Von Brillen, Hühnern und Hasen
Eine Brille?
Nein, ich will keine Brille! Ich hab mein Leben lang keine Brille getragen außer beim Autofahren, und das ist schon lange her.
Ich komme blendend ohne Brille klar, obwohl ich sehr seltsame Sehschwächen habe, mein linkes Auge ist nämlich kurzsichtig, und mein rechtes ist weitsichtig. Ich hab ja immer drauf gewartet, dass sich die Kurzsichtigkeit des linken Auges im Laufe der Jahre durch die Altersweitsichtigkeit aufheben würde, aber das war ein Trugschluss. Es entwickelt sich genau gegenteilig, das kurzsichtige Auge wird immer kurzsichtiger und das weitsichtige immer weitsichtiger. Aber wenn ich beide unabhängig voneinander einsetze, komme ich wirklich blendend damit klar.
Nur.... manchmal vertue ich mich ein wenig. Gestern zum Beispiel sah ich auf dem Weg nach Hause schwarze Hühner, die in einem Gebüsch herumpickten. Hühner mitten in der Großstadt! Waren die vielleicht irgendwo ausgebüchst? Aber es gab hier doch gar keine Gärten... Ich trat näher an die Hühner heran, um sie mit meinem kurzsichtigen Auge in Augenschein zu nehmen. Aber die Hühner waren sehr scheu, sie fingen an, mit den Flügeln zu flattern und erhoben sich in die Lüfte.
Ich stutzte ein wenig. Hühner können doch gar nicht fliegen (Ich verstehe mich eigentlich als Landkind und kenne mich da aus). Ich setzte also mein weitsichtiges Auge ein, um einen genaueren Blick auf die flatternden Viecher zu werfen, und ich stellte peinlich berührt fest:
Das waren gar keine schwarzen Hühner, das waren einfach nur Krähen. Und hoffentlich hatte mich keiner dabei beobachtet, wie ich stinknormalen Krähen hinterher glotzte.
Automatisch musste ich an die legendäre Story denken, die vor ein paar Jahren passiert war:
Wir waren in meinen Heimatdorf zu Besuch und gingen im Wald spazieren. Vorher hatte uns ein altes Weiblein davor gewarnt, den Waldweg zu benutzen, und wir hatten herzhaft darüber gelacht. Gab es vielleicht noch Räuber in diesen unwirtlichen Wäldern? Natürlich nahmen wir den Waldweg.
Plötzlich sah ich, wie zehn Meter vor mir zwei recht große Hasen aus dem dichten Unterholz kamen und auf dem Waldweg stehen blieben.
"Wow! Schaut mal! Hasen! Und so große!"
Meine Begleiter guckten mich an, als wäre ich nicht ganz gescheit, was mich sehr wunderte, denn sie mussten die Hasen doch auch sehen. Oder waren die unsichtbar? Freund Harvey lässt grüßen? Hatte das Weiblein doch einen Grund gehabt, uns vor dem Waldweg zu warnen?
"Willst du uns verarschen?" fragte mich der eine ungläubig.
"Ääähh, nee..." sagte ich sehr unsicher geworden. Ich schaute noch einmal nach den Hasen, aber die waren wohl mittlerweile weg gehoppelt. Hatte ich mir alles nur eingebildet? Aber ich war doch auf dem Land aufgewachsen – na ja bis zu meinem dritten Lebensjahr – und ich wusste doch, wie Hasen aussahen. Auch wenn ich sie nur undeutlich hatte sehen können auf Grund meiner speziellen Sehschwächen.
"HASEN!!! Hahahahahahahah!!!" Die Heiterkeit war unbeschreiblich, und ich muss wohl sehr erstaunt dreingeblickt haben.
Man klärte mich schließlich auf: Das was ich gesehen hatte, waren gar keine Hasen gewesen, sondern... Rehe oder Hirsche. Oder Dammwild. So genau kannte man sich nicht aus.
Weil aber diese Hasen, Rehe oder Hirsche längst schon weg gehoppelt oder davon galoppiert waren, zweifelte ich lange am Wahrheitsgehalt dieser Behauptung. Dass ich es später irgendwann akzeptierte, lag nur daran, weil die anderen in der Mehrzahl und sich vor allem so verdammt sicher gewesen waren. Und vier Augen sehen eben mehr als zwei, die nur sehr speziell gucken können.
Jedenfalls gingen diese Tiere auf ewig als "Iggys Hirschhasen" in die Annalen ein.
Vielleicht sollte ich mir doch eine Brille anpassen lassen. Denn gestern wollte ich eine Armbanduhr in einem Schaufenster genauer betrachten. Ich schob meinen Kopf näher an die Scheibe... und bumste mit einem lauten BUMS dagegen. Hatte mich total vertan in Abschätzung der Entfernung.
Eine Brille?
Soll ich wirklich?
Ach nee, besser nicht, das Leben ist ohne Brille viel aufregender.
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