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THE VILLAGE, ein Dorf vor dem Wald druckfähige Version>>>
Der Geruch wehte mich urplötzlich an, als ich auf irgendeinem Parkplatz aus dem Auto stieg, und dieser Geruch ließ mich erzittern. Ich kannte ihn. Er war eine Mischung aus zerdrückten Himbeeren und aus Schweinebraten. Er war der Duft meiner Kindheit, und mir stiegen unwillkürlich Tränen in die Augen. Das war mein Dorf, meine Ferien, meine Kindheit. Ich schloss die Augen, um alle Moleküle dieses Geruchs in mir aufzunehmen, und etwas passierte in meinem Gehirn: Synapsen schlossen sich zusammen, stellten Verbindungen her zur Vergangenheit, schufen Stimmungen, stellten Szenen dar, und ich glaube, für Sekunden war ich so glücklich wie nie zuvor in meinem Leben. Und dann war es vorbei, kein Geruch mehr – und auch kein Glück. Wen wundert’s, mein Leben befindet sich im letzten Viertel, und meine Kindheit ist schon so lange vorbei, dass man sie gar nicht mehr als ‚real’ bezeichnen kann. Und gerade deswegen war ich besessen davon, sie wieder aufleben zu lassen, es scheiterte natürlich an meinen mangelnden Schreibkünsten, welche anfangs innere Blutungen bei dem hervorriefen, der sie las – also bei mir. Aber allmählich lernte ich, mich besser ausdrücken, und ich fing auf unbeholfene Art an, meine Erinnerungen aufzuzeichnen. Allerdings sind diese ein wenig ungeordnet, die Jahre gehen ungeordnet ineinander über, aber trotzdem bin ich froh, dass sie da sind, diese Aufzeichnungen, denn ich habe Angst, dass ich sie ganz vergessen könnte.
Die Vorgeschichte: Meine Eltern lernten sich gen Ende des Krieges kennen, und zwar im Heimatdorf meines Vaters im südöstlichen Niedersachsen. Meine Mutter mitsamt ihrer Familie schwamm mitten im Strom der zurückflutenden Flüchtlinge, die vor den Bombenangriffen der Alliierten in der Tschechei Schutz gesucht hatten – meine Urgroßmutter war gebürtige Tschechin – aber natürlich wurden sie dort hinausgeworfen, als der Endsieg scheiterte. Ich war ein so genanntes Kind der Liebe, und natürlich wurde ich evangelisch getauft, meine katholische Mutter hatte keine Chance, das zu verhindern. 1954 zogen meine Eltern mit meiner Wenigkeit (ich war vier Jahre alt) in das viel versprechende Ruhrgebiet. In den Großstädten des Ruhrgebiets gab es nämlich Arbeit, was man vom Dorf nicht gerade behaupten konnte. Mein Vater ließ seine Mutter, seinen jüngeren Bruder und die zwei jüngeren Schwestern zurück. Mein Großvater war im Krieg gefallen. Lore, die jüngste Schwester verließ ein paar Jahre später das Dorf, sie hatte immer schon den Drang gehabt, aus der ländlichen Umklammerung auszubrechen. Mein Onkel heiratete ins Nachbardorf.
Wie man auf dem Dorf lebte: Fortan verbrachte ich jedes Jahr ein paar Wochen in Daarau, so werde ich mein Dorf nennen. Meine Großmutter lebte mit ihrer zweitältesten Tochter, also mit meiner Tante Helga in einem dieser seltsamen Häuser, die es bestimmt nur auf dem Land gibt. Es war ein Fachwerkhaus, unten befand sich ein recht großer Raum, der als Küche und als Wohnzimmer benutzt wurde. Und es gab eine große Speisenkammer. Dort hingen riesige Schinken und Mettwürste. Der Schinken erinnerte – das habe ich erst später entdeckt – an italienischen Parmaschinken, der ja auch ungeräuchert und luftgetrocknet ist. Schinken, Mettwürste und auch das Schmalz stammten von einem der jeweils zwei Schweine, die im Stall des Hauses mit Essensabfällen gemästet wurden. Durch die Tür neben dem Kohleofen kam man in eine große mit Steinen gepflasterte Halle. Geradeaus gab es eine Waschküche mit einer Wassermotor-Waschmaschine und einem großen hölzernen Zuber, und links ging es durch einen finsteren Gang in den Stall. Meistens grunzten zwei Schweine in ihrem Koben, und wenn es Futter gab, steigerte sich ihr Grunzen zu einem verheerenden Kreischen und Quieken.
Es gab auch einen Verschlag für die Hühner, aber die liefen tagsüber draußen auf dem Hof herum oder auf der großen mit Apfel- und Pflaumenbäumen bestückten Wiese, genauso wie die beiden weißen Ziegen, die abends von meiner Oma in ihren Stall zurückgebracht wurden. Ich hatte mächtig Respekt vor diesen meist schlechtgelaunten Zicken.
Gut, das war also unten. Oben befanden sich zwei Schlafzimmer, eins wurde von meiner Oma benutzt und von mir, wenn ich da war, und das andere gehörte meiner Tante Helga, die dann geheiratet hat und mit ihrem Mann Gerhard dort schlief. Fehlt da nicht irgend etwas? Ja tatsächlich, es gab kein Klo, und es gab auch kein Badezimmer. Nun denn, es gab schon ein Klo, aber es handelte sich um eines dieser archaischen Foltergeräte, nämlich um ein Plumpsklo. Dieses Plumpsklo war der Schrecken meiner Kindheit. Schnell verwöhnt vom städtischen Luxus fand ich es grauenhaft, in dieses finstere stinkende Kabuff zu gehen und mich auf eine der zwei runden Öffnungen zu setzen. Zwei Öffnungen? Ja tatsächlich, es war ein Zweisitzer, wahrscheinlich von wegen der Geselligkeit... Jedenfalls verspürte ich absolut keine Lust, meinen Popo dem unbekannten Grauen auszusetzen, das vielleicht unter mir lauerte. Also verrichtete ich meine Notdurft lieber am Rande des Misthaufens, und ich hoffe, es hat mich nie einer dabei gesehen.
Zum Glück gab es Nachttöpfe in den Schlafzimmern. Zum Unglück gab es keine Heizung in den Schlafzimmern, das war im Winter fatal, man musste viele Wärmflaschen vorbereiten und viele zusätzliche Wolldecken benutzen, bevor man den Gang ins Bett wagte. Welch entsetzliche Kälte! Dem Himmel sei Dank war ich nur selten im Winter dort, außer zu Weihnachten. Andererseits war es im Winter wunderschön in Daarau, meistens lag an Weihnachten Schnee, aber leider dann immer so hoch, dass der Schlitten hoffnungslos im Schnee versank.
Gut, es gab kein Wasserklosett und kein Badezimmer, und man badete in der Waschküche in dem großen Zuber, in den jedes Mal eine Menge warmes Wasser geschüttet werden musste. Ansonsten kann ich mich kaum daran erinnern, wie die tägliche Körperreinigung vonstatten ging. Oder hab’ ich’s verdrängt? Ein riesiger Kohleherd heizte die Wohnküche. Das Holz, das meine Oma im Sommer gehackt und feinsäuberlich zu einem dieser akkuraten großen Stapel aufgeschichtet hatte, wurde Stück für Stück im Laufe des Winters verbrannt. Manchmal kochte sie sogar auf diesem Ofen, obwohl sie schon einen Elektroherd hatte.
Diese Wohnküche war der gemütlichste Ort auf der Welt. Am Esstisch stand ein uraltes Sofa, das ich ‚mein Hoppsala-Sofa’ nannte, und wie der Titel schon sagt, hopste und sprang ich gewaltig auf diesem Sofa herum. Ich hab' es nicht kaputtgekriegt, es war wohl von bester Qualität. Auf diesem Sofa konnte man auch wunderbar Bücher lesen, vor allem bei schlechtem Wetter, und schlechtes Wetter war eigentlich die Norm in all den Jahren. Die Bücher bezog ich aus dem Bücherfundus meiner Tante Lore, der jüngsten Schwester meines Vaters. Es gab da Werke wie ‚Die Blechtrommel’, ‚Lolita’ und ‚Lady Chatterly’ und vor allem die Kurzgeschichten von Daphne du Maurier, die ich mir im Alter von zehn oder elf Jahren einverleibte. Lolita fand ich irgendwie doof. Wie ich Lady Chatterly fand, weiß ich nicht mehr so genau. Ich glaube aber, dass dieses Werk keinen großen Schaden an meiner kindlichen Seele angerichtet hat. In der Wohnküche fand auch die so genannte Vesper statt, das nachmittägliche Kaffeetrinken. Aber richtiger Bohnenkaffee wurde nur an den Sonntagen kredenzt, es gab normalerweise Malzkaffee oder frische Milch, die meine Oma immer in riesigen Kannen vom Bauern bekam. Auf das herrliche Brot, das so glänzend aussah wie lackiert, wurde selbst gemachte Ziegenbutter gestrichen, die meine Oma aus der wässrigen, leicht bläulich aussehenden Milch ihrer beiden Ziegen gewann. Sie drehte solange an dem Rädchen ihrer kleinen Zentrifuge, bis sich das Fett in der Milch von den anderen wässrigen Substanzen schied. Dann wurden die so gewonnenen Fettklumpen in ein Tuch gelegt, und das Tuch wurde solange ausgewrungen, geknetet und wieder ausgewrungen, bis der letzte Tropfen Flüssigkeit heraus war. Und dann war es endlich Ziegenbutter, die immer in Kugelform auf einem kleinen Teller serviert wurde. Ich liebte diese Ziegenbutter. Vor allem mit viel Salz...
Das Wetter: Der Winter war zwar schön, aber es ist der Sommer, der meine Erinnerungen an Daarau bestimmt. Der Sommer allgemein, denn ich kann die vielen Sommer nicht mehr voneinander unterscheiden. Ich weiß nur, dass es nie lange warm oder gar sonnig war, immer dominierte das typische Seeklima mit den Tiefs, die von Westen her über den Everstein mit seinem kleineren Bruderhügel heranzogen. Dieser Berg, der Everstein, beflügelte wie kein anderer meine Fantasie. Es gab nämlich eine Ruine auf seinem Gipfel, genauer gesagt waren es nur ein paar riesige Steinquader, die dort wild herumlagen, aber ich fuhr öfter mit dem Fahrrad dort hin, manchmal mit meinem Cousin mütterlicherseits, wenn er auch die Ferien in Daarau verbrachte, und wir versuchten angestrengt, den geheimen Gang zu finden, der unterirdisch zu der anderen Ruine führen sollte, nämlich zu der auf der Homburg, einem Berg auf der anderen Seite des Tales. Die Grafen von Everstein sollten Raubritter gewesen sein, während die von der Homburg angeblich die ’Guten’ waren. Natürlich haben mein Cousin und ich nie den geheimen Gang gefunden. Wenn er jemals existiert hat, dann war er bestimmt lange schon verschüttet.
Die Tiefs, die in fast ununterbrochener Folge über das Land zogen, brachten natürlich auch viel Regen mit sich. Ich kann mich an Jahre erinnern, da trug ich immer einen dieser braunen Nylonmäntel, während ich mit meinem riesigen Fahrrad unterwegs war. Dieser braune Nylonmantel, den ich über meinem Röckchen trug, war damals der letzte Schrei der Mode. Nylon war total neu, es galt als das Nonplusultra unter den Stoffen, und jeder Mann trug Nylonhemden, bis sich dann herausstellte, dass diese Hemden zwar absolut bügelfrei waren, dass sie aber nach kurzer Zeit den Schweißgeruch so verstärkten, dass der Gestank kaum auszuhalten war. Gab es damals eigentlich schon Deodorants? Keine Ahnung. Aber die hätten auch nichts gebracht...
Wenn sich endlich einmal die Sonne durchsetzte und die letzten Wolken am Himmel vertrieb, dann herrschte übergangslos hektische Betriebsamkeit. Man fuhr mit dem Leiterwagen auf die Felder, um die Getreidebündel, die man vorher zu Haufen geschichtet hatte – eine Kunst, die mittlerweile wohl ausgestorben ist – schleunigst auf die Wagen zu laden und dann schleunigst zur Dreschscheune zu bringen. Es gab zwar schon Mähdrescher, aber die konnte sich keiner der Bauern leisten, auch nicht ausleihweise, und so gesehen war die elektrifizierte Dreschscheune, die jeder im Dorf benutzen konnte, ein Glückstreffer.
Manchmal blieb das Wetter sogar gut und entlud sich nicht gleich in heftigen Gewittern, und das war noch herrlicher. Der Himmel strahlte dann in einem tiefen Blau. Ich liebte es, auf den steinigen ausgewaschenen Feldwegen entlang zu wandern. Manchmal stand noch ein bisschen Getreide hier und dort, ich weiß noch genau, dass ich den Hafer mit seinen vielen Rispen am liebsten mochte, ich pflückte Kornblumen und Klatschmohn, legte ein bisschen Hafer, ein bisschen Gerste mit langen klebrigen Spelzen, ein bisschen gedrungenen rundlichen Weizen und den etwas schlankeren Roggen dazu und hatte einen prächtigen Strauß, der allerdings nicht lange vorhielt, bis auf das Getreide. Manchmal hörte ich hoch über mir einen jubilierenden Vogelgesang, und ich wusste genau, weil meine Oma es mir gesagt hatte, dass es sich um eine Lerche handelte. Sie sang vorzugsweise in der Mittagsglut und sie schwebte so weit über mir, dass ich erst nach einiger Zeit einen winzigen schwarzen Punkt sehen konnte.
Was man in den Ferien so trieb: Ich hatte in Daarau nie Langeweile. Meistens begleitete ich meine Oma zum Großbauern des Dorfes. Auf dessen Bauernhof arbeitete sie als Tagelöhnerin. Die Frau des Bauern lag schon seit Jahren gelähmt im Bett, es war ein furchtbarer Anblick, denn sie war sehr lieb und auch sehr unglücklich, dass ausgerechnet sie als Bäuerin nichts arbeiten konnte. Und es gab soviel Arbeit auf dem Hof. Jahre später, als ich an meine Oma und den Großbauern dachte, hegte ich kurzfristig den Verdacht, die beiden hätte mehr verbunden als nur die Arbeit, aber bei näherer Überlegung verwarf ich diesen Verdacht. Meine Oma war erstens älter als er, das hat zwar nichts zu bedeuten, aber sie sah schon recht alt aus, obwohl sie keine fünfzig war. Kosmetika benutzte sie nie. Ihr langes graues, schon leicht schütteres Haar trug sie in einem Knoten, der von einem Haarnetz geschützt wurde. Sie redete nicht viel, eigentlich nur über praktische Dinge wie Erntewetter, Geld und so. Die Briefe, die sie meinem Vater schrieb, waren natürlich in deutscher Schrift verfasst, und sie waren genauso karg und aussagekräftig wie ihr Wesen. Sie schrieb über die Ernte und wer im Dorf gestorben war. Ich konnte diese Briefe sogar lesen, denn wir lernten in der Volksschule noch das Schreiben dieser verschnörkelten Buchstaben. Nein, meine Oma hatte nur einen einzigen Mann gehabt, nämlich ihren Ehemann. Und mein Vater war ein uneheliches Kind gewesen, erst nach seiner Geburt hatten meine Großeltern geheiratet. Meine Tante Lore klärte mich darüber auf, dass früher auf dem Dorf die Männer wohl erst die Fruchtbarkeit der Frauen testen wollten. Ich fand das schrecklich. Was war denn, wenn trotz bestandenen Testes der Mann keine Lust hatte, einen zu heiraten. Ja toll, dann stand man mit der Frucht seines Bauches da, nämlich mit einem unehelichen Kind, was bestimmt auch nicht gerade der Renner auf dem Dorf war...
Ich hatte auch Freundinnen, mit denen ich spielte, bevorzugt an diesen verregneten Tagen, aber am liebsten spielte ich mit den Katzen. Es war wunderbar, diese ausgemergelten Katzen zu liebkosen, manche von ihnen waren noch nie gestreichelt worden, denn meine Oma hatte für so einen sentimentalen Quatsch keine Zeit und auch nicht die Neigung dazu. Die Katzen mussten sich ihren Lebensunterhalt selber verdienen durch die Mäusejagd. Sie wurden zwar ab und zu gefüttert, aber eher sporadisch und mit Sachen, die man heutzutage einer Katze nie geben würde. Manchmal erhielten sie ein bisschen Suppe, das war dann ein guter Tag, und manchmal ein paar zerquetschte Salzkartoffeln mit Bratensoße, das war schon ein Festessen. Serviert wurde dieses Essen in einer alten Sardinenbüchse, die natürlich nie gereinigt wurde und am Rand schon einen dicken Pelz aus nicht gefressenen Essensrückständen hatte. Ich versuchte immer, diese scheuen Wesen an mich zu gewöhnen, und wenn es gelang, wenn sie sich anfassen und streicheln ließen und ich sie sogar auf den Arm nehmen konnte, dann hatte ich immer ein schlechtes Gewissen. Wenn nämlich meine Ferien zu Ende waren, dann gab es keine Zärtlichkeiten mehr für sie. Es waren schon arme Wesen, sie hausten in den Ställen der Bauernhöfe, vermehrten sich unkontrolliert und litten an vielen Krankheiten. Die Katzenmütter versteckten ihre Kleinen während der ersten Wochen gut auf den Heuböden der Scheunen und Ställe. Aber wenn sie sich zum ersten Mal stolz mit dem Nachwuchs zeigten, trat sofort der Bauer oder sonst ein Großinquisitor auf den Plan, griff sich die Kleinen, steckte sie in einen Sack und ersäufte sie in einem der drei Dorfteiche, die wirklich idyllisch waren... Das Katzenelend war das Schlimme, war die dunkle Seite an Daarau. Jahre später, als mein Vater wieder dort lebte, erzählte er mir, dass der Jäger des Dorfes letztens die Kätzchen erschossen hatte. Er wollte sie nicht ersäufen, aber das Erschießen war ein fast noch grauenvolleres Gemetzel - und danach entschloss sich mein Vater, die Kleinen zum Tierarzt zu bringen und sie dort einschläfern zu lassen. Es hört sich grausam an, aber mein Vater liebt Katzen, so wie ich, und ich musste ihm beipflichten. Denn sie kriegen das in den Dörfern einfach nicht auf die Reihe, die unendliche Kette des Katzennachwuchses zu unterbrechen, übrigens genauso wenig wie mittlerweile in den Großstädten.
Dorfschule und neue Verwandte: Meine Tante Helga heiratete, als ich acht Jahre alt war. Die Hochzeit fand vierzehn Tage vor meinen Sommerferien statt, und meine Eltern trafen eine ungewöhnliche Übereinkunft mit der Schulleitung. Ich sollte diese vierzehn Tage schulfrei bekommen, wenn ich im Gegenzug vierzehn Tage in der Dorfschule von Daarau verbringen würde (ich sage absichtlich „verbringen“, denn von Lernen konnte keine Rede sein). Und tatsächlich verbrachte ich nach der Hochzeit vierzehn Tage in der Schule des Dorfes, einem schmucklosen zweigeschossigen Bau aus roten Backsteinen. Es gab zwei Lehrer, und diese unterrichten jeweils vier Klassen in einem Raum. Die Jüngsten saßen mehr vorne, und die Älteren mehr hinten. Die anderen Kinder konnten bei weitem nicht so viel wie ich. Ich las fließend von der Tafel ab, während die anderen sich einen abstammelten, und ich schrieb auch ganz gut, bis auf die Flüchtigkeitsfehler, die wohl meiner Faulheit zuzuschreiben waren. Jedenfalls erlebte ich eine herrliche Zeit, denn ich war endlich einmal die Klügste und die Beste in der Klasse, und das obwohl ich keinen Finger krumm machte. Meine Hausaufgaben erledigte ich so flüchtig und schnell, dass mich deswegen wohl das schlechte Gewissen zwackte, denn als die Frau Lehrerin meine Oma besuchte, da versteckte ich mich im Garten.
Noch interessanter als die Schulepisode war der Mann meiner Tante Helga. Er hieß Gerhard und stammte aus einer Familie, die am unteren Ende des Unteren Dorfes wohnte. Es waren Flüchtlinge aus Schlesien, sie sprachen irgendwie komisch, und sie hatten wohl den gleichen Status wie die Familie meiner Mutter, als sie gen Ende des Krieges hier im Dorf strandete. Ich mochte meinen neuen Onkel. Er war sehr freundlich zu mir, hatte ein gutmütiges Wesen und lachte gerne und oft. Und auch seine Familie fand ich äußerst faszinierend, denn sein Vater – ein kleiner dünner Mann – hatte nur zwei Löcher dort, wo die Nase eigentlich sitzen sollte. Zuerst schüchterte mich diese fehlende Nase ziemlich ein, sie zog mich aber auch magisch an, bis ich gar nicht mehr darauf achtete, denn er war einfach toll, dieser kleine Schlesier – genannt Vattel Kosta – mit seinen seltsamen Sprüchen, die immer mit ‚LÄÄRRRGE’ begannen... Diese schlesische Familie bestand aus Vattel Kosta, Muttel Kosta, dem ältesten Sohn Werner, dem mittleren Sohn Gerhard und dem jüngsten Sohn Volker. Volker war ein wirklich hübscher Kerl. Bisschen leichtsinnig vielleicht, aber sehr anziehend. Auch der älteste Bruder Werner sah gut aus mit seinem breiten slawischen Gesicht, und auch er verschmähte das weibliche Geschlecht nicht, er hat übrigens nie geheiratet, und Jahre später wurde er von einem meiner städtischen Onkel als der „Dorfpapagalli von Darau“ bezeichnet.
Die Teiche und das Herrenhaus: Daarau war ein Dorf der Teiche, es gab tatsächlich drei davon, und sie teilten das Dorf in zwei Teile, nämlich in das Untere- und in das Obere Dorf. Wenn man nach Daarau hineinfuhr, dann gelangte man kurz darauf an den Oberen Teich, und auf der anderen Seite des Teiches sah man die Rückseite des Herrenhauses, welches seit eh und den Baronen von Daarau gehörte. Ganz früher beherrschte das Herrenhaus das Dorf und gab vielen Leuten Arbeit, zum Beispiel auf den großen Gemüsefeldern, auf denen auch noch in den 60er Jahren die Frauen des Dorfes Erbsen und Bohnen pflückten. Sie erhielten dafür pro Zentner acht Mark. Für dicke Bohnen gab es zwei Mark, denn die wogen natürlich viel mehr. Hinter dem Herrenhaus gab es einen breiten Pfad, er führte an einer Backsteinmauer entlang, von der Efeu und wilder Wein rankten. Man kam an Bauerngärten vorbei, in denen Dahlien, steife Gladiolen und duftender Phlox buntsommerlich blühten – und sogar das vorherrschende Gemüse sah prächtig aus. Ab und zu erhaschte man einen Blick auf den Mittleren Teich, der mit Entengrütze bedeckt war und auf dem Schwäne schwammen. Dann war der Teich zuende, und man stand vor der Straße, die ins Nachbardorf führte. Auf der anderen Seite dieser Straße lag das Untere Dorf, der älteste Teil von Daarau. Ein paar ärmliche Häuser standen dort, doch ihre abenteuerlichen Anbauten machten sie viel anziehender als die reichen Bauerngehöfte im Oberen Dorf. Und dann konnte man endlich den Unteren Teich sehen. Er war lang gezogen, von Weiden gesäumt, und ein paar Enten paddelten auf ihm herum. Die Weiden setzten sich in einer geschlängelten Reihe fort, und an ihnen konnte man den Lauf des Baches erkennen. Abends stieg aus dem Teich immer leichter Nebel auf. Erlkönig... Das dachte ich immer, wenn ich dort entlangging.
Alle drei Teiche wurden von einem Bächlein gespeist, das den unpoetischen Namen 'Strulle' trug und direkt aus dem Wald kam, das letzte Stück allerdings unterirdisch. Es sammelte sich in einem kleinen gemauerten Becken, und das Wasser war so klar und gut, dass man es bedenkenlos trinken konnte. Es war auch sehr kalt, und an den wenigen heißen Tagen konnte man die Füße wunderbar darin kühlen. Außerdem wurden Kartoffeln darin gewaschen. Dieser Bachlauf speiste also die drei Teiche von Daarau, die einer hinten dem anderen lagen.
Das Obere Dorf war bei weitem nicht so romantisch wie das Untere, aber dafür war es sehr viel größer. Mich zog da nicht viel hin, außer natürlich die Besuche bei der Familie Kosta mit Vattel, Muttel und meinen beiden angeheirateten Onkeln. Sie wohnten mittlerweile in einem Niedersachsen-Haus im reichen Oberen Dorf.
Der Wald: In Richtung Wald, der kein natürlicher Wald war, sondern ein von den Alliierten nach dem Krieg künstlich angelegter Nadelnutzwald, lag das mit Kartoffeln bestellte Feld meiner Oma . Ein paar Tage im Sommer musste die ganze Familie dort die schädlichen Larven des Kartoffelkäfers von den zarten Kartoffelpflanzen abpflücken. Eigentlich waren diese Larven recht hübsch, sie hatten eine hübsche Streifung zwischen braun und lachsrosa – und sie wurden nach der Sammlung verbrannt. Rein ökologisch und sauber, die Sache...
Der Weg in den Wald war mein Lieblingsweg. Zuerst ging es leicht bergauf durch ein paar Felder, zuerst durchwachsen mit ein paar Himbeerbüschen, dann erschienen sporadisch Heidepflanzen und Birken, bevor es endgültig in den Nadelwald ging. Seltsamerweise habe ich diesen künstlich angelegten Nadelwald immer als DEN natürlichen Wald empfunden, obwohl er eine rein ökonomische Monokultur war und nur zum Abholzen bestimmt. Aber ich fand immer, ER war der Märchenwald, der typische Wald, der finstre Tann, eben mein Idealwald. Es gab mitten im Wald eine große Lichtung, eine natürliche Wiese, umsummt von allerlei Insekten. Ich kletterte immer auf den Hochsitz am Rande dieser Lichtung, es war eine wackelige altersschwache Kiste, und wenn man sich eine Weile still verhielt, kamen Rehe auf die Lichtung, um dort zu äsen. Es war der Wald, in dem meine Oma Blaubeeren sammelte und wo sie mit mir nach Himbeeren suchte. Sie rochen so gut, ich pflückte sie begeistert und behielt sie in meiner Hand, bis ich merkte, dass mitten in diesen Himbeeren weiße Maden herumkrochen. Mit einem Kreischen ließ ich alles fallen, was meiner Oma einen unwilligen Ausruf entlockte. Denn Verschwendung war ihr zuwider.
Immer wenn die Ferien endgültig vorbei waren und ich zurück musste in die Großstadt, machte ich einen Abendspaziergang. Ich schlenderte am Herrenhaus vorbei, bog an der kleinen Kirche ab und spazierte durch die Gemeindegärten – wo jeder im Dorf ein großes Stück Land bearbeiten konnte – in Richtung Wald. Wenn ich dann endlich dort war und mich die vollkommene Ruhe umfing, hatte ich immer das Gefühl, jemand ginge neben mir. Und diese unbestimmte unbekannte Gestalt erweckte unbestimmte unbekannte Sehnsüchte in mir, aber ich wusste nicht, wer es war. Vielleicht war es ein Gefühl aus der Zukunft, vielleicht war es mein Geliebter aus der Zukunft. Jedenfalls war ich dann immer so traumhaft glücklich, dass es mir nicht mehr so schlimm erschien, wieder in die Stadt zurückzukehren.
Die engere Verwandtschaft: Aber noch waren meine Ferien nicht vorbei. Denn wenn endlich meine Tante Lore in Daarau eintraf, kannte mein Glück keine Grenzen. Ich durfte nie Tante zu ihr sagen, denn sie meinte, wir wären wie Schwestern, und tatsächlich trennten uns altersmäßig nur zwölf Jahre. Sie fuhr ein winziges Auto und war damit eine der wenigen Frauen, die nicht nur den Führerschein besaß so wie meine Mutter, sondern ihn auch benutzte – und das sogar in einem eigenen Auto. Lore liebte klassische Musik, vor allem Opern, in denen Maria Callas sang, und sie hatte ein Faible für Königspudel. Lore war klein, zierlich und sehr hübsch mit ihrer hellen zarten Haut, dem weißblonden Haar und den feinen Gesichtszügen. Die Männer waren schwer hinter ihr her, aber sie scheute es, sich früh zu binden. Als sie sich mit sechsundzwanzig Jahren dann doch richtig verliebte, entpuppte sich der Mann, er war so ein Gentleman-Typ, als ein „Geschiedener“ mit fünf Kindern. Sie ließ ihn sausen. Ich weiß bis heute noch nicht warum. War es damals so schlimm, geschieden zu sein? Gut, fünf Kinder waren ein bisschen viel, wenn man die auf einmal kriegte. Oder konnte sie ihm seine Unehrlichkeit nicht verzeihen? Ja, vielleicht war es das. Ähnlich hübsch, aber nicht so extravagant war meine Tante Helga, ihr fehlte auch der Hang zur Koketterie, der Lore auszeichnete. Tante Helga hatte eher etwas solides mütterliches. Ich liebte Lore, mit der ich oft in der Gegend herumfuhr, und natürlich liebte ich auch Tante Helga, aber auf andere Weise.
Ein Jahr nach der Hochzeit meiner Tante Helga mit Onkel Gerhard stand in der Wohnküche eine Wiege, und in dieser Wiege lag ein Baby, als ich pünktlich zu Beginn der Ferien in Daarau eintraf. Meine Mutter brachte mich meistens mit dem Zug hin und fuhr dann nach zwei Tagen wieder zurück. Ich war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Das Baby war meine erste Cousine und hieß Manuela. Sie war so süß und hübsch! Ich strich ihr über das flaumige Haar und freute mich gewaltig. Endlich ein Baby! Meine Eltern hatten mir immer ein Geschwisterchen vorenthalten. Bis ich merkte, dass Tante Helga angefangen hatte zu weinen. Ich schaute sie fragend an, weil ich absolut nicht wusste, weshalb sie weinte. Später stellte sich heraus, sie weinte, weil das Baby eine Hasenscharte hatte, die Oberlippe war ein bisschen gespalten, aber es sah wirklich nicht schlimm aus, und ich hatte es gar nicht gesehen. Tante Helga schien froh darüber zu sein, und aus weiteren Gesprächen, die sie mit meiner Mutter führte, konnte ich hören, dass sie schon an eine Operation dachte, um diese Scharte sozusagen auszuwetzen. Ich glaube, ein Jahr später war Manuela schon operiert. Man sah nur noch eine zarte Narbe an ihrer Oberlippe, und diese Narbe gab ihr einen zusätzlichen Charme, sie sah nämlich ein bisschen aus wie ein Kätzchen... Und tatsächlich gewannen meine ohnehin schon herrlichen Ferien noch etwas an Qualität dazu: Eine Cousine zum Spielen.
Die Dorfkneipe: Ganz früher gab es in Daraau zwei Dorfkneipen, und beide hatten immer gut zu tun, was für den Durst und die Geselligkeit der Dorfbewohner spricht. Irgendwann wurde eine davon nur noch als Lottoannahmestelle genutzt und außerdem als Filmvorführsaal, denn das richtige Kino war drei Kilometer weit entfernt in der Kleinstadt. Als ich meinen ersten Film in diesem Saal sah, erlitt ein junger männlicher Verwandter von mir dort einen epileptischen Anfall. Es war grauenhaft, nie werde ich seine Krämpfe und Zuckungen vergessen... In der übrig gebliebenden Dorfkneipe traf man fast nur Männer an, vor allem beim sonntäglichen Frühschoppen. Das war reine ‚Men’s World’. Während der Duft von Schweinebraten in der Luft lag, machten wir Kinder uns auf, um den Herren der Schöpfung das Geld aus der Tasche zu ziehen. Jeder meiner Onkels – und ich hatte viele davon – ließ zumindest einen Schein springen, und ich legte das Geld später in Capri-Eis an. Welch Entzücken, an einem heißen Tag Capri-Eis zu essen, gut gegen Hitze und Durst und gekauft in dem einzigen Lebensmittelladen des Dorfes, der gleichzeitig auch die Poststelle innehatte. Ich war reich zu diesen Zeiten, egal ob gefühlsmäßig oder materiell, ich war reich...
Ein Haus der 60er Jahre: Als ich elf Jahre alt war, bauten Tante Helga und Onkel Gerhard ihr Haus. Mein Vater kam extra angereist, um beim Ausschachten des Kellers zu helfen. Wir brauchten keinen Bagger, sondern machten alles mit der Hand, denn das hielt die Kosten niedrig. Das Haus hatte zwei Stockwerke, unten wohnten Tante und Onkel, und oben wohnten Oma und meine Cousine Manuela. Das Haus stellte einen gewaltigen Fortschritt in heiztechnischer und vor allem in hygienischer Beziehung dar, in dem neuen Haus gab es eine Nachtspeicherheizung, alles war wohlig warm im Winter, und es gab ein Badezimmer mit einem riesigen Warmwasserboiler... Auch zu diesem Haus gehörte ein großer Gemüsegarten, doch leider ohne Wiese, ohne Hühner und ohne Ziegen, allerdings hielt Onkel Gerhard Kaninchen, aber es tat ihm immer leid, sie zu schlachten. In diesem hellhörigen Haus der 60er verbrachte ich die Ferien der nächsten Jahre. Es war okay. Nein, es war gut, allerdings anders als in dem alten Haus, aber es war gut.
Die Dunkelheit: Die Dunkelheit in Daarau war wohl die vollkommenste Dunkelheit, die man sich vorstellen kann. Die Straßenlaternen wurden um 22.00 Uhr ausgeschaltet, und danach musste man sehen, wie man klar kam. Das war im Sommer kein großes Problem, aber wenn man im Winter spät heimkam – zu Fuß natürlich, denn Autos gab es damals noch nicht viele – musste man sich förmlich nach Hause TASTEN. Und wenn man dann im Bett lag, war die mit der Dunkelheit Hand in Hand gehende Stille so überwältigend, dass man das Blut in den Adern rauschen hörte und der eigene Herzschlag das einzige Zeichen war, dass man existierte. Es war so dunkel, dass ich mir manchmal die Augen rieb, um wenigstens einen Reflex von Helligkeit zu sehen, und es war so still, dass ich froh war über das Summen eines Flugzeugs weit über mir in der Tiefe der Nacht...
Vielleicht war es diese Dunkelheit und diese Stille, die so viele junge Leute dazu verleitete, früh miteinander ins Bett zu gehen. Meistens wurde dabei ein Kind gezeugt, und kurz darauf heiratete man. Manchmal ging es mit der Ehe gut, meistens aber nicht, denn irgendwann ließ man sich scheiden und träumte neue Sehnsüchte in der Dunkelheit und der Stille des Dorfes.
Das Ende: Ungefähr als ich dreizehn Jahre alt war, endeten meine Ferien in Daarau, nicht abrupt sondern allmählich. Fortan reisten wir nach Holland an die Nordseeküste, und es war gar nicht schlecht, die Pommes und die Frikandellen, die Nasi- und die Bamiballen, die Seeluft, das eiskalte Meerwasser und die Sonnenbrände, die man sich unverhofft und irgendwie fleckig zuzog, all das war etwas Neues. Und danach bin ich nie wieder für längere Zeit in Daarau gewesen. Vielleicht, weil sich dort viel verändert hatte im Laufe der Zeit. Mein zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz so junger, aber immer noch hübscher Onkel Volker starb bei einem Wohnungsbrand, weil er besoffen mit einer Zigarette im Bett eingeschlafen war. Onkel Gerhard selber, der in Wirklichkeit schwermütig und melancholisch war, und dieses hatte immer durch seine Fröhlichkeit hindurch geschimmert, erhängte sich im Wald. Seine Frau, meine Tante Helga fand ihn dort, wo er immer Pilze gesammelt hatte. Seitdem war auch Tante Helga nicht mehr die gleiche, sie suchte immer verzweifelt nach einem Ersatz für ihren Mann, sie suchte lange Zeit, und sie hat bei dieser Suche viele Fehler gemacht. Meine Oma starb mit sechsundachtzig Jahren, nachdem sie bis zuletzt von meinen Eltern gepflegt wurde, besser gesagt von meiner Mutter. Tatsächlich waren meine Eltern wieder in die Heimat zurückgezogen.
Auch ich bin wieder da, wenn auch nur kurzfristig zur Beerdigung meiner Großmutter. Die Teiche sind verlandet, bis auf den Unteren Teich, aber der war ja immer schon mehr ein breites Bächlein als ein Teich. Und bevor man das Dorf erreicht, sieht man keine reine Landschaft mehr, sondern eine Anhäufung von Gewerbegebieten. Die Verwandtschaft ist nicht mehr so zahlreich wie früher, die Jüngeren sind weggezogen, aber manche Alten erkennen mich immer noch, und das nach über vierzig Jahren. Das Herrenhaus ist ein Reiterhof geworden, die Kinder des Barons leben nun in Südfrankreich.
Nur der Weg in den Wald ist der gleiche geblieben. Wieder gehe ich in der Abenddämmerung auf dem Waldweg entlang, und wieder habe ich das Gefühl, jemand geht neben mir. Aber ich weiß nun, dass es nicht mein Geliebter aus der Zukunft ist. Ich habe ihn irgendwie verpasst. Da ist niemand, und seltsamerweise kommen mir die Tränen. Warum nur, so schlecht geht es mir doch gar nicht... Doch dann sehe ich durch meine Tränen hindurch ein Kind neben mir. Wer ist dieses Kind? Es kann nicht sein, ich bin es selber im Alter von vielleicht neun Jahren. Das Kind schaut mich an, es lächelt und nimmt meine Hand. Du darfst nicht traurig sein, sagt es. Ich bin es selber! Und plötzlich sehe ich alle kleinen Mädchen, die ich einmal war, eine endlose Reihe von blonden Köpfen, und ich möchte sie alle trösten und sie vor dem warnen, was auf sie zukommen wird. Ich möchte sie davor warnen, ihr Herz zu verhärten in Reaktion auf kommende Ereignisse. Ich möchte ihnen raten, zu weinen und die Tränen nicht zu unterdrücken, ich möchte ihnen zeigen, dass sie geliebt werden, auch wenn sie es später nicht glauben können. Ich möchte sie in den Arm nehmen und feste an mich drücken. Ich möchte ihnen zeigen, dass sie nicht allein sind und dass ich sie liebe. Und durch diese Liebe fange ich an zu sein.
ENDE
PS: Ich könnte noch unendlich erzählen über das Dorf, aber ich tue es nicht, ich weiß nur, dass es in meinen Gedanken ist, ich habe in Romanen darüber geschrieben, es verklärt und erklärt. Und ich fahre nicht mehr dort hin, es soll so bleiben, wie es in meinen Erinnerungen war...
© 2005 by Ingrid
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