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 Im Spiegel  

EIN NEUES LEBEN...

Lilly schaute ihre ältere Schwester mitleidig an, sie zu umarmen wagte sie nicht, denn Anna war sehr geschwächt von der letzten Chemo. Jeder Krankheitskeim, jeder noch so läppische Virus konnte ihrem schwer geschädigten Immunsystem den Rest geben. Lilly hatte nie daran geglaubt, dass Anna irgendwann sterben könnte. Anna hing so fest am Leben, jede andere hätte schon aufgegeben, aber nicht sie. Und obwohl sie aufgedunsen und unförmig aussah, wirkte sie immer noch so total lebenslustig und unzerstörbar...

„Am schlimmsten ist es, dass ich Ilonka und Oliver dann nicht mehr sehen kann. Ich liebe sie doch so sehr...“ Anna standen Tränen in den Augen.

Lilly nickte wissend, sie konnte es sich gut vorstellen, wie ihre Schwester an ihren Enkeln hing, sie bedeuteten ein Leben über den Tod hinaus. Sie selber war kinderlos, hatte es nie gewagt, ein Kind zu haben. Bereute sie es? Möglich... Jedenfalls beneidete sie Anna. Ja tatsächlich, sie beneidete Anna, und sie würde zu gerne mit ihr tauschen.
„Weißt du, dass ich gerne mit dir tauschen würde?“ Sie blickte ihre Schwester verzweifelt an.

Mit einem Schmerzenslaut griff Anna sich an die Schulter, dort wo der Stunt saß – an dieser Stelle hatte sie vor drei Jahren zum erstenmal Schmerzen verspürt, doch jede Untersuchung verlief im Nichts, niemand hatte erkannt, woran sie litt. Man unterzog sie allen möglichen Behandlungen, aber keine davon zeigte irgend eine Wirkung.
Schließlich ging sie mitten im Urlaub zu einem Arzt, denn die Schmerzen waren kaum auszuhalten. Er riet ihr, ihre inneren Organe untersuchen zu lassen. „Sie leiden an dem Übel“, sagte er. Anna glaubte ihm seltsamerweise, der Arzt war indianischer Abstammung, und sie hatte die indianische Kultur immer sehr bewundert. Das behutsame Umgehen mit der Natur, gewisse Geisterbeschwörungen, bestimmte Rituale... Sie hatte also diesem Arzt vertraut und sich nach dem Urlaub einer spezifischen Untersuchung unterzogen. Heraus kam dabei: Sie litt wirklich an dem Übel. Es war Bronchialkrebs, der schon Metastasen gebildet hatte. Und obwohl die Ärzte allerlei von eventueller Heilung schwatzten, wusste Anna, dass es keine Hoffnung gab...
„Du willst mit mir tauschen?“ Fassungslos ruhte ihr Blick in dem ihrer Schwester.

„Ich bin nicht so lebenslustig wie du, das weißt du doch. Ich habe mein Leben versaut, ich habe keine Kinder, ich werde alt werden. Und ich habe Angst vor dem Alter.“ Lilly verstummte atemlos.

„Oh, das wusste ich nicht“, sagte Anna tröstend.

„Ich weiß, du kannst dir das nicht vorstellen“, Lilly lächelte bitter, „aber ich hänge nicht besonders am Leben, und ich glaube auch nicht an ein Leben nach dem Tode. Was sollte es mir auch bringen?“

Anna schaute sie bedauernd an. „Aber das Leben selber ist doch das Wichtigste, es gibt nichts Schöneres...“

„Für dich vielleicht, aber ich bin eben anders, ich habe die Nase voll!“ Lilly seufzte tief auf. „Und wenn ich könnte, würde ich gerne mit dir tauschen. Was bleibt mir denn noch? Ich bin allein, und ich werde irgendwann einsam sterben...“

„Du spinnst doch“, sagte Anna unsicher.

Zwei Tage später trafen sie sich wieder. Anna ging es ein wenig besser, die Bluttransfusion hatte Wunder vollbracht, das Nasenbluten war vorbei, und sie konnte tatsächlich wieder etwas essen und es auch bei sich behalten. Natürlich wusste sie, dass es nicht von Dauer sein würde. Der Tod hatte seine Finger nach ihr ausgestreckt, und es war nur noch eine Frage der Zeit...

„Du magst doch die indianische Kultur?“ Lilly schaute sie fragend an.

„Natürlich mag ich sie. Dieser Arzt, er hat als einziger erkannt, woran ich leide...“

„Es wäre eine Möglichkeit, der Sache zu entkommen. Ich habe Angst, Anna! Ich habe Angst vor dem Altwerden, ich habe Angst vor dem, was auf mich zukommt. Ich habe Angst vor dem Pflegeheim, Angst vor den Leuten, die mich dann umgeben, es gibt kein Entrinnen, sie werden immer da sein, immer um mich herum sein.“ Lilly verbarg ihr Gesicht in den Händen. „Und du weißt ja, wie sehr ich es hasse, abhängig zu sein!“

Anna sah sie verwirrt an und fragte dann schließlich: „Worauf willst du eigentlich hinaus?“

Lilly zögerte einen Augenblick, es sah aus, als würde sie sich gegen ihre Idee wehren. Doch schließlich sagte sie leise: „Ich glaube, es gibt da eine Möglichkeit. Ein indianisches Ritual...“

~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~*~

Nach der Beerdigung ihrer Schwester hatte Lilly es eilig, nach Hause zu kommen. Sie wollte sich jetzt unbedingt im Spiegel sehen. Sie war noch jung und schön, und sie war jetzt eine reiche Frau. Darauf lief doch alles hinaus. Was nützte ihrer Schwester das viele Geld, sie selber konnte es doch viel besser gebrauchen, zur Not würde sie den Enkeln der Toten ein bisschen was davon abgeben. Natürlich nur ein bisschen. Oder ein bisschen mehr, die Kinder waren nett, und sie waren jetzt ihre Familie... Lilly kicherte in sich hinein, während sie in den Spiegel starrte.
Sie hatte alles prächtig organisiert, hatte ihrer Schwester Anna das Geld abgeschwatzt. Denn Anna würde ja vielleicht in die Haut ihrer armen Schwester Lilly schlüpfen, und dann brauchte sie auch ihr eigenes Geld, denn Lilly besaß keins... Ein genialer Plan ohne Risiko, nun denn, ihre Schwester hatte nichts zu verlieren. Auch wenn diese absurde Sache schiefgelaufen wäre –  Lilly grinste hämisch vor sich hin – dann hätte die ach so nette Lilly das Geld eben wieder abgegeben. Klar doch!
Lilly lachte auf, sie sah gut aus im Spiegel, die Prozedur war ohne Schaden an ihr vorüber gegangen, nur ihre Augen wirkten leicht verschleiert, wahrscheinlich eine Nachwirkung der seltsamen Dämpfe.
Alles hatte wunderbar geklappt, die Verabreichung der Drogen, die Prozedur in der Schwitzhütte, die Trommeln, das Gemurmel des Schamanen, ein ungewisser Schmerz, dann die Übertragung von einem Geist zum anderen, sehr eindrucksvoll alles... Wieder musste sie grinsen.
Für Anna allerdings war die Prozedur tödlich gewesen, sie starb kurz darauf, aber in ihren letzten Augenblicken wirkte sie so glücklich, dass Lilly fast Neid auf sie empfand.
Wie lächerlich! Anna war jetzt tot, und sie, Lilly, hatte ihr Geld! Neid war vollkommen unangebracht. Sie starrte amüsiert in den Spiegel.

Doch irgend etwas stimmte mit ihren Augen nicht, sie sah sich nur verschwommen, und auf seltsame Art schien sich ihr Spiegelbild rasant von ihr zu entfernen. Fassungslos schaute sie zu, wie es allmählich immer kleiner wurde, bis es fast nicht mehr da war. Was passierte da?
Ihre Gedanken hatte sie aber noch, also lebte sie, war sie, und es musste aufhören! Aufhören! Bitte aufhören! Aber es hörte nicht auf, unaufhaltsam verschwand ihre normale Welt, bis sie schließlich mit toten Augen auf den Spiegel starrte und nicht mehr wusste, wo sie war, ob sie noch war, unaufhaltsam wurde sie verdrängt, immer mehr an den Rand geschoben, in eine tote Ecke verbannt. Ohne Gliedmaßen, ohne körperliches Empfinden, blind und taub und sprachlos, nur allein mit ihren Gedanken, eingekerkert in ihrem eigenen jämmerlichen Bewusstsein.
Aber noch war sie nicht ganz dort, unverständliche Klänge hallten in ihrem Kerker, und mit einem letzten Aufflackern ihres Körpers sah sie im Spiegel eine Frau, die den Mund bewegte und sagte: „Ich danke dir, meine geliebte Schwester.“

Dann verstummte alles, und sie war nur noch allein mit sich selbst.
 

 © Ingrid 2011
 

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