START/HOME

 

 

Ingrid

 

Garten

 

Katzen

 

leiste02ShortstoriesLongstoriesGedichteGaestebuchLinksLinklistenInfoGAGSFotostories

 

bestof03

extrablaetter105

Der Himmel
über Rom

Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5
Teil 6
Teil 7
Teil 8
Teil 9
Teil 10
Teil 11

Teil 12

Teil 13
Teil 14
Teil 15
Teil 16
Teil 17
Teil 18
Teil 19
Teil 20
Teil 21
Teil 22

Teil 23
Teil 24

Aktualisiert am 24. Juli 2015. Am besten läuft es unter dem Internet Explorer, mit anderen Browsern kann es Fehler in der Darstellung geben. Natürlich kann es auch von mir selbst produzierte Fehler geben. Falls also jemand etwas zu meckern hat, bitte melden...

Himmelklein
Himmelklein
Himmelklein
Himmelklein
Himmelklein
Himmelklein
Himmelklein

homepage erstellenXStat.de  

 

Der Himmel über Rom Teil 6

ABTRÜNNIGE

Sie fuhren weiter ohne Gnade. Sogar die tapfere Antonia Caenis war verstummt, und der kranke Sklave lag womöglich noch verkrümmter als vorher auf der Bank.
Es nahm kein Ende, das laute Getrappel der Pferdehufe auf dem Pflaster der Via Flaminia, die eisenbeschlagenen Wagenräder, die permanent Lärm verursachten, die Schmerzen in den Gliedern, das Gefluche der Soldaten, die einen Eilmarsch hinlegen mussten, während ihr Hauptmann bequem zu Pferde saß und sie anbrüllte, etwas schneller zu gehen. Das Gequieke des armen Viehs, das von riesigen Hunden dirigiert in die Schlachthöfe Roms getrieben wurde. Und auch die Bautrupps, die ständig die Straße erneuerten, waren nicht gerade leise...
Verdammt noch mal, wann würden sie endlich anhalten? Vanadis lehnte sich an die Wand der Kutsche, schloss die Augen und hielt sich ein Tuch an die Ohren, um den Lärm zu dämmen. Es half nur wenig.
Sie versuchte sich abzulenken und schaute aus dem Fenster der Kutsche, allerdings bekam sie nicht viel mit von der herrlichen Landschaft Latiums. Sie sah nur am Rande, wie fröhlich der Tiber von Stromschnelle zu Stromschnelle sprang, wie freudig er dahinplätscherte, wie er seine kleinen Buchten mit Wellen umschmeichelte. Manchmal schossen sogar Fische aus dem Flüsschen empor und ließen sich wieder ins sprudelnde Wasser zurückfallen, als ob sie vor Freude tanzen würden. All das ging an ihr vorbei, auch die liebliche Gegend, die sanft gerundeten Felsen des Apennins – der an manchen Stellen nicht besonders hoch war – und auch die Olivenhaine und die Obstbäume mit ihrer Apfel- und Pflaumenlast interessierten sie kaum. Jede Menge Weinreben waren zu sehen, egal ob am flachen Boden oder an den Hängen, jeder freie Platz wurde wohl ausgenutzt, um Wein anzubauen. Rom schien unersättlich durstig nach Wein zu sein, Wein wurde zu jeder Gelegenheit getrunken, und mit Wasser verdünnt galt er als gesund.
Ein kleiner Ort tauchte gerade auf, er lag hoch an einer Felswand, eng an sie geschmiegt. Die Häuser waren weiß getüncht und leuchteten im Licht der untergehenden Sonne. Und schon waren sie daran vorbei. Und wo war der Tiber, sie konnte ihn nicht mehr sehen.
Verdammt, wollte Marcus denn überhaupt keine Pause einlegen? Hatte er sich vorgenommen, die Strecke von zweihundertfünfzig Meilen in einem Tag und einer Nacht zu bewältigen?
Es dauerte unendlich lange, bis sie irgendwann den Ort Forum Flaminii erreichten. Ein kaiserlicher Meilenstein wies sie darauf hin, dass Rom mittlerweile über einhundert Meilen entfernt war. Ach Rom, du kannst mich mal! So eine weite Strecke an nur einem Tag... Aber Marcus wollte sich wohl beweisen, dachte Vanadis grimmig.
Kaum hatte sie das gedacht, rollte die Kutsche in einen gepflasterten Hof ein. Mehrere niedrige Gebäude standen in Hufeisenform aneinandergereiht dort. Eins davon schien ein Stall zu sein, aus einem anderen drangen laute Hammergeräusche, vielleicht eine Werkstatt, aber es waren Gebäude, und vielleicht konnte man dort auch essen und schlafen. Gut, zuerst das Essen...
Tatsächlich durften sie aussteigen. Vanadis tat es mit wackligen Beinen, irgendwie schien der Boden unter diesen zu schwanken. Aber das seltsame Gefühl verschwand schnell, und ihre Beine fühlten sich wieder normal an.
Sie reckte genüsslich ihren Körper in die Höhe, schüttelte sich, streckte die Arme empor und fühlte sich schließlich wie neugeboren. Aus den Augenwinkeln heraus merkte sie, dass jemand sie beobachtete. Es war Marcus. Verdammt, unwillig schüttelte sie den Kopf, konnte er sie denn nie in Ruhe lassen? Ach was, wen juckte der römische „Herr“ schon? Sie war in diesem Augenblick glücklich. Und wenn's jetzt noch was zu essen gäbe, wäre sie sogar überglücklich... Bitte, ihr Götter, lasst es geschehen!
Als hätte Marcus ihre flehendlichen Gedanken gehört, führte er die Caenis und sie in Richtung des größten Gebäudes der Raststation. Vanadis drehte sich um und sah, dass der kranke Sklave ihnen stolpernd folgte. Sie gab einen unwilligen Laut von sich, lief zu dem Sklaven hin und stützte ihn mit ihren Armen.
Marcus kam hinzu und stützte den Sklaven von der anderen Seite, so dass er zwischen ihnen daherwankte. Was für eine Situation! Der Herr und eine Sklavin stützten zusammen einen Sklaven! Als sie den Eingang der Herberge erreichten, ließ Vanadis als erste den Sklaven los, sie hatte nämlich hinter seinem Rücken Marcus’ Hand kurz berühren müssen, das wollte sie nicht, es war ihr peinlich.
Der Wirt schien Marcus zu kennen. Er verbeugte sich tief vor ihm und geleitete sie alle in einen separaten Raum, der mit den traditionellen Bänken und Tischen ausgestattet war.
Zum Glück verschwand der Marcus, gut so, sie konnte seine Anwesenheit einfach nicht ertragen. Ohne ihn war alles viel leichter. Vanadis wartete ab, bis die Caenis sich niedergelassen hatte und setzte sich dann auf die Bank ihr gegenüber. Nur noch ein Gedanke beherrschte sie, nämlich der an Essen und an Schlafen. Gut, das waren eigentlich zwei Gedanken, aber sie wollte wenigstens mit vollem Magen in irgendein Bett sinken.
Wortlos lehnte sie auf der bequemen Polsterbank. Fast wäre sie sofort dort eingeschlafen, nur der Hunger hielt sie wach. Auch die Caenis sagte nichts mehr, ihre Augen schlossen sich immer wieder, bevor sie sie krampfhaft wieder aufriss. Die Caenis war eine starke Frau, aber auch so eine kommt irgendwann an ihre Grenzen. Vanadis musste lächeln.
Aber dann auf einmal zog ein wunderbarer Duft in ihre Nase. Essen war es, gutes Essen. Essen!
Es dauerte nicht lange, und eine hübsche Sklavin brachte diverse Teller herein, diese waren belegt mit verschiedenen kalten Speisen: Brot, Käse, Oliven, sauer eingelegtes pikantes Gemüse, gesottene Eier, Früchtemus, und allem anderen voran wurde Mulsum, ein mit Honig angemachter Wein serviert.
Nachdem Vanadis einen Becher davon getrunken hatte, fühlte sie sich womöglich noch wundervoller. Ab und zu griff sie in die Teller und naschte am Brot und am Käse, beträufelte beides mit Olivenöl, auch das Gemüse schmeckte ihr ausgezeichnet, sie tunkte es zusätzlich noch in das dunkle Pflaumenmus, bestreute es mäßig mit dem körnigen Salz - Salz war teuer - und streute Kräuter darüber. Es schmeckte einfach nur gut!
Der Wirt brachte nun höchstpersönlich eine Suppe, die wundervoll roch. Sie bestand aus Schweinefleisch mit Bohnen und Zwiebeln, gewürzt mit Liebstöckel und Oliven. Und in ihr schwammen kleine Klöße aus Weizen. Ein Traum! Normalerweise war es den Männern vorbehalten, so eine wunderbare Suppe zu essen. Aber das war Vanadis vollkommen egal. Sie schlürfte ihre Suppe mit Genuss, und sie war in diesem Augenblick dem Marcus sehr dankbar, dass er sie in diesen Gasthof geführt hatte.
Doch etwas stimmte nicht, und das irritierte sie. Obwohl alles so wunderbar schmeckte, musste sie mit ansehen, dass der Imaginus fast nichts anrührte von diesen wundervollen Speisen… Was war los mit dem armen Kerl? Und schon kamen die Gedanken zurück: Warum hatte man ihn diese furchtbare Reise mitmachen lassen? Er war doch schon halbtot. Was geschah hier?
Sie wollte gerade die Caenis danach fragen, doch da kam der Marcus in den Speiseraum und setzte sich neben sie auf die Bank.
Sie wich vor ihm zurück. Was sollte das? Sie war so verwirrt über die überraschende Gegenwart des Marcus, dass sie den Sklaven kurzfristig vergaß.
„Geht es dir gut?“, fragte er sie und schaute ihr dabei voll in die Augen.
Das mochte sie nicht, und sie blickte von ihm weg. Was wollte er von ihr, sie biss sich auf die Lippen und sagte wütend: „Mir geht es gut, doch was ist mit dem armen Kerl da? Was soll er hier? Er ist doch todkrank, warum habt ihr ihn hierhin geschleppt?“
Marcus sah verlegen aus, er tauschte Blicke mit der Caenis und sagte dann zögernd: „Er wird sterben, das ist gewiss. Claudius’ Leibarzt, den wir konsultierten, hat das festgestellt. Und der Sklave war damit einverstanden, auf diese Reise zu gehen...“
„Dann muss er wohl verrückt sein und nicht nur todkrank!“ Vanadis schnaubte verächtlich in sich hinein. Was war hier los, wonach trachteten ihre Reisegenossen? Sie wünschte sich Aufklärung. „Was läuft hier eigentlich?“, fragte sie aufgebracht.
Marcus zögerte, aber nach einem Blick, den die Caenis ihm zuwarf, entschloss er sich zu reden: „Vanadis, hast du dich jemals gefragt, warum die Caenis dich auf dem Sklavenmarkt gekauft hat?“
Bei dem Wort Sklavenmarkt zuckte sie unwillkürlich zusammen. Wieder kamen die Erinnerungen zurück, nein, sie wollte das nicht, nicht jetzt. Deswegen konnte sie ihm auch nicht in die Augen schauen, diese Augen hatten ihre Erniedrigung mit angesehen, ihre Demütigungen, ihre Nacktheit…
Doch dann nahm sie sich zusammen. Er war ein Römer, und sie war nur ein Ding. Sklaven zählten nichts in Rom. Dennoch hatte er gerade den todkranken Sklaven gestützt, oh nein, sie fühlte immer noch seine Hand an ihrer… Ach Unsinn! Es war das erste Mal, dass er direkt das Wort an sie gerichtet hatte, außerdem hatte er sie Vanadis genannt und nicht „Barbara“, wie seine furchtbare Frau es immer tat. Ungewohnt war das, aber es besänftigte sie ein wenig. Ach Vanadis, das kostet ihn doch nichts, das bisschen Freundlichkeit, pass auf, Vanadis, er ist nun mal Römer und du kannst ihm nicht vertrauen…
„Nein“, antwortete sie, und das war natürlich gelogen. „Aber dennoch wäre ich froh, es endlich zu erfahren.“
Marcus lächelte, und trotz ihrer inneren Bedenken fand sie ihn auf einmal nicht mehr ganz so abscheulich, er hatte auch seine Schwachpunkte, denn obwohl er seiner lasterhaften Frau hörig war, so besaß er doch viel Gefühl für seine kleine Tochter. Und er war verlegen jetzt in diesem Moment. Ähnlich wie sie selber. Seltsam…
„Die Caenis war auch eine Sklavin“, er zögerte, doch dann fuhr er fort: „Und sie weiß, wie das ist. Sie hat damals, als sie in Istria in Gefangenschaft geriet, auf dieser Straße, auf der Via Flaminia ihre Mutter verloren. Sie starb an Erschöpfung, und niemand kümmerte sich drum. Dennoch hat die Caenis Glück im Unglück gehabt. Die Mutter des Claudius hat sie gekauft und erzogen. Die Caenis führte die Geschäfte für diese edle Dame – und sie hat dabei auch viel Unangenehmes mitbekommen...“
Vanadis sah ihn fragend an. Das wusste sie doch schon alles.
„Ich will nicht in Einzelheiten gehen, ich will nur damit sagen, dass die Caenis die Sklaverei verabscheut, genauso wie sie die Oberschicht Roms verabscheut.“
Was sollte das? Was ging es ihn an? Er war doch Römer, selber ein Mitglied der Oberschicht und somit nie in Gefahr, ein Sklave zu werden.
Während sie darüber nachdachte, fuhr Marcus fort: „Und vor vielen Jahren, es geschah, als der Germanicus, der Bruder des jetzigen Kaisers aus Germanien zurückkehrte mit vielen Gefangenen und wegen seiner Verdienste im Krieg einen Triumph erhielt...“
„Triumph, was bedeutet das?“, Vanadis schaute ihn fragend an.
„Einen Triumphzug meine ich“, beeilte sich Marcus zu erklären. „Dieser wird nur unter bestimmten Umständen gewährt. Leider war er in diesem Falle nicht gerecht, denn die Bedingungen stimmten nicht. Doch das ist unwesentlich. Was ich eigentlich sagen will ist: Der Germanicus führte bei diesem Triumph Gefangene mit sich, und die Antonia Caenis, die damals vielleicht sieben Jahre alt war, erinnerte sich auf einmal an die Schrecken ihrer eigenen Gefangenschaft. Sie sah eine Frau, die ein kleines Kind fest im Arm hielt – es war schon in Gefangenschaft geboren worden – während sein Großvater auf der Tribüne saß. Dieser Großvater hatte seine Tochter Rom ausgeliefert, weil er seinen Schwiegersohn hasste.“
„Oh...“ Vanadis fühlte sich betroffen. Und langsam dämmerte ihr etwas, denn diese Geschichte kam ihr bekannt vor.
„Jedenfalls fasste die Caenis in diesem Augenblick den Entschluss, das Kind irgendwann einmal zu retten. Und gerade jetzt ist dieser Zeitpunkt gekommen.“
Vanadis überlegte, sie wusste immer noch nicht, was sie bei der Sache zu suchen hatte. „Und was habe ICH damit zu schaffen?“, fragte sie aufsässig.
„Du hast die gleiche Herkunft wie er, du beherrscht seine Sprache, das hoffen wir jedenfalls. Und du sollst seine Vertraute sein.“ Bei diesen Worten sah Marcus nicht sehr glücklich aus. Aber das juckte sie nicht, sie hatte mit diesem Römer nichts zu schaffen.
„Wer ist ‚er’, und was soll das alles?“ Sie schüttelte den Kopf. Sie als Vertraute eines anderen Sklaven? Sie musste es wissen. „Warum dieser Aufwand? Was ist los mit diesem Gefangenen? Ist er etwas Besonderes?“
„Ja, das ist er“, sagte Marcus nach einer Weile. „Er ist eine Geisel Roms, er ist der Sohn des Arminius, der vor fast vierzig Jahren drei Legionen des Augustus abschlachtete. Und deswegen ist Germanien nie erobert worden.“
„Ach...“ Darum ging es also. Um den Sohn des Arminius, wie die Römer ihn nannten. Vanadis kannte den Arminius, zumindest vom Hörensagen. Sie hatten diesem Mann alles gestohlen, was er liebte, seine Frau, seinen Sohn und nichts zuletzt seinen Namen. Aber Vanadis wusste, wie er wirklich hieß, sein Name war immer wieder ausgesprochen worden an den Herdfeuern der Chatten, sein Name war Segifryd, und seine bedauernswerte Frau hieß Gunhilda.
„Wie nennt man ihn hier?“, sagte sie nach einer Weile.
„Was, wen?“ Nun war es Marcus, der sie fragend anschaute.
„Den Jungen, nein, mittlerweile ist er wohl ein Mann. Wie haben sie ihn genannt, die Römer?“ Vanadis spuckte die Worte verächtlich aus.
Der Marcus biss sich auf die Lippen. „Er heißt Thumelicus, und seine Mutter nennt man hier Thusnelda.“
Vanadis dachte nach und kam zu dem Schluss: „Was für grässliche Namen! Der süße Knabe aus Germanien und die Davongelaufene aus Germanien!“ Sie kehrte dem Marcus den Rücken und aß weiter, ohne ihn zu beachten. Verdammte Römer! Andererseits war der Vater der „Thusnelda“ auch nicht besser gewesen. Er hatte seine eigene Tochter den Römern ausgeliefert, dieses Schwein! Nur weil sie aus Liebe den Segifryd geheiratet hatte, natürlich ohne Einwilligung ihres romfreundlichen Vaters. Deswegen nannte man sie hier „die Davongelaufene“, ja, so war es wohl.
Sie merkte, dass Marcus aufgestanden war. Gut, geh einfach weg, ich kann dich nicht ausstehen, verdammter Römer! Ich könnte dich umbringen, wenn ich irgendwann die Möglichkeit dazu hätte, aber du Feigling zieht es ja vor, abzuhauen. Ich hasse dich!

Die Nacht war kurz, viel zu kurz, um sich richtig zu erholen. Ganz früh am Morgen, die Sonne ging gerade auf, wurde energisch an die Tür des Zimmers geklopft, in dem sie mit der Caenis übernachtet hatte.
„Aufstehen!“, brüllte jemand, und Vanadis ahnte, wem diese Stimme gehörte. Es ging also weiter.
Der zweite Teil der Strecke ähnelte der ersten, Vanadis steckten die Schmerzen der ersten Etappe noch in den Knochen, und auch ihre Reisegenossen waren von den Strapazen gezeichnet, vor allem der Sklave Imaginus, der kaum noch einen Funken Leben in sich hatte.
Und sie wusste immer noch nicht, was mit dem bedauernswerten Mann geschehen sollte. Sie schaute ihn sich genauer an. Er besaß edle Gesichtszüge, lange und vor allem hellere Haare als bei römischen Bürgern üblich, ferner eine muskulöse hohe Gestalt, die man bei ihm sogar im Liegen erahnen konnte. Vermutlich stammte er aus Germanien.
Gab es da einen Zusammenhang? Und auf einmal kam ihr der Gedanke: Wollten sie den todkranken Sklaven austauschen gegen den Thumelicus? Ja, das hielt sie für möglich. Aber wie konnten sie das bewerkstelligen? Und wenn sie es wirklich schafften, wie wäre dann ihr eigenes Verhältnis zu dem Thumelicus? Hoffentlich erwartete keiner von ihr, dass sie sein Bett teilte. Niemals! Dagegen würde sie sich wehren.

Trotz des Hufgetrappels, trotz der lärmenden Kutschenräder auf dem Pflaster der Via Flaminia versank Vanadis allmählich in einen unruhigen Schlaf, manchmal wachte sie auf und erkannte, dass sie der Länge nach in der Kutsche lag, manchmal hatte sie ihren Kopf auf den Schoß der Caenis gebettet, und dann schlief sie sofort wieder ein. Im Dämmerschlaf dachte sie dann bedauernd an die Caenis. Die hatte niemanden, auf den sie ihren Kopf legen konnte. Manchmal schaute sie aus dem winzigen Fenster der Kutsche. Sie sah, wie laute Bautrupps die Straße ausbesserten, wie sie den Untergrund verfestigten und geborstene Steine gegen neue austauschten. Sie sah angekettete Sklaven, die wer weiß wohin getrieben wurden. Sie hatte schreckliche Dinge gehört von den armen Geschöpfen, die in den Minen arbeiten mussten, im Vergleich zu diesen hatten Haussklaven ein gutes Leben. Eigentlich müsste sie froh sein darüber, doch der Gedanke an das Leben dieser Sklaven fühlte sich furchtbar an. Vanadis verdrängte ihre Gefühle, es war eben so, sie hatte keinen Einfluss darauf, und die Wolken am Horizont halfen ihr dabei. Es waren schöne federweiße Wolken. Sie liebte Wolken, und sie liebte es, von ihnen begleitet zu werden. Trotzdem streifte sie manchmal wie ein Wolkenschatten das Wissen um diese armen Menschen in den Minen.
Nach gefühlten hundert Stunden tauchte eine größere Station auf. Der Ort hieß Forum Sempronii, so war es zu lesen am Meilenstein.
Bitte nicht wieder nur die Pferde wechseln, bitte nicht wieder nur weiterfahren, dachte Vanadis. Und Fortuna war auf ihrer Seite – die Römer hatten auch nette Götter und Göttinnen – es wurde angehalten, und alle durften aussteigen, bis auf den Sklaven, den man diesmal direkt ins Haus trug.
Es war noch ein bisschen hell, die Sonne war gerade erst untergegangen und hatte den Himmel in ein diffuses Rot getaucht, das hieß: Die zweite Etappe ihrer Reise war ebenso lang gewesen wie die erste.
Aber Vanadis war diesmal sogar der wunderschöne Himmel egal, sie verspürte keinen Hunger, sondern taumelte sofort in den Raum, in dem sie mit der Caenis schlafen sollte. Auch diese wollte kein Abendessen einnehmen, sie wollten beide nur noch auf den weichen Matratzen liegen und schlafen, schlafen, schlafen.

Wie durch ein Wunder fühlte sich Vanadis am nächsten Morgen erfrischt und gestärkt, auch die Caenis sah besser aus als am gestrigen Tage. Hungrig verschlangen sie das morgendliche Mahl, es bestand aus einer Art Getreidefladen, er war locker und hatte einen Belag aus Gemüse und Schafskäse, welcher vom Backofen leicht gebräunt war und wunderbar duftete. Dazu gab es wie immer Wasser mit Wein gemischt.
Der Sklave wurde in den Raum getragen, doch er aß nichts, sondern lag apathisch auf der Bank.
Kaum hatten sie gegessen, da ertönte auch schon der Ruf des Marcus: „Meine Lieben, bitte einsteigen, wir kommen jetzt zur letzten Etappe, und die ist gar nicht so schlimm.“
Was für ein Witzbold! Aber Vanadis fühlte sich besser, viel besser als gestern. Man gewöhnte sich allmählich an das Getrappel, an den Lärm, an die harten Bänke. Das Kissen des Marcus hielt sie sich in den Nacken, es dämpfte die Schläge des Straßenpflasters. Dem Sklaven allerdings ging es noch schlechter als gestern. Bedrückt schaute sie auf ihn. Er sollte bestimmt geopfert werden. Wofür? Vanadis schüttelte den Kopf, was für ein armer Kerl und tat er sich dies wirklich freiwillig an? Was führte die Caenis im Schilde? Eigentlich traute sie ihr nichts Böses zu, hoffentlich behielt sie recht mit dieser Meinung. Und welche Rolle würde sie selber in diesem Drama spielen? Denn es war ein Drama, das hatte sie mittlerweile erkannt.
Allmählich wurde die Landschaft flacher, die Gebirgszüge mit ihren manchmal schroffen Abhängen hatten sich zurückgezogen und Platz gemacht für sanfte Hügel.
Und es roch verheißungsvoll, Vanadis kam dieser Geruch bekannt vor, sie wusste nicht, was es war, aber sie genoss es.
Es war ein würziger Duft aus Salz, Wind, Fischen und Kräutern, dann auf einmal erkannte sie ihn, sie hatte ihn in Rom schon gekostet, aber stark abgeschwächt: Es war der Duft des Meeres. Ein einziges Mal war sie fast am Meer gewesen, im alten Hafen Roms, nämlich Ostia. Es war dort wunderschön gewesen, obwohl sie das eigentliche Meer gar nicht hatte sehen können, denn der mittlerweile verlandete Hafen von Ostia lag weitab davon.
Aber dieser Geruch… Seitdem verspürte sie ein Drängen, sie wollte dieses seltsame Meer einmal sehen, es musste unvorstellbar groß sein, das erzählten die anderen Sklaven…
Und nun war sie hier und würde es endlich sehen, das sagte auch die Caenis: „Dieses Meer nennt man das Adriatische Meer. Und auf der anderen Seite, da liegt Istria...“ Bei diesen Worten guckte sie sehnsüchtig aus dem kleinen Türfenster der Kutsche.
„Warum gehst du eigentlich nicht heim, Caenis? Du bist doch eine Freigelassene, du bist eine erfolgreiche Geschäftsfrau, du hast viel Geld, warum gehst du nicht heim?“
Caenis schüttelte den Kopf. Dann sagte sie: „Ich habe Angst davor. Ich weiß nicht, wie es dort sein wird. Rom, so furchtbar es manchmal auch erscheinen mag, ist meine neue Heimat geworden“, sie lächelte. „Und außerdem habe ich mich verliebt.“

*~*~***~*~*

 

ROMANE

BOOKRIX

bestof04 

zufts03

extrablaetter10502

<<<zurück zu HOME