alle frei.“ Max sagte nicht, dass auf der Liste auch eine ehemalige Freundin
von ihm stand, mit der er immerhin drei Monate zusammen gewesen war. Er wusste,
dass Andy sich dadurch gedemütigt fühlen würde, aber dann konnte sie ihn
vielleicht hassen. Und Hass war bestimmt leichter zu ertragen als die
fehlgeleitete Liebe zu einem Unwürdigen...
„Du hast alles schon lange
geplant“, sagte Archie endlich zu ihm.
„Es hing wie dieses Schwert des
Damokles über mir. All die Jahre. Ich hoffe, du verzeihst mir irgendwann.“
„Ich habe dir eigentlich schon
verziehen. Das warst nicht du, Max“, Archie wollte versuchen, Max zu halten.
Aber er fühlte, dass es zwecklos war. Und sein Gefühl täuschte ihn nicht, Max
war gerade dabei, alle Brücken in Kampodia abzubrechen.
>>> Max,
fünfzehn Jahre alt und schwer mit den Hormonen der Pubertät vollgepumpt. Seine
erste sexuelle Erfahrung macht er auf dem Heuboden über den Ställen, bevor ein
Reiterstübchen daraus wird...
Max, der diesen Akt
so enttäuschend findet, als ob er sein Ding in ein Waschbecken mit lauwarmem
Wasser gehalten hat...
Max, der anfängt,
nach etwas zu suchen, das besser ist als der lauwarme Akt auf dem Heuboden über
den Stallungen...
Max’ ältere Cousine
Zirza – frisch mit dem Witwer Archibald von Kampe verheiratet – wird auf das
Hormonbündel aufmerksam, sie beschließt, es für ihre eigenen bösartigen Zwecke
zu benutzen. Die Mittel dazu hat sie: Gewisse Chemikalien, die ihr Exverlobter
ihr verschafft, obwohl sie ihn wegen Archie fallen ließ. Und dass sie das Leben
des Jungen zerstört, ist ihr sowieso egal.
Denn sie muss das
Kind der Kassiopeia loswerden! Es wird Archies Vermögen erben, und ihr eigenes
Kind wird mit ihm teilen müssen. Zirza kommt auf eine geniale Idee.
Warum soll sie nicht
ihren beknackten halbwüchsigen Cousin durch Pheromone bezirzen, ihn sich
gefügig zu machen, ihm dann ein paar Mittelchen einflößen – natürlich in
Kombination mit einer kleinen Gehirnwäsche – und ihm schließlich den Rest geben
mit der Substanz ‚Lysergsäuredimethylamid’. Im Volksmund wird es als LSD
bezeichnet, ist ein bisschen aus der Mode gekommen, verdrängt durch fesche
Designerdrogen, aber es wirkt immer noch sehr gut und effektiv, vor allem in
bestimmten psychischen Bereichen...
Zirza tut es. Zirza
hat keine Skrupel. Erst ein paar Pheromone, die sie unwiderstehlich
begehrenswert machen, ein paar Halluzigene aus dem Privatlabor ihres
Exverlobten, ein paar suggestive Gehirnwäschen mit massiven Andeutungen über
den Feind, der die Menschheit vernichten wird... Über das absolut böse Wesen,
das unerkannt im Herrenhaus lebt und das unbedingt getötet werden muss.
Laute Musik ertönt
von unten aus dem Park. Zirza gibt an diesem Abend ein rauschendes Fest, sie
liebt Feste, sie liebt es, die Hausherrin zu sein, und es ist außerdem ein
gutes Alibi, falls jemand auf die Idee kommen sollte, sie mit der Entführung
ihrer Stieftochter in Verbindung zu bringen...
Max steht im Schutze
der Dunkelheit auf der Galerie. Er muss nach unten auf die Backsteinmauer, er
hat keine Angst abzustürzen, so vollgepumpt ist er mit Drogen, Giften und
Halluzigenen.
Er ist davon
besessen, dieses Wesen zu töten. Um die Menschheit zu retten. Und um sich
selber zu retten, wie es ihm eine innere Stimme befiehlt.
Mit einem Arm hält er das widerliche Ding weit weg von
sich, mit dem anderen Arm hält er sich am Regenrohr fest und rutscht an ihm
hinab. Mühelos gelangt er auf die Mauer, die den Park des Herrenhauses
umschließt, er springt auf der anderen Seite hinunter, läuft von keinem gesehen
an der Kirche vorbei und verschwindet schließlich in Richtung Wald.
Das Ding ist
entsetzlich, es verbreitet einen bestialischen Gestank, seine schleimigen mit
Widerhaken bestückten Tentakel versuchen Max zu umfangen und zu ersticken. Es
hat keinen Mund, nur eine grässliche rote Öffnung, aus der giftiger Schleim
tropft. Es ist hässlich, es ist monströs! Er muss es töten. Die Stimme in
seinem Kopf sagt: TÖTE ES!
Er rennt ziellos
durch den Wald, bis er schließlich eine geeignete Stelle findet, um es
hinzurichten. Er legt das Ekel einflößende, widerwärtige Bündel Unrat auf den
Waldboden und holt das Messer aus seinem Gürtel.
Die Schneide des
Messers leuchtet im Mondlicht auf. Er will schon zustechen, aber in diesem
Moment gibt das Ding ein Geräusch von sich. Es klingt irgendwie hilfeheischend.
Max ist mit einem
Mal verunsichert. Eigentlich hat das Ding ihm nichts getan. Und bei näherer
Betrachtung sieht es gar nicht mehr so schreckeinflößend aus.
Max hält inne. Das
Ding hat grüne Augen, schleimige Augen, die böse funkeln, aber Max kann es
nicht tun. Er kann es nicht töten. Stattdessen schleudert er es weg von sich
und stolpert davon. Sollen die wilden Tiere es doch töten!
Er findet
schließlich den Weg nach Hause, wo er achtzehn Stunden lang wie bewusstlos im
Bett liegt. Als würde er einen gewaltigen Rausch ausschlafen, und etwas
Ähnliches ist es ja auch.
Als er erwacht, ist
sein erster Gedanke: Grüne Augen... Durch Max’ kräftige Konstitution sind die
Gifte und Rauschmittel, die Zirza ihm verpasst hat, schon zum größten Teil
wirkungslos geworden. Max glaubt, einen richtig schlimmen Alptraum gehabt zu
haben. Aber die Erinnerung daran hat einem seltsam beängstigenden Beigeschmack.
Grüne Augen...
Verdammt! Da stimmt
doch was nicht. Aber was? Er hat nicht den blassesten Schimmer.
Im Laufe des späten
Nachmittags, während Max sich wie meistens in den Ställen des Gutshofes
herumtreibt, erfährt er, dass die kleine Andromeda verschwunden ist. Aber das
geht ihn nichts an. Davon weiß er nichts.
Sein Gehirn arbeitet
immer noch nicht richtig, und er sieht alles wie durch eine dünne Nebelschicht
hindurch.
In der Nacht wacht
er schweißgebadet auf, und es trifft es ihn wie ein Dolchstoß. Grüne Augen! Hat
das Baby Andromeda nicht grüne Augen gehabt? Kann da ein Zusammenhang sein?
Nein, nein... Um Himmels Willen nein!
Nach einer
entsetzlichen durchwachten Nacht, kommt Max zu der Erkenntnis: Das
Ding, das er fast getötet und im Wald ausgesetzt hat, dieses Ding kann vielleicht
die kleine Andy gewesen sein. Dann war dieser schlimme Alptraum vielleicht gar
kein Traum, sondern Wirklichkeit? Nein, ganz bestimmt nicht, denn das wäre ja…
Aber diese grünen
Augen!
Als es hell wird,
macht Max sich auf die Suche nach dem Ding. das vielleicht die kleine Andy war.
Er tut es, obwohl er sich nicht sicher ist. Blöderweise hat er nicht die
geringste Ahnung, wo er mit dem Ding gewesen ist. Es gibt so viele Plätze, und
er muss jeden einzeln absuchen. Der Wald ist riesengroß...
Max, mittlerweile von
Panik befallen, gönnt sich kaum eine Minute Ruhe bei seiner Suche, die er
teilweise systematisch, teilweise chaotisch betreibt. Die Zeit rennt ihm davon,
es ist Ende September, also Tag- und Nachtgleiche, er hat immer nur zwölf
Stunden, um nach Andromeda zu suchen.
Am Ende des dritten
Tages, als die Abenddämmerung schon anbricht und er immer noch verzweifelt
durch den Wald irrt, hört er auf einmal ein leises Wimmern.
Er
entdeckt sie im Unterholz, wohin sie sich verkrochen hat. Wie gut, dass sie gewimmert
hat, sonst hätte er sie niemals gefunden.
Sie lebt noch! Dem
Himmel sei Dank!
In diesem Augenblick
beschließt der Junge Max, sein Leben in den Griff zu kriegen. <<<
Ab hier ist die Geschichte
bekannt. Fast jeder weiß etwas darüber zu berichten, nur der ‚Retter’ wollte
nie darüber reden. Er fühlte eine tiefe Scham: Er hatte ein Kind erst fast
umgebracht und dann durch seine Blödheit und Angst die Rettung dieses Kindes
verzögert.
Seit diesem Zeitpunkt hielt Max
sich fern von seiner Cousine Zirza. Er fürchtete und verabscheute sie, obwohl
er nicht genau wusste, was sie mit ihm angestellt hatte.
Seit diesem Zeitpunkt fühlte er
sich für Andromeda verantwortlich, sie wurde das Wichtigste in seinem Leben.
Und so war es auch kein Wunder,
dass er anfing, sie zu lieben, zuerst wie ein Kind und später dann wie eine
Frau. Denn all seine Gedanken hatten sich seit Jahren nur mit ihr beschäftigt.
Sie war seine Seele, sein Grund
zum Weiterleben. Aber es war besser für sie, wenn er nicht mehr da war.
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Kapitel VII – Teil 2 HOLIDAY IN CAMBODIA...
Daniel saß am Steuer, denn Rebekka
wollte lieber träumen und schlafen, das hatte sie ihm gesagt. Er warf ihr einen
zärtlichen Blick zu, sie sah zwar erschöpft aus, aber auch sehr schön - und er
nahm kurz ihre Hand, um einen Kuss darauf zu drücken.
Während der Fahrt grübelte er vor
sich hin und versuchte, das Muster seines Lebens zu ergründen. Warum hatte er
immer wieder die falschen Dinge getan, vor allem mit den falschen Frauen? Seine
Mutter kam ihm in den Sinn. Eine zierliche Person, sehr schwach und sehr
unselbstständig. Sie litt an einer heimtückischen Krankheit, an der sie
letztendlich starb. Trotz ihrer Hilflosigkeit hatte sie alle fest im Griff, den
Vater und natürlich auch den kleinen Daniel. Sie trichterte ihm sinngemäß ein:
‚Nur sexuell unaktive Frauen sind gute und treue Frauen. Und gute und treue
Frauen wollen vor allem verwöhnt und verhätschelt werden.’
Er hatte seiner Mutter wohl
geglaubt und seine Frauen nach ihren Vorstellungen ausgesucht. Es war wie ein
Ritual, er musste um sie werben, sehr lange werben, und zuerst warb er um
Susanne, die kindliche Unberührte. Es endete nicht gut.
Und dann war da Marissa, die
schöne verlassene Marissa, die den Ritter auf dem weißen Pferd zwar dauernd
besang, aber nicht mehr an ihn glaubte. Wenn er mit ihr schlafen wollte,
bremste sie ihn aus mit dem Argument: Ich kann jetzt nicht, weil ich die Pille
nicht nehme. Daniel wollte sich damals nicht sterilisieren lassen, aber ein
Kind mit ihr zu haben, das konnte er sich auch nicht vorstellen. Also kein Sex!
Und irgendwann, als Marissa mal wieder abgezogen war in kostenlose
Urlaubsgefilde, ließ er sich von anderen Frauen anmachen, er spürte dabei nicht
den Hauch eines schlechten Gewissens, es war ihm mittlerweile scheißegal. Alles
stagnierte, nichts änderte sich, und er hatte akzeptiert, dass er mit seiner
Liebe immer scheiterte.
Aber dann auf einmal tauchte
Rebekka auf, und irgendetwas in ihm hatte auf sie gewartet. Er kannte sie ja,
hatte schon Bücher mit ihr getauscht, aber sie war so unerreichbar, so
abweisend, dass er nicht einmal davon geträumt hatte, irgendwann mit ihr... Im
nachhinein musste Daniel lächeln – da hatte er sich wohl getäuscht, so
abweisend war sie gar nicht.
Ganz im Gegenteil, sie war so geil, so köstlich, so anschmiegsam wie eine rollige Katze. Sie verkörperte absolut nicht das anspruchsvolle unschuldige Weibchen, das seine Mutter für den Idealfall hielt, doch es kümmerte ihn nicht mehr, seine Mutter war tot, er war eben anders, als sie es sich vorgestellt hatte, und zum erstenmal in seinem Leben erkannte er seine wahren Wünsche. Er wollte Rebekka, er wollte, dass sie sich an ihn klammerte, während er in ihr war, bis sie dann stöhnend abdriftete und er ihr nachfolgte. Er wollte SIE, nichts anderes als SIE!
Aber Rebekka machte ihm klar, dass
er ein untreues Schwein war, sie ließ kein Wiedersehen zu. Er versuchte, sie
anzurufen, aber jedes Mal ging ein Kerl ans Telefon, und Daniel legte dann auf.
Sie hatte sich schnell getröstet. Quatsch, sie brauchte keinen Trost, er war
nur ein One-Night-Stand für sie gewesen.
Als Marissa aus dem Urlaub
zurückkam, merkte sie schnell, dass etwas mit ihm passiert war, und ihr Verhältnis
verkehrte sich ins Gegenteil. SIE wollte nun mit ihm schlafen, aber ER wollte
es nicht mehr. Er hatte die Nase voll von den lauwarmen Berührungen, von den
gespielten Orgasmen, von dem falschen Gestöhne. Er hatte alles satt! Diese
Beziehung war gar keine. Marissa hatte ihn nur genommen, weil ihr Leben durch
ihn bequemer und billiger wurde. Sie liebte ihn nicht und er sie auch nicht.
Er wusste nur eines, er hatte sein
Paradies in Rebekka gefunden, aber er hatte es auch sofort wieder verloren.
Er trennte sich von Marissa und
ging nach Brasilien, wo sein Onkel ihm einen Job angeboten hatte. Marissa tat
sich in der Zwischenzeit mit seinem Freund Lukas zusammen, und später dann
heirateten die beiden. Lukas war natürlich in finanzieller Hinsicht sehr viel
ergiebiger als Daniel, der damalige Kneipenwirt. Daniel musste fast lachen:
Wenn Marissa gewusst hätte, dass der arme dumme Daniel einmal Erbe seines
Onkels sein würde, dann hätte sie sich bestimmt mehr Mühe um ihn gegeben...
Dem Himmel sei Dank war das nicht
passiert, denn es hätte diesen unsagbaren Mist nur unerträglich verlängert!
Wie auch immer, Rebekka war für
ihn verloren, sie wollte ihn nicht, und er fühlte sich einsam und verlassen. Er
hatte hier und dort zwar alles versucht, um die Nacht mit Rebekka zu vergessen,
aber die sexuellen Ausschweifungen, in denen er Ablenkung und Vergessen suchte,
waren schal und unbefriedigend gewesen.
Sie fehlte ihm so. Er dachte jeden
Tag und jede Nacht an sie, er sah sie vor sich, wenn er mit anderen Frauen
schlief, und manchmal träumte er so real von ihr, als würde er einen Film
sehen. Mittlerweile wusste er auch, wie das geschehen konnte. Morgaine...
Gab es eine Art Wechselwirkung?
Dachte Rebekka an ihn? Konnte Morgaine deswegen eine Verbindung zu ihm
aufbauen? Oder war es, weil er soviel an Rebekka dachte? Wie auch immer, in
Kampodia, wohin ihn wohl auch Morgaine geführt hatte, erlebte er Rebekka neu.
Aber sie hatte immer noch die gleiche Wirkung auf ihn wie in seinen Träumen,
und sie hatte ein Kind. Sein Kind!
Gut, alles war jetzt legal,
Morgaine war etwas abgesicherter als vorher, aber was war mit Rebekka? Ihre
Reaktion auf ihre Eltern war beängstigend. Wenn es das war, was er dachte, dann
würde er ihrem Vater aufs Maul hauen. Wenn es das war...
Aber was konnte es sonst sein, das ihr dermaßen zu schaffen machte? Er dachte an Claudia, sie hatte zu ihm gesagt: ‚Sei lieb zu ihr, aber nicht zu lieb, sie hat nicht viel Selbstbewusstsein, sie krankt immer noch an etwas aus ihrer Kindheit. Und sie braucht jemanden, der sie ab und zu zurechtstaucht. Dadurch wird sie ihren wirklichen Wert erkennen.’ Kurios das! Daniel hatte vor, seinen eigenen Weg zu gehen, und er wusste, dass er sehr hartnäckig sein konnte. Und diesmal würde er durchhalten, es war die Mühe wert.
Auch Rebekka dachte nach, während
sie mit geschlossenen Augen vor sich hin döste. Ihr Körper glühte noch von
Daniels Liebkosungen, es kam ihr vor wie ein leichtes Fieber, aber ein
heilsames Fieber – und es fühlte sich verdammt gut an.
Sie fand es kalt im Auto und
schmiegte sich in ihre Jacke. In der Jackentasche fand sie ein paar zerknüllte
Fetzen Papier. Sie holte sie heraus, glättete sie und schaute zerstreut darauf.
Ihr Kopf war voll von diffusen
Gedanken, die sie schon öfter gedacht hatte. Sie ließen sie immer verwirrt
zurück, und nie kam sie zu einem echten Ergebnis. Sie konnte nicht zur Wahrheit
vordringen, denn alles lag hinter einem dichten Schleier verborgen. Wieso
wusste man so wenig von sich selber?
Sie starrte immer noch auf die Papierfetzen,
bis sie erkannte, dass es sich um die Zettel vom Erbsenpflücken handelte. Sie
hatte sie nicht eingelöst. War das symptomatisch für ihr Leben? Hatte sie etwas
gegeben, es aber nicht eingelöst bekommen? Nein, das Gegenteil war der Fall.
Ihren Liebhabern hatte sie nie viel Liebe geben können, sie hatte sich ihnen
entzogen, körperlich und auch vom Gefühl her. Was stimmte nicht mit ihr? Warum
scheiterten ihre Beziehungen immer? Im Fall Michael wusste sie, dass sie ihre
nicht vorhandene Liebe durch übersteigerte hausfrauliche Fürsorglichkeit
kompensiert hatte. Das ging natürlich in die Hose. Männer wollten
möglicherweise eine saubere Wohnung, klar doch. Aber guten Sex wollten sie noch
mehr, und vor allem wollten sie geliebt werden. Doch sie war anscheinend
unfähig zur Liebe gewesen.
Lag es an ihrem Vater? Ihr Vater
war geil und untreu. Hielt sie alle Männer deswegen für geil und untreu? Oder
war es wegen der anderen Sache?
Was hast du mir angetan! Du hast
dich an deinem eigenen Kind vergangen! Hast du überhaupt eine Ahnung, was das
bedeutet? Nein, das hast du nicht, du perverses Schwein! Und du Mutter, du hast
deine Augen verschlossen, du blödes Weibchen! Hattest wohl Angst, dein
grandioser Ehemann würde dich verlassen. Untreu und schlecht war er, er hat
sich an deinem eigenen Kind vergangen, und du schließt die Augen? Warum hast du
mich nicht beschützt? Du bist feige, du hast mich nie geliebt! Wenn jemand das
Morgaine antun würde, ich würde ihn umbringen. Scheiß auf die Liebe! So ein
Kerl hat keine Liebe verdient!
Sie fasste endlich den Entschluss,
ihre Eltern zur Rede zu stellen, statt dauernd vor ihnen davonzulaufen. Sie
wollte wissen, warum und weshalb, wollte wissen, warum sie ihr das angetan
hatten, wollte wissen, ob sie selber Schuld daran trug, wollte erfahren, warum
sie von ihnen nicht geliebt wurde. Denn sie hatte die Nase voll! Rebekka
schüttelte unmerklich den Kopf. Sie hatte die Nase voll von den Zweifeln an
sich selber, sie wollte endlich in Frieden leben. Und warum nicht mit Daniel?
Sie musste sich nur trauen. Und Daniel würde Morgaine nie das antun, was ihr
Vater ihr, Rebekka, angetan hatte. Das wusste sie einfach.
Daniel, war er es? Ja, er war es.
Sie hatte es wieder gespürt, das Gefühl, das er in ihr weckte. Das Begehren und
die Erfüllung, die Auflösung ihres Ichs, wenn er in ihr war, die dunkle samtige
Woge voller Süße und Ekstase, die ihren Körper bis in die tiefsten Fasern
ausfüllte und alles andere auslöschte. Das Glück... Diesmal würde sie es
schaffen, sie wollte ihn glücklich machen. Und sich selber dadurch auch.
Er spürte, dass sie wach war, sie
starrte auf irgendwelche Zettel, grübelte vor sich hin, dann merkte sie, wie er
sie anschaute und lächelte ihn an.
„Legst du bitte mal die CD ein?“
Sie nickte und sah sich das Cover
an. Es war eine CD von den Dead Kennedys, sie stammte aus den 80er Jahren. Und
durch Zufall kam ausgerechnet dieses Stück als erstes:
It's tough kid, but
it's life
It's a holiday in
Cambodia
Don't forget to pack
a wife
Rebekka kannte das Stück,
eigentlich hielt sie ‚Holiday in Cambodia’ für einen grässlichen Punksong, der
Typ war sowieso irre, dieser Jello Biafra, aber die Stelle mit dem ‚Don't
forget to pack a wife’ fand sie lustig. Sie fing an zu kichern und berührte
dabei kurz Daniels Hand, die das Steuer hielt.
Dann kam ihr plötzlich ein
Gedanke, den sie auch sofort aussprach: „Wo sollen wir eigentlich wohnen?“ In
ihrer eigenen kleinen Wohnung war nicht viel Platz, es reichte gerade für Morgy
und sie. Und jetzt würde sich bestimmt einiges ändern. Sie seufzte leise auf,
alles kam ihr so fremd und ungewohnt vor, und mit ihrer Unabhängigkeit war es
wohl vorbei. Zudem fiel ihr gerade ein, wie sie den Leuten im Büro beibringen
konnte, dass sie jetzt verheiratet war. Einige würden sich drüber kaputtlachen.
Die scheinbar so unnahbare Rebekka hatte sich innerhalb kürzester Zeit
vermählt... Und wenn schon, andere Leute sollten sie nicht jucken.
Daniel konnte nicht anders, als
wieder ihre Hand zu ergreifen und sie zu küssen. „Mein Onkel hat mir ein Haus
vererbt, es ist nicht besonders schön, hat aber eine gute Lage am See.“
„Oh, ein Haus!“ Rebekka fühlte
sich unsicher. Das war ja ein Ding, es machte die Sache nicht leichter, bei den
Häusern am See handelte es sich um puren Luxus, jeder wollte dort wohnen, aber
kaum einer konnte es sich leisten. Er war nicht so arm wie sie, also war er im
Vorteil. Himmel, warum hatte sie nur solche Komplexe?
„Es ist nichts Besonderes, ich nenne es den Bunker, es ist einfach nur ein hässlicher Klotz, aber der Garten wird Morgaine gefallen. Und wir könnten uns ein Kätzchen anschaffen.“ Daniel hatte bemerkt, dass sie sich zurückzog, und plötzlich fiel ihm ein, dass er sie für käuflich gehalten hatte. Es musste Zirza gewesen sein, die ihm diesen Mist eingetrichtert hatte, denn Rebekka und käuflich? Das war so was von absurd! Ganz im Gegenteil, sie war so total selbstständig, so stolz darauf, dass sie es ohne Hilfe geschafft hatte. Er würde sie ganz behutsam daran gewöhnen, dass sie sich keine Sorgen mehr machen musste. Und vielleicht konnten sie wirklich irgendwann nach Kampodia ziehen, wenn sie es wollte...
„Ein Kätzchen?“ Rebekka lächelte
ihn zärtlich an. „Ich glaube, an den Gedanken könnte ich mich gewöhnen...“
Okay, sie musste es halt akzeptieren, dass er ein Haus besaß. Sie würde
trotzdem weiter arbeiten gehen, auch wenn sie ein Kind kriegen würde, sie
brauchte eine gewisse Unabhängigkeit, und in diesen Zeiten war es sowieso
besser, auf mehreren Füßen zu stehen. Und vielleicht konnte sie Daniel eines
Tages unterstützen...
Ich auch, ich auch! Morgaine in ihrem Kindersitz hatte die Worte aufgeschnappt. Ein Kätzchen? Das wäre so toll! Vielleicht würden daraus ja zwei Kätzchen werden oder noch mehr, es gab ja so viele verlassene kleine und große Kätzchen.
Morgaine war ziemlich glücklich, mit Betonung auf ziemlich, alles hatte geklappt, der grüne Stein war kaputt, und alles würde gut ausgehen. Mammi musste nicht auf das Eis, und Fonso lebte, er war frech und hübsch wie immer, und alle würden sich um ihn kümmern in Kampodia, vor allem ihre Oma, ja wirklich, Tante Claudia war ihre Oma, aber das wusste sonst noch keiner.
Aber Andy war furchtbar unglücklich. Arme Andy! Morgaine fühlte sich deswegen sehr traurig, doch es ging nicht anders, es gab keinen anderen Weg, Andy musste da durch, sie musste selber erkennen, wie lieb sie Max hatte und wie lieb Max war. Es würde aber nicht sofort passieren. Es würde kalt sein, wenn sie alles verstand. Morgaine schüttelte leicht den Kopf, alles hätte auch anders kommen können, ihre Mutter auf dem See, hilflos steif, zitternd und frierend. Und David wäre ja auch dabei gewesen, sie liebte ihn jetzt schon sehr, er war ganz was Besonderes, und sie würde ihm immer nahe sein. Morgan, fragte sie, spürst du ihn auch?
Mit einer leichten Verzögerung sprach die alte Morgan: Ich spüre ihn, und es wird alles gut gehen. Natürlich musst du auf ihn aufpassen, du musst auf alle aufpassen.
Klar doch, wer sonst?
Andromeda saß auf dem Rücksitz neben Morgaine und
starrte wie blind vor sich hin.
Kampodia war leer und seelenlos ohne ihn. Niemand
wusste, wo er war. Die Garage, in der er sonst immer an seinem Lister-Jaguar
herumschraubt hatte, stand leer. Sie hatte daraufhin seine Mutter besucht, mit
der sie sich immer gut verstanden hatte. Aber seine Mutter konnte oder wollte
ihr nichts über seinen Aufenthalt sagen.
Er war weg! Er war einfach gegangen. Er hatte ihr
nichts erklärt, sie hatte ihn nichts fragen können. Wie konnte er nur einfach
abhauen, der Feigling!
Und die Frau, die ihr Vater als vorläufige
Verwalterin eingestellt hatte, war anscheinend eine Exfreundin von ihm. Das
erschien Andy als der größte Hohn, den er ihr antun konnte. Wollte er, dass sie
ihn hasste? Wenn ja, dann war er auf einem guten Weg dahin... Aber richtig
hassen konnte sie ihn eigentlich nicht. Die Wunde war noch zu frisch, der
Schmerz noch zu quälend, und ihr Leben erschien ihr im Augenblick zu leer und
sinnlos, um überhaupt hassen zu können.
Aber trotzdem wollte sie ihn sehen, sie wollte mit
ihm sprechen, sie wollte ihn ausfragen. Wollte ihn fragen, warum er das getan
hatte. Wollte ihn fragen, ob er sie liebte. Oder ob er nur Mitleid mit ihr
empfand, mit ihr, seinem Opfer? Hatte er sich nur mit ihr abgegeben, um sein
schlechtes Gewissen zu beruhigen? Hatte er überhaupt ein schlechtes Gewissen?
Aber Max war doch nicht schlecht, er hatte nie ein Tier getötet, außer es war
wirklich nötig, er hatte Schlachtfeste gehasst, er hatte sich auf den
Pflanzenanbau konzentriert...
Warum, warum? Warum hatte er das getan?
Sie wollte ihm ins Gesicht schlagen, ihm in die
Eier treten, wollte sich an seiner Brust ausweinen. Wollte ihn lieben, nein,
nein, nein, sie war ja total pervers, sich an seiner Brust ausweinen, ihn
lieben...
Aber sie konnte nicht anders, sie kriegte diese
Liebe nicht aus ihrem Kopf heraus. Sie hielt sich die Hände vor die Augen, und
andere Sachen fielen ihr ein, unangenehme Sachen, Was war mit Zirza und ihm?
Sie stöhnte auf, und ihr Körper verkrampfte sich. Nicht das! Alles andere, aber
nicht das! Nein, nein, das wollte sie sich nicht vorstellen, sie verabscheute
ihn, wie konnte er ihr das antun, nie hätte sie gedacht, dass er zu so etwas
fähig war. Oder war er nicht? Oh Gott! Sie wusste es nicht. War er dazu fähig,
konnte er…
Pol
Pot , Pol Pot , Pol Pot , Pol Pot , Pol Pot , Pol Pot…
Was für eine furchtbare Stimme, sie bohrte sich in
ihr Gehirn. Was für eine furchtbare Musik, Pol Pot, was für ein furchtbarer
Name, was für ein furchtbarer Volksdiktator, hatte irgendwas mit Asien zu tun,
Vietnam, Kambodscha oder so was.
Scheiß drauf! Warum war er nicht mehr da? Warum?
Sie konnte mit niemanden über ihren Kummer und ihre Verzweiflung sprechen, sie
konnte es nicht, sie ertrug es nicht, seinen Namen ausgesprochen zu hören.
Niemand sollte etwas über ihn sagen. Diese Sache ging nur sie und Max an, aber
der war weg. Einfach weg!
Als sie es endlich kapiert hatte, dass er weg war,
bestürmte sie ihren Vater. Sie wollte auch weg von hier sein, sie wollte mit
Daniel und Rebekka fahren. Sie würde bei denen im Ruhrgebiet zur Schule gehen
und sie würde ‚brav’ sein.
Die beiden waren zuerst ziemlich bestürzt gewesen,
aber sie hatte ihnen die Sache schmackhaft gemacht durch das Versprechen, auf
Morgaine aufzupassen. Dad hatte schließlich widerwillig zugestimmt und alles
von Kampodia aus in die Wege geleitet, Daniel und Rebekka sollten keine
Umstände wegen ihr haben.
Sie hatte ihr Ziel erreicht, sie musste nicht mehr
in Kampodia sein. Er hatte sie verlassen, und alles andere war ihr egal.
back home back home
back home back home
back home back home
back home back home
back home back home
back home back home
back home back home
back home back home
Back home? Der Typ hatte so eine
widerwärtige Stimme, der Song war total mies, und sie hatte kein zuhause mehr, ohne
Max war sie nirgendwo zuhause.
Kampodia war für sie nur noch ein Ort und ein Wort ohne
jede Bedeutung.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
KAPITEL
VII Teil 3 MYSTERIUM
Die grimmige Kälte hielt immer
noch an.
Als das Verkehrschaos nach den ersten
heftigen Schneefällen überwunden war, begann die Bevölkerung die Kälte zu
lieben.
Sowohl frisch verliebte als auch
lang verheiratete Pärchen machten spätabends romantische Wanderungen durch den
knirschenden weißen Schnee. Der zugefrorene See zog massenhaft Spaziergänger
an. Mehrere Buden tauchten auf, in denen Glühwein verkaufte wurde. Die Leute
fingen an, auf dem See Schlittschuh zu laufen. Und nachdem die Behörden den See
zum Wintersport freigegeben hatten, stürzte sich fast die ganze Bevölkerung der
Stadt und auch die der umliegenden Orte in das winterliche Vergnügen.
Mittlerweile gab es am See sogar Scheinwerfer, damit der zugefrorene See auch
gut beleuchtet war. Und man konnte tatsächlich Schlittschuhe ausleihen, in fast
jeder Größe und Ausführung.
Andromeda leiht sich
Eishockey-Schlittschuhe aus.
Morgaine darf noch nicht
Schlittschuhfahren, Daniel hat Angst, dass sie sich weh tun könnte. Stattdessen
hat er einen Schlitten gekauft und zieht ihn hinter sich her. Morgaine liegt
mit dem Bauch auf dem Schlitten und treibt Daniel an wie einen Schlittenhund.
Rebekka geht neben ihnen. Auch sie darf nicht Schlittschuhfahren, Daniel hat es
verboten, und sie muss drüber lachen. Sie ist doch nicht aus Zucker, und eine
Schwangerschaft ist die normalste Sache der Welt, sie lässt sich von ihm doch
nicht in Watte packen!
Doch als sie an sich
herunterblickt, muss sie erkennen: Ich BIN in Watte gepackt und sehe aus wie
ein Michelinmännchen! Wie konnte das passieren? Hmm, sie ist doch selbstständig
und kann alleine für sich sorgen, genau! Im Gegensatz zu seinen blöden
Exfreundinnen! Aber anbeten tut sie ihn trotzdem, und deswegen hat sie sich
auch keine Schlittschuhe ausgeliehen...
Jede Menge Eishockeyspieler toben
auf dem Eis herum. Es handelt sich um die B-Mannschaft der Stadt, die hier auf
dem harten und rubbeligen Natureis trainiert, weil ihr Couch das so will. Denn
auf Kunsteis in der Halle kann jeder trainieren, aber hier auf dem See kommt es
wirklich nur aufs fahrerische Können an.
Andy fischt den Puck auf, den ein
Eishockeyspieler aus Versehen in ihre Richtung gespielt hat, und sie schiebt
den Puck so spielerisch leicht und elegant mit dem Schlittschuh zurück, dass
die Cracks auf sie aufmerksam werden. Man gibt ihr einen Schläger und lädt sie
ein mitzuspielen. Natürlich hoffen alle, dass sich das Mädel blamiert, denn
Eishockey ist nun mal ein Männersport.
Doch nicht in diesem Fall, Andy fährt mit den Jungs im wahrsten Sinne des Wortes Schlittschuh. Sie beherrscht das Rückwärtsfahren genauso wie das schnelle Vorwärtsstürmen. Sie beherrscht das Stoppen aus vollem Lauf ebenso, und sie führt den Puck so sicher, dass die Jungs mit offenem Mund dastehen und sie anglotzen. So ein hübsches Ding! Und kann so fantastisch gut laufen!
Sie beherrscht auch sämtliche
Tricks: Das Hakeln und das unauffällige Weghauen feindlicher Beine. Leider gibt
es hier keine Bande, sonst würde sie ihre Gegner dort festnageln.
Sie könne jederzeit bei ihnen mitspielen, falls es mit dem Reglement vereinbar wäre, sagt der Trainer. Aber Andromeda geht nicht näher darauf ein. Sie wirkt geistesabwesend.
Nachdem sie sich bei den Cracks ausgetobt hat, legt sie sich mitten aufs Eis und betrachtet erschöpft den Sternenhimmel.
Es ist mittlerweile vollkommen dunkel. Der Mond am sternenklaren Himmel zeigt sich als breite zunehmende Sichel – er wird erst in ein paar Tagen zum Vollmond werden. Das Licht der Scheinwerfer ist zwar ein wenig lästig, aber es kann nicht verhindern, dass man an diesem wolkenlosen Abend alles am Firmament erkennen kann.
Weit über ihr glitzern die
Sternbilder des späten Herbstes. Und dabei handelt es sich hauptsächlich um die
Kassiopeia, die Andromeda mit dem geflügelten Pferd Pegasus – und natürlich um
den Perseus.
Andromedas Blick saugt sich an einem bestimmten Sternbild fest, und natürlich ist es der Perseus. Ein Sternbild, das große Ähnlichkeit mit einer Giraffe hat.
Bei genauerer Betrachtung ahnt man, dass die Giraffe etwas in der Hand hält, es soll das abgeschlagene Haupt der Medusa darstellen, und man erkennt sogar ihr gefährlich blinkendes Auge. In Wirklichkeit ist das bedrohlich blinkende Auge nur der Stern Algol, ein sogenannter Bedeckungsveränderlicher. Aber wer weiß schon, was und wie die Wirklichkeit wirklich ist...
Andromedas Blick ist jedoch vom Sternbild Perseus gefesselt, leise flüstert sie vor sich hin: Die Haare der Medusa sind lebende Schlangen, und ihr Blick kann jeden zu Stein verwandeln. Doch Perseus hat sie schließlich bezwungen...
Er hat sie schließlich doch
bezwungen. Das wird Andromeda in diesem Augenblick zum ersten Mal klar. Er hat
sie bezwungen, die Medusa! Für sie bezwungen. Oh mein Gott! Max hat das getan.
Er hat es für sie getan!
Die letzten Monate voller Verzweiflung, voller Isolation, ausgefüllt mit furchtbarer Einsamkeit, sie waren vollkommen unnötig, sinnlos, überflüssig, aber sie hatten ein Gutes, sie weiß nun die Wahrheit.
Und Andromeda kann endlich weinen. Sie liegt mit dem Rücken auf dem Eis, Arme und Beine weit ausgestreckt, und sie weint. Sie weint aus Freude, weil sie es endlich verstanden hat. Oder aus Trauer, weil sie es solange nicht verstanden hat. Jedenfalls weint sie, und das Weinen nimmt die Last von ihrer Seele, alles fügt sich zum Rechten, die Wahrheit ist in Wirklichkeit erleichternd und wundervoll. Und sie weiß nun, was sie tun wird.
„Wo zum Geier hast du so gut Schlittschuhlaufen gelernt?“, Daniel ist nähergekommen und schaut sie neugierig an.
„Ich hatte den besten Lehrmeister
der Welt.“ Andromeda lächelt und richtet sich langsam auf. Im Licht des halben
Mondes kann Daniel deutlich die Tränen auf ihren Wangen sehen.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Daniel tappte im Dunkeln, er kriegte einfach nicht heraus, was für eine Rolle Zirza in diesem miesen Spiel verkörperte. Falls Zirza mit einer Organisation zu tun hatte, die seltene Geistesphänomene untersuchte, dann geschah das inoffiziell. Auch Archie wusste nichts darüber. Manchmal fühlte sich Daniel, als würde er über dünnes Eis wandeln, immer in dem Bewusstsein, dass es brechen und ihn und seine Familie verschlingen könnte.
Doch das war nur tagsüber, nachts steigerte sich Daniels Angst und Verzweiflung manchmal zu einem ohnmächtigen Crescendo, er lag dann da wie erstarrt, in seinem Kopf hörte er schreckliche Vögel kreischen, die neues Unheil ankündigten.
Bis irgendwann Morgaine eingriff. „Papa, du musst dir keine Sorgen machen, ich kann das schon.“
„Aber du bist doch noch so klein“, sagte Daniel hilflos.
„Nöö, so klein bin ich nicht mehr.“ Morgy kicherte. „Und die alte Morgan hilft mir doch, und David ist auch bald da.“
„David?“
„Na, mein kleiner Bruder, der ist gut, er macht, dass alle gute Gedanken haben.“
Daraufhin machte sich Daniel auch Gedanken, allerdings mehr zwiespältige Gedanken. Er bekam wohl einen Sohn, und dieser Sohn war etwas Besonderes, natürlich war er das, als Kind von ihm und Rebekka, aber dieses Besonderssein konnte eine neue Bedrohung darstellen. Warum zum Geier konnte er keine normalen Kinder haben, solche, die nicht irgendwelchen Angriffen ausgesetzt waren?
Nach langem Hin- und Hergrübeln sagte sich Daniel schließlich, dass er Morgaine vertrauen sollte, halbherzig sagte er sich das. Aber er hatte keine andere Wahl, wenn er nicht vollkommen durchdrehen wollte. Denn auch Max wusste nichts genaues. Daniel stand in regelmäßigem Kontakt mit ihm. Max fragte ihn manchmal wie es Andromeda ginge, und Daniel sagte ihm, dass sie zum Beispiel abgelehnt hatte, ihren Geburtstag zu feiern.
„Oh Gott!“ Max’ Stimme hatte total verzweifelt geklungen, und Daniel erkannte, wie hoffnungslos der Freund in seiner Situation war und wie die Scham sein Leben bestimmte. Max hatte Angst davor, Andromeda jemals wieder zu sehen.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Nachdem Andromeda eine halbe Stunde genervt, getobt, geweint und gebettelt hatte, war Daniel so zermürbt, dass er ihr sagte, wo Max sich aufhielt. Nämlich in einem kleinen Kaff, gar nicht weit weg von hier.
Und genau dort stöberte sie ihn auf, doch leider war er im Moment nicht da. Sie nahm sich ein Zimmer im selben kleinen Hotel und wartete auf ihn. Die Zeit nutzte sie, um noch einmal über Max und sie nachzudenken.
Die Quintessenz war: Sie kannte
Max fast so lange sie lebte, und sie wusste, wozu er fähig war oder besser
gesagt, nicht fähig war. Der Max, den sie kannte, hatte ganz selten getötet.
Nur wenn es nicht anders ging, um ein Tier von seinen Leiden zu befreien. Der
Max, den sie kannte, hatte Schlachtfeste gehasst, er wollte sich immer davor
drücken. Max war zwar Landwirt, aber er wollte nie Tiere züchten, es hätte ihm
das Herz gebrochen, sie schlachten zu lassen. Deshalb hatte er sich auf den
Pflanzenanbau verlegt. Ach Max... Er hatte sich immer um sie gekümmert, am
Anfang vielleicht, weil er ein schlechtes Gewissen hatte, aber dann...
Andromeda
schwelgte in ihren Erinnerungen, und sie harrte fast zwei Tage lang geduldig in
ihrem Hotelzimmer aus, bis der Portier sie über Max’ Rückkehr informierte.
Seine Tür war nicht von innen abgeschlossen, und es befand sich niemand im Zimmer, aber Andromeda hörte eine Dusche rauschen.
Sie setzte sich auf das Bett und
wartete.
Als er schließlich aus dem
Badezimmer kam, musste sie lächeln, denn er hatte nichts an außer einem
Handtuch um seine schlanken Hüften, und er blieb wie erstarrt stehen, als er
sie auf seinem Bett sitzen sah.
„Komm’ her, Max und setz’ dich
neben mich“, sagte sie freundlich. Er stand wie gelähmt da und schaute sie nur
an. „Na komm’ schon“, sie klopfte auffordernd auf das Bett.
Er setzte sich vorsichtig einen
Meter von ihr entfernt auf die Kante des Bettes, und er sah aus, als wolle er
sich am liebsten unter der Bettdecke verkriechen.
„Du bist so ein Kindskopf,
Lakosta“, Andromeda sah ihn voll an, während er ihrem Blick auswich. „Einfach
so wegzulaufen... Wer ist denn nun der Vernünftigere von uns beiden? ICH
vermutlich, auch wenn DU älter bist.“
Regungslos starrte Max vor sich hin, und Andromeda
konnte aus seinem verständnislosen Gesichtsausdruck erkennen, dass er nicht
kapierte, was sie ihm sagen wollte. Sie lächelte vor sich hin.
„Übrigens bin ich nicht gekommen,
um dir zu verzeihen“, sagte sie nach einer kleinen Weile.
„Wie könntest du auch...“,
murmelte Max.
Andromeda lächelte wieder. „Ich bin gekommen, damit du MIR verzeihst...“
„Was?“ Unglaube spiegelte sich in
Max’ Augen.
„Ach bitte Max! Ich kenne dich nun schon mein ganzes Leben lang. Na gut, fast mein ganzes Leben lang. Ich weiß, wozu du fähig bist, und ich weiß, wozu du nicht fähig bist. Der Max, den ich kenne, der liebt mich und wäre nicht fähig, mir irgend etwas anzutun.“
Bei diesen Worten erhob sich
Andromeda vom Bett, trat langsam an Max heran, beugte sich über ihn und fing
an, zärtlich seine Brust zu streicheln, was ihn ganz schön durcheinander
brachte.
„Hör’ auf, Andy“, sagte er
schließlich stockend und versuchte, ihre Hände wegzuschieben.
„Ich habe folgende Bedingung“, sie ließ sich nicht durch seine Abwehr beirren. Weiterhin streichelte sie mit einer Hand seine Brust, und ihre andere wanderte hinunter zu dem Handtuch, das seine Männlichkeit mehr oder weniger verbarg. Er war nicht so beherrscht und kontrolliert, wie er sich normalerweise gab, das war gut so. Sie würde dafür sorgen, dass er in dieser Nacht jegliche Kontrolle und Beherrschung über sich aufgab und nur ihr gehorchen würde. Ihr, der Liebe und der Lust.
„Aber was ist...“, stammelte er.
„Pssst... Leg’ dich einfach hin
und entspann’ dich. Das ist nämlich die Bedingung. Ich weiß ja schließlich, wie
du aussiehst.“ Wieder musste Andy lächeln, denn sie erinnerte sich noch gut an
den Abend, als sie ihn beim Sex mit dieser Frau beobachtet hatte. Schon damals
hatte sie seltsame Gefühle verspürt, aber wer hätte ahnen können, dass sie Max
eines Tages so wahnsinnig begehren würde...
Max ließ sich vorsichtig nach hinten auf das Bett sinken, er schaute sie dabei hilflos an.
Und sie erkannte, dass er Angst hatte. Er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen, die er wahrhaftig liebte. Max, oh Max, sie würde in dieser Nacht alle Erinnerungen an alle anderen Frauen auslöschen. Halleluja und Amen. So würde es sein.
„Ich konnte es dir nie sagen, weil
ich solche Angst hatte... Aber ich habe dich immer geliebt.“ Max wollte sich
wieder aufrichten
„Das sagt man doch nicht, Max.“
Andromeda zwang ihn mit sanfter Hand zurück.
„Warum nicht, Andy?“ Max’ Stimme
war so leise, dass sie ihn kaum hören konnte.
„Man soll das nicht sagen, sondern
tun.“
Andromeda beugte sich über ihren Geliebten, küsste ihn auf seine Lippen, küsste dann seine Brust – und löste langsam das Handtuch von seinen Hüften.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Auch Zirza befand sich zur
gleichen Zeit in einem billigen Hotelzimmer. Archie, dieser Drecksack hatte sie
gezwungen, auf ihren Vermögensanteil zu verzichten. Sie hasste ihn, genauso wie
sie Max, Andy und die Tanten hasste. Und wenn sie Morgaine jemals in die Finger
kriegen würde... Aber das Kind, verdammt noch mal, es würde all ihre Schritte
voraussehen.
Zirza grübelte düster vor sich
hin. Auch in der Firma behandelte man sie wie unerwünschten Dreck. Sie musste
der Firma beweisen, dass sie das Kind beschaffen konnte. Dass sie immer noch
die Königin der Furcht war, dass sie immer noch Unheil stiften konnte.
Dann auf einmal dämmerte ihr
etwas. Sie selber war das größte Hindernis für die Firma, jedenfalls solange
sie lebte. Sie wusste zuviel und war nicht mehr nützlich. Ein erschreckender
Gedanke. Sie sollte so schnell wie möglich untertauchen, aber irgendwann, wenn
Gras über die Sache gewachsen war, dann würde sie zurückkommen und sich an
Archie und seiner ganzen Brut rächen.
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
„Was tun die wohl gerade?“ Rebekka
lag in Daniels Armen und fühlte sich ausgesprochen wohl dort. Das künstliche
Bärenfell vor dem Kamin war Klasse, es schmeichelte der Haut und wärmte sie,
während das Feuer laut prasselte und sie alkoholfreien Sekt tranken. Wie schön,
dass Daniel noch Holz geholt hatte, und der Bunker, wie Daniel das Haus nannte,
war gar nicht hässlich, es war der schönste Ort der Welt. Musste an Daniel
liegen...
„Mach’ dir keine Sorgen, die kommen schon klar“, er lächelte sie an. „Genauso wie wir beide. Ich weiß das!“
„Tja, wer hätte das gedacht!“
Rebekka schob sich noch näher an ihn heran und küsste ihn auf den Hals. „Du
darfst mich nur nicht so verwöhnen, das mag ich nicht.“
„Meine Liebste, ich war damals
nicht dabei, als du mit Morgaine schwanger warst. Du hast es bestimmt verdammt
schwer gehabt, und ich hätte dir so gerne geholfen und es miterlebt...“
„Dass ich fett, hässlich und
absolut unausstehlich war? Das können wir demnächst ja nachholen.“ Sie
schmiegte sich noch enger an ihn, sie spürte seinen sehnigen Körper, der sich
so vertraut und so gut anfühlte.
„Du weißt doch, für mich wirst du
immer die Schönste sein, egal was passiert.“ Er schob sie ein wenig von sich,
um sie anzuschauen, denn er konnte einfach nicht genug von ihrem Anblick
bekommen.
„Was zu beweisen wäre...“ Rebekka
fing an zu lachen.
„Da ist aber noch etwas, das wir
unbedingt tun müssen...“
„Und was?“ Rebekka sah ihn
misstrauisch an.
„Wir werden unsere Hochzeit in
Kampodia nachfeiern, am besten zu Weihnachten. Du wirst ein weißes Kleid tragen
und weiße Blüten im Haar haben. Du wirst wunderschön aussehen... Und sag’ jetzt
nicht nein, vertrau’ mir einfach!“
„Muss das sein?“
„Ja, das muss sein! Wir werden in
der Kirche heiraten und danach in der Hochzeitssuite wohnen. Kampodia soll sehr
schön im Winter sein. Meterhoch Schnee, zugefrorene Teiche, Schlittenfahrten
mit Pferden und Glöckchen...“
„Hört sich nicht schlecht an!“
Rebekka hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Wange und tauchte dann einfach unter
die Decke ab.
„Suchst du was?“, grinste Daniel.
„Schon gefunden! Ich frag’ mich nur, was Archie so Dringendes mit mir zu besprechen hat“, tönte es gedämpft unter dem Bärenfell hervor.
„Wen juckt das? Wir werden es
schon erfahren“, Daniel stöhnte auf, weil Rebekka sich gerade an Teilen von ihm
zu schaffen machte.
„Mich juckt das!“
„Du weißt doch, immer wenn’s dich
juckt, kannst du zu mir kommen...“
„Blödmann!“ Rebekka war unter dem
Bärenfell hervorgetaucht, und sie sah etwas erhitzt aus. „Aber was soll’s...
Lass’ es nicht jucken Kumpel!“
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
Andromeda erwachte, und ihr Blick fiel automatisch auf die Wände des Hotelzimmers. Sie waren in einer grässlich hellgrünen Farbe gestrichen, so wie Krankenhauskorridore, und die wenigen Möbel sahen geschmacklos und zusammengewürfelt aus. Man hatte außerdem Puzzles auf Pappe geklebt und an die Wände gehängt, um den Raum zu verschönern, aber diese Bemühungen verstärkten den Eindruck der Hässlichkeit noch.
Aber sie fühlte sich trotzdem wunderbar. Dieses Hotelzimmer hatte etwas Kostbares an sich.
Home
is where my heart is... Dieser
Spruch kam ihr in den Sinn, und sie änderte ihn automatisch um in: Home is
where Max is.
Sie
spürte Max’ Körper hinter sich. Max schlief fest und hatte sie auch im Schlaf
noch umarmt. Andromeda lächelte. Endlich hatte er seine Zurückhaltung
aufgegeben. Endlich hatte er die Kontrolle über sich verloren. Und das sogar
mehrere Male.
Sie nahm seine Hand und küsste sie
zärtlich. Er murmelte ihren Namen im Schlaf, wachte aber nicht auf. Er war in
Wirklichkeit so verletzlich, der starke coole Max, aber sie würde dafür sorgen,
dass er nie mehr verletzt werden würde, denn sie war die einzige, die ihn
verletzen konnte.
Wie würde ihre Zukunft aussehen?
Am liebsten hätte sie Max ja in Kampodia, aber sie wusste nicht, ob er dorthin
zurück wollte.
Es war egal. Er sollte selber
entscheiden. Sie waren so eng miteinander verbunden, vielleicht würde sie ihr
Abitur machen, und wenn er etwas Eigenes kaufen wollte, dann sollte er das tun.
Sie würde mit ihm gehen, wohin er auch wollte. Sie war nämlich jetzt nicht mehr
sein Mädchen, sondern seine Frau. Und das war doch bedeutend besser!
Andromeda lächelte wieder. Sie
küsste noch einmal die Innenfläche seiner Hand und legte sie dann zwischen ihre
Brüste.
Nur wo Max war, da war auch
Kampodia. Und es war doch ein Mysterium, das mit der Liebe!
~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~
~*~*~*~ Er träumt von einem blendend weißen Strand, er geht mit Rebekka
dort entlang, und sie küssen sich...
Er träumt von der
Geburt eines Kindes. Rebekka ist die Mutter, und sie sieht erschöpft aber
glücklich aus. Er sitzt vollkommen aufgelöst an ihrem Bett und küsst ihre
Hand...
Er träumt von dem
kleinen Büro in seiner Firma. Rebekka besucht ihn dort, und sie treiben es auf
seinem Schreibtisch...
Er träumt von einem
Streit. Sie stehen sich erbittert gegenüber und schreien sich an. Danach
versöhnen sie sich grandios. Im Bett...
Er träumt von
Kampodia und von Max und Andromeda. Ihre Kinder spielen mit seinen Kindern...
Er träumt von einem
Brand. Die Stallungen des Gutshofs sind es, die Flammen greifen auf das
Herrenhaus über.
Er träumt von einem
Krankenbett. Er selber liegt darin, und Rebekka beugt sich über ihn und
flüstert: Du wirst nicht gehen! Ich lasse dich nicht gehen!
Er träumt von seinem
Büro. Rebekka sitzt an seinem Schreibtisch und gibt Anweisungen. Wo ist er zu
dieser Zeit?
Er träumt von
Rebekka, wie sie von einem anderen Mann umarmt wird. Sie weint.
Er träumt von einem
Haus. Es ist ein recht großes Haus, es zeugt von Wohlstand. Er sieht sich
selber auf einem Sofa mehr liegen als sitzen. Er scheint älter zu sein, wie
alt, kann er nicht einschätzen, aber er hat schon silbernes Haar. Sein rechtes
Bein liegt wie ein Fremdkörper auf dem Sofa, auf dem Fußboden sieht er eine
Krücke.
Jetzt dreht sich der
Blickwinkel, ein aus Marmorsteinen gemauerter Kamin kommt ins Bild. Über dem
Kamin hängt ein gerahmtes Foto, es stellt ein Hochzeitspaar dar. Der Mann ist
er selber, die Frau ist Rebekka, sie sieht wunderschön aus in ihrem weißen Kleid,
und in ihr Haar sind weiße Blüten eingeflochten...
Lässig angelehnt an
den Kamin steht ein großer junger Mann mit dunklem Haar und blauen Augen. Er
hat sehr viel Ähnlichkeit mit Daniel.
Sie wollen mich,
sagt er fröhlich, aber ich weiß nicht, ob ich es machen soll...
Eine andere, jedoch
helle Stimme sagt: Du bist der Richtige dafür, David. Jeder der nicht nach der
Macht strebt, ist der Richtige dafür. Die helle Stimme gehört einer jungen
Frau, die vor einem Klavier sitzt und jetzt einige Töne anspielt. Sie scheint
überaus begabt zu sein. Sie ist klein, zierlich, und lockiges helles Haar steht
um ihren Kopf wie ein Heiligenschein.
Morgaine, es muss
Morgaine sein. Und das hat sie nicht von Rebekka geerbt, das Klavierspielen.
Die Töne kommen ihm bekannt vor. Tatsächlich, Morgaine spielt Jimmy Somervilles
Stück, nämlich das Klaviersolo aus ‚Ain't necessarily so’. Und sie spielt es
unglaublich sensibel und gefühlvoll.
Er hört den älteren
Daniel sagen: Mein Sohn, möge die Macht dann mit dir sein.
Woraufhin alle in Gelächter
ausbrechen. ~*~*~*~
Ist das die Botschaft? Alles wird
gut werden? Der Traum ist wie ein alter Bekannter. Er träumt ihn nun schon seit
Jahren. Am Anfang unverständlich, vervollständigte er sich im Laufe der Zeit,
und das Ende ist wunderschön. Er erinnert sich an Andys Worte: Man muss
natürlich etwas dafür tun...
Er träumt, dass er Rebekka immer
noch in seinen Armen hält. Aber diesmal ist kein Traum, sondern Wirklichkeit.
Und er kann es immer noch nicht fassen. Sie sieht friedlich und schön aus, während
die Morgendämmerung sich langsam in das Zimmer schleicht.
„Es ist nicht so wie damals“, murmelt sie, während
ihre Körper eng aneinander liegen. Sie hat ein Bein leicht um ihn geschlungen,
ihr Kopf liegt an seiner Brust, ihre Arme umklammern sanft seine Taille. „Es
ist besser...“
„Und warum ist es jetzt besser?“
„Weil es jetzt richtig ist“,
flüstert sie. „Und damals war es falsch.“ Rebekka öffnet kurz die Augen, sie
leuchten kristallblau auf, angestrahlt von der aufgehenden Wintersonne.
Geblendet legt sie ihren Kopf an seine Schulter „Hab’ ich dir eigentlich schon
gesagt, dass ich dich liebe?“ Es fällt ihr überhaupt nicht schwer, diese Worte
auszusprechen, und seltsamerweise ertönt dazu leise Klaviermusik, es klingt wie
‚Ain't necessarily so’...
„Hast du das auch gehört?“ Sie
schaut Daniel fragend an.
„Was meinst du?“ Daniel fährt zart
mit dem Finger die Konturen ihrer Lippen nach.
„Da spielt doch jemand Klavier.
Und so gut!“
„Das wird Morgaine sein“, sagt er
vieldeutig, bevor er sich über sie beugt, um sie zu küssen.
Rebekka will noch etwas sagen,
doch sie vergisst es, bevor sie es aussprechen kann.