Der stumme SCHREI
Sie geht vor mir her, üppig, rothaarig, gekleidet in Minirock und Stiefel - und nicht mehr ganz jung.
Sie hält ein etwa achtjähriges Kind an der Hand. Das Kind läuft seltsam, es sieht aus, als versuche ein O-beiniges Strichmännchen zu gehen, ähnlich einem Skelett, denn die Beine sind zu weit außen an der Hüfte angebracht. Automatisch muss ich an tote Piraten und den Fluch der Karibik denken.
Natürlich macht mich das neugierig, und ich bin pervers genug, auf eine Gelegenheit zu lauern, um mir das Kind von vorne anzuschauen. Die Gelegenheit habe ich, doch ich bereue meine Neugier sofort.
Das Kind, ein Mädchen, ist anscheinend schwer körperlich behindert, es sieht nicht lieb aus wie ein Down-Syndrom-Kind, sondern hat ein Gesicht, das nur unvollkommen ausgebildet ist, es wirkt verzerrt wie in dem Bild "der Schrei". Und während das Kind auf seinen Strichbeinen an der Hand der Frau daherwankt, stößt es seltsame Laute aus, unartikulierte Laute.
Ich fühle mich unsicher, fühle mich befangen. Sowas gibt's doch gar nicht mehr. Oder doch? Was ist da passiert? Durchgefallen durch die Raster der Voruntersuchungen? Oder gar gewollt? Vielleicht durch einen Unfall bei der Geburt? Warum? Wieso? Es sieht so anders aus, so bizarr wie aus einer fremden Welt, so unverständlich... Doch auch in diesem schwer behinderten Kind steckt bestimmt ein Verlangen, stecken bestimmt Wünsche.
Vielleicht gebündelt zu einem Schrei, den niemand versteht.
© 2009/2011 by Ingrid
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